Mein Klo, der Klempner und ich

Toilette in einem ganz normalen BadezimmerEs ist schon merkwürdig, wie sehr Kleinigkeiten die Laune beeinflussen können. So bin ich immer äußerst übellaunig, wenn etwas nicht funktioniert, wie es soll. Die Spülmaschine zum Beispiel, die kürzlich dafür sorgte, dass alles gewaschene Geschirr schön gleichmäßig fettig war, auch wenn nur Wasser in den Gläsern gewesen war. Oder meine Klospülung, die sich in der letzten Zeit recht kapriziös zeigte.

Vielleicht kennt ihr das: Man hatte ein menschliches Bedürfnis und kommt diesem nach, und dann drückt man die Spülung und es läuft Wasser. Und läuft. Und läuft. Die Niagarafälle sind nichts dagegen. So geschah es bei mir Anfang Mai. Natürlich habe ich mich nicht aus der Ruhe bringen lassen, es war nicht das erste Mal, dass mir das passierte. Ich konnte die Spülung sogar fachfraulich auseinanderbauen und das Wasser abdrehen. Die nächsten Tage hantierte ich mit einer Eimerspülung, was etwas lästig, aber kein Weltuntergang war. Man behilft sich halt.

Nach etwa einer Woche kam ein Klempner – pünktlich und nett. „Wer hat Ihnen die Anlage denn auseinandergebaut?“, fragte er. Dass ich das selbst konnte, schien ihn sichtlich zu erstaunen, aber dann werkelte er drauflos. Ich werkelte auch, im Homeoffice. Irgendwann stand der Rohrverlegerich neben mir, sichtlich unangenehm berührt. Das sei ja schon alles recht alt da drin, meinte er. Damit hatte er auch Recht, mein Klöchen nebst Spülung wurde irgendwann Ende der 90er Jahre eingebaut und ist somit älter als die meisten unserer Praktikanten im Büro. Ich bestätigte also: Ja, alt, stimmt. Ob er denn da etwas Neues einbauen dürfe, das alte Zeug sei kaputt. Damit hatte ich gerechnet, denn ich hatte ja nicht zum ersten Mal Spaß damit. Er durfte also, besorgte irgendwelche Teile und baute die ein. Nach einer Weile hörte ich es nebenan rauschen – spül, spül, spül – es ging wieder. Schön, schön.

Da mein Klempner von meiner Intelligenz offensichtlich nicht allzu viel hielt, wurde ich sorgfältig eingewiesen. Denn ich hatte auch einen neuen Drücker bekommen: große Taste für großes Geschäft, kleine Taste für kleines Geschäft, erklärte er mir. Ich übte, drückte auf jede Taste einmal drauf und galt somit als sachkundig. Mein Klempner verließ mich, ich war zufrieden.

Ein paar Tage ging alles gut. Dann erschrak ich eines Tages, als ich im Flur war, denn im Bad rauschte plötzlich Wasser. Ich trabte ins Fliesenzimmer und spähte in den Lokus. Ne, alles ruhig. Hatte mich wohl getäuscht.

Doch immer wieder hörte ich es in den nächsten Tagen rauschen, zumeist kurz nachdem ich auf dem Klo gewesen war. Irgendwann erwischte ich die Spülung dabei, wie sie tatsächlich unvermittelt einen Schwall Wasser in die Schüssel spie. Nicht viel, aber so sollte das sicher nicht sein.

Anscheinend hatte die Spülung meine Unzufriedenheit bemerkt, denn sie dachte sich etwas Neues aus: Nach einem Spülvorgang lief sie nicht freiwillig wieder voll. Also spülen – Wasserfall – und dann … nichts. Kein leises Rauschen, das belegte, dass sich der Kasten wieder füllte. Ich wackelte etwas an den Tasten herum – klein, groß, klein, groß – Rauschen. Aha! Irgendwas hatte wohl geklemmt, jetzt ging es wieder. Allerdings nicht lange. Es bürgerte sich ein, dass ich nach jedem Toilettengang an den verschiedenen Geschäftstasten herumspielen musste, damit Wasser nachlief. Und dann lief es manchmal über, zum Glück in die Schüssel, nicht zu den Nachbarn. Manchmal hörte es dann von selber nicht mehr auf, sodass man das Tastengewackel wieder starten musste, um die Götter, die man gerufen hatte, wieder in ihre Löcher zu scheuchen. Ich verbrachte unglaublich viel Zeit damit, meine Toilette zu beobachten. So ging das nicht weiter.

Ich platzierte also eine Reklamation bei der Klempnerei meines Vertrauens und bat um erneuten Besuch. Nachdem ich das Phänomen mehrmals erklärt hatte, nahm man mir meine Verzweiflung ab und versprach einen Hausbesuch. Am Freitag, da habe ich frei und somit Zeit. Um halb acht – wie gut, dass ich Frühaufsteherin bin.

Ich war also fertig angezogen und frisch geduscht, als der Herr der Rohre – wieder sehr pünktlich – bei mir eintraf. Ich erläuterte das Problem und wackelte an den Tasten. Welcome to the Show in the Klo. Der Klempner zeigte sich beeindruckt und vor allem verständig – nein, so ging das wirklich nicht. Er begann zu schrauben und ich wusste nichts mit mir anzufangen.

Es ist schon merkwürdig: Ich hätte alles Mögliche tun können. Tee trinken zum Beispiel, ein Stück stricken, was lesen. Was man halt so macht, wenn man frei hat und zuhause ist – morgens um halb acht. Aber irgendwie habe ich immer das Gefühl, dass es sich nicht gehört, dass ich rumsitze, während jemand anders in meiner Wohnung arbeitet. Beim ersten Klempnerbesuch ging das prima, Homeoffice sei Dank. Aber heute fühlte ich mich seltsam verloren und musste etwas tun. Ich beschloss, dass Blumen gießen eine gute Idee wäre, füllte die Kanne, goss, zupfte welke Blättchen ab und schnippelte alte Blüten raus. Da ich nur eine Blume habe, ging das unglücklicherweise sehr flott. Ich sah auf die Uhr – der werkelte da jetzt schon sieben Minuten und war immer noch nicht fertig. Also faltete ich Wäsche. Dann war das immerhin schon mal gemacht. Auch die Spülette räumte ich aus, bereitete meinen Einkaufsrucksack für den später geplanten Ausflug zum Supermarkt vor und kochte Kaffee. Kann man ja alles gebrauchen.

Dann war er endlich fertig. Wieder wurde ich eingewiesen, mir wurden die Tücken des Nachlauf-Ventils erläutert und dass eben bei diesem heimtückischen Ding eine Schraube locker gewesen war – ich hatte es ja geahnt. Nun sei sie fest, meinte mein Klempner, und durch bedächtiges Drücken der beiden Geschäftstasten nahm ich die Arbeit fachgemäß ab. Es läuft wieder, soweit, so gut. Meine Laune hat sich gehoben, der Haushalt ist gemacht – alles wieder gut.

Der Hühnergott

Es gibt Dinge im Leben, die sind ganz einfach und könnten beinahe unbemerkt bleiben. Und doch entfalten sie eine unheimliche Wirkung, so wie ein Sandkorn im Getriebe oder ein Stein im Schuh. Etwas, über das man nicht hinwegsehen kann, auch wenn man es eigentlich gerne möchte. Weil es bequemer wäre, weniger peinlich, weniger schmerzhaft. Doch es hilft nicht: Mit einem Stein im Schuh kann man nicht gehen, und mit einem Dorn im Herzen auch nicht. Man muss etwas ändern, sonst geht man zugrunde.

Der Tag, an dem Rebekka den hellgelben Hühnergott fand, war ein Sonntag. Sie hatte sich mit Luis am alten Leuchtturm getroffen. Gemeinsam waren sie den Bohlenweg zum Strand hinunter gegangen, Hand in Hand, so als wären sie beide gerne hier am Strand und freuten sich, gemeinsam hier zu sein. Dabei hatte Rebekka doch da schon geahnt, dass Luis keinen Hang zum Meer hatte. Er war ein Stadtmensch, durch und durch, der ihr zuliebe ab und zu mit in die Natur kam, ohne dies jedoch zu genießen. Er konnte sich nicht gut entspannen, war in Gedanken immer bei seiner Arbeit und stand ständig unter Strom. Rebekka war auch fleißig, brauchte aber ihre Auszeiten und viel frische Luft. Und sie brauchte das Meer. Sie liebte das Meer. Auf Dauer konnte sie nicht ohne sein.

Und so war Rebekka für ein langes Wochenende zu ihrer Tante Margot gefahren, die nur wenige Meter von der Nordseeküste entfernt wohnte. Luis kam am Sonntag dazu, um sie abzuholen und zuvor noch ein Stündchen mit ihr spazieren zu gehen. „Aber bitte nicht zu lange, Liebling, der Wochenendverkehr ist immer die Hölle“, bat er und sie nickte. Jaja, sie wusste, dass es ihn heimzog. Sie lächelte das ungute Gefühl weg und zog ihn an der Hand weiter zum Wasser, wo sie direkt am leicht schäumenden Brandungssaum ein Stück weit liefen, ohne viel zu reden. Luis sah auf die Schiffe am Horizont und Rebekka blickte immer abwechselnd in die Ferne und auf den Sand zu ihren Füßen. Und dann sah sie ihn – den Hühnergott. Einen gelb-braun geäderten, etwas pflaumengroßen Stein mit einem unregelmäßigen Loch darin. Sie konnte es kaum glauben: Immer wieder hatte sie als Kinder nach so etwas gesucht und nie einen gefunden. Und nun lag er hier und sprang sie beinahe an.

Sogenannter Hühnergott: Ein Stein mit einem Loch darin, ähnlich geformt wie ein Fischkopf

Ehrfürchtig hob sie ihn auf und zeigte ihn Luis. Der nickte. „Schön.“ Rebekka verstand. Ihm sagte dieser Stein nichts. Und so erklärte sie ihm, was es mit diesem Stein auf sich hatte: ein Glücksbringer, ganz selten und voller Magie. Ihre Freude sprudelte aus ihr heraus, sie lachte und betrachtete ihren Fund von allen Seiten. „Den muss ich Tante Margot zeigen!“, rief sie und hüpfte fröhlich durch das flache Wasser. Luis schüttelte energisch den Kopf. „Aber nicht mehr heute. Ich bitte dich, Liebes, wir müssen los. Ich muss morgen eine Präsentation halten, darauf will ich mich heute Abend noch ein bisschen vorbereiten.“ Rebekkas Freude erlosch. „Nur ganz kurz“, bat sie. „Tante Margot hat früher in allen Ferien mit uns nach Schätzen gesucht. Wenn ich schon mal etwas gefunden habe, möchte ich es ihr gerne zeigen.“ Doch Luis schüttelte den Kopf. „Sorry, heute nicht mehr. Ich will jetzt wirklich los. Du kannst Margot ja ein Foto von dem Ding schicken.“

Eine Viertelstunde später hatten sie im Auto gesessen und waren Richtung Hannover gefahren. Luis, der am Strand unruhig, aber wortkarg gewesen war, blühte jetzt so richtig auf, erzählte Rebekka von seiner Arbeit, den Kollegen und der Wohnung, die er für sie beide zu kaufen gedachte. Neubau, am Stadtrand, aber nicht so weit ab vom Schuss wie das, wo sie jetzt wohnten. Dritter Stock mit Balkon, sehr nette Nachbarschaft. Und Rebekka saß, hörte ihm zu und wusste nichts dazu zu sagen.

Zwei Wochen später fuhr sie wieder an die Küste. Sie sprach lange mit ihrer Tante, tauschte sich mit ihr aus. Ihre Schwester kam dazu, mit ihr teilte sie ihre Sorgen und Bedenken. Sie saßen auf der Bank am alten Leuchtturm, tranken Sekt aus kleinen Flaschen, Rebekka weinte ein bisschen und ihre Schwester tröstete sie. Als sie nachts zurückkamen in das Haus der Tante, lag auf Rebekkas Bett der Hühnergott, den die Tante sich nachmittags ausgeliehen hatte. Sie hatte eine wunderschöne Kordel geflochten, an der sie den hübschen Stein befestigt hatte. Rebekka musste lächeln, als sie das Schmuckstück auf dem Kissen liegen sah. Ja, so ging es auch. Sie streifte die Kordel mit dem Glücksbringer über den Kopf und zog ihren Verlobungsring vom Finger. Mit einem warmen Gefühl der Erleichterung ließ sie sich vom Geräusch der Wellen in den Schlaf wiegen.

Ostseefrühling

„Frühling lässt sein blaues Band …“ und so weiter und so fort. Ende März war ich mit meiner Freundin Kerstin mal wieder für eine Woche an der Ostsee, und da flatterte das legendäre blaue Band teilweise so gewaltig, dass wir nicht nur von oben, sondern auch von der Seite und von unten nass wurden. „Aprillig“ ist wohl die freundliche Bezeichnung für das sehr wechselhafte Wetter, dass auf uns herniederging. Trotzdem, und auch trotz einiger anderer Widrigkeiten, hatten wir es schön, denn wir vertragen uns immer gut, haben immer etwas zum Dummbabbeln und werden nur ganz wenig mürrisch, wenn es einfach nicht aufhören will zu gießen. Und am Freitag zeigte sich das Wetter so:

sechs sehr unterschiedliche Seemotive - von heiter bis dunkelgrau-stürmisch

Wir gingen ein paar Mal schwimmen, genossen den öffentlichen Nahverkehr auf dem platten Land, kauften die Eckernförder Süßwarenmanufaktur leer und beobachteten Mitreisende – das war dieses Mal so spannend, dass ich dem in den nächsten Tagen einen eigenen Beitrag widmen werde. Und natürlich ging ich meiner alten Leidenschaft nach und knipste Blumen. Die meisten meiner geliebten Krokusse lagen zwar trübsinnig zermatscht am regennassen Boden, aber ein paar mit Haltung fanden sich doch noch.

Den nächsten Urlaub haben wir schon vereinbart – dann vier Wochen später und vielleicht wieder mit eigenem fahrbaren Untersatz. Ich freue mich schon darauf!

Fundstücke 74 – gastronomischer Abgrund

Seit Ewigkeiten habe ich schon kein Fundstück mehr gepostet. Aber das, was sich mir im Ostseeurlaub in einer Speisekarte präsentierte, schreit förmlich danach, im Absurditätenkabinett meines Blogs präsentiert zu werden. Aber von Anfang an:

Es gibt Dinge, die esse ich gerne. Ganz besonders im Urlaub. Dazu gehört die norddeutsche Spezialität „Labskaus“, die natürlich nicht nur aus der merkwürdig aussehenden Pampe besteht, sondern allerlei Beiwerk hat: Matjes (oder auch einen sauren Hering), ein Spiegelei und etwas Sauergemüse oder Salat. Hier haben wir ein schönes Beispiel:

Labskaus, so wie er muss: Mit zwei Eiern, Hering, Zwiebeln, saurer Gurke und Salat

In einem Restaurant in Kappeln bot man auch Labskaus an. Dieses wurde jedoch derartig merkwürdig angepriesen, dass ich davor zurückschreckte und lieber ein Stück Pflaumenkuchen nahm, obwohl ich auch Appetit auf etwas Herzhaftes gehabt hätte. Denn man offerierte:

Text aus der Speisekarte: Labskaus für "Anfänger" mit Spiegelei in der Tasse serviert

In der TASSE?! Watt? Nein, liebe Leute, so nicht. Man hat mir ja schon vieles serviert – Kartoffelsuppe im fest verschlossenen, brühheißen Einmachglas, Burger und Pommes im Körbchen, Sahnetorte auf der Serviette. Doch dieses hier geht eindeutig zu weit. So nicht! Nicht mit mir!

Bin halt auch keine Anfängerin mehr 🙂

Strickjacke zum Verschenken – ein widerspenstiges Stück!

Grünes und dunkelblaues Wollknäuel in brauner HolzschüsselEs gibt Strickwerke, die wollen erst mal nicht gelingen. So ging es mir mit der Jacke, die ich für meine Freundin Kerstin stricken wollte. Nicht zu bunt sollte sie sein – Kerstin mag es nicht so bunt. Sie liebt blau. Und da ich nicht gerne ganz einfarbig stricken mag, entschied ich mich, mit zwei Fäden zu stricken – in Marine und Seegrün. Das Aussuchen des Sockengarns, das neben Schurwolle und Polyacryl auch einen guten Teil Bambus enthält, war schnell gemacht. Aber damit hörte es auch schon auf.

Das einfache Zopfmuster war es nicht, das mir Probleme bereitete. Aber die Größe! Ich rechnete, grübelte, rechnete wieder. Zu weit, zu eng, zu lang, zu kurz? Nach allerhand Rätselei legte ich los und es ging recht gut von der Hand. Rückenteil fertig, erstes Vorderteil fertig, zweites Vorderteil fer… ähhem … Knopflöcher? Ein Stück aufribbeln, Knopflöcher vorsehen. Zweites Vorderteil auch fertig. Vor dem Zusammennähen erst mal was anderes machen, denn dazu habe ich immer so gar keine Lust.

Dann, an einem Sonntagmorgen, ein Herz fassen, Nadel hervorkramen, Knopflöcher umranden, Fäden vernähen.  Dann nur noch zusammennähen. Also, erst mal aufeinanderlegen und mit einer langen Stricknadel die erste Schulter zusammenpieken vor dem Nähen. Piek, piek – am Ende steht was über. Nadel wieder rausziehen. Piek, piek – passt nicht. Hääähh? Wat is dat denn? Ich greife mir das zweite Vorderteil, halte es mit dem ersten zusammen. Beide genau gleich groß. Super Arbeit, Maß exakt getroffen. Ich lege wieder ein Teil auf den Rücken – sieht komisch aus. Irgendwie passen Rücken und Vorderteile nicht zusammen. Ich spüre meinen Mut sinken, gebe aber nicht auf und pieke ein Vorderteil so an den Rücken, dass ich die Schulter mit etwas Frickeln zusammennähen könnte. Nun ja – das würde gehen, und trüge Kerstin ihre Brüste auf dem Rücken, würde das vielleicht sogar eine gute Figur machen.

Es hilft nichts, ich muss der Wahrheit ins Auge sehen: Irgendwo habe ich mich verrechnet. Ich muss entweder den Rücken oder beide Vorderteile nochmal auftrennen. Und da ich überhaupt keine Lust habe, meine soeben sorgfältig umrandeten Knopflöcher wieder aufzupulen, wird es der Rücken.

Strickjacke mit Zopfmuster und kurzen Ärmeln

Es versteht sich von selbst, dass ich vor dieser frustrierenden Arbeit erst mal einige Paare Socken stricken musste. Dann aber kam das nächste Treffen mit Kerstin näher und ich musste ran. Ich rechnete also nochmal – dieses Mal ganz besonders sorgfältig – und strickte in einem Rutsch Rücken und Ärmel fertig. Es half ja nichts, schließlich soll meine Freundin nicht frieren, und die vor einigen Jahren auf Maß angefertigte Jacke (auch in blau-grün, was für ein Zufall) ist inzwischen wirklich abgetragen. Knöpfe dran, und dann musste das gute Stück nur noch passen. Und das tut es – davon konnte ich mich letzte Woche in unserem gemeinsamen Urlaub selbst überzeugen.

Voll reingesteigert oder: Das Wundermittel

Eigentlich bin ich ein ausgeglichener Mensch: meistens positiv, mit guter Laune und optimistisch. Es gibt wenig, was ich mir nicht irgendwie schön reden könnte.

Meditierender Frosch, golden

Und doch kommt es auch bei mir vor, dass ich einmal schlechte Laune habe oder nörgelig bin. Meistens hält das dann nur kurz an. Vor einigen Wochen aber habe ich mich einmal richtig genüsslich in mein Elend reinfallen lassen. Ich kam mir vor wie der bedauernswerteste Mensch der Welt. Und das kam so: Ich hatte Knie.

So ein bisschen knirschig ist mein Knie ja schon länger – das linke. Jetzt aber machte das Rechte Theater: Kurz vor dem Urlaub auf Sylt begann es anlasslos zu meutern, ignorierte meine Sanierungsbemühungen mit Voltaren, Kälte, Wärme, Bewegung und Ruhe und legte im Urlaub so richtig los. Als ich wieder zuhause war, versuchte ich es noch zwei Tage mit Ignoranz, nur um dann feststellen zu müssen, dass nichts mehr ging. Ich humpelte also zum Arzt, ächzte dort die Treppe hoch und zeigte mein dickes, teigiges Knie klagend vor. Nein, weder umgeknickt noch gestürzt. Ja, einfach so. Der Arzt tastete, bog etwas herum, murmelte etwas von „Meniskus beidseitig“. Schön, schön. Ich schlug eine Amputation vor, was er nach kurzem Zögern ablehnte, mich mit Spritzen, Reizstrom, Creme und Pillen versorgte und der Anweisung, übermorgen wiederzukommen. Na gut. Ich hatte aber noch eine Frage: „Wie lange kann sowas denn dauern? Ich möchte nächsten Samstag auf Kohlfahrt …“ Nach kurzem Überlegen und Herumrechnen bekam ich folgende Auskunft: Kann klappen, muss aber nicht.

Kohlessen mit allemIch humpelte also heim, legte den Haxen hoch, cremte, schluckte Pillen, hielt mich an alle Anweisungen. Irgendwann tat das Knie im Liegen nicht mehr weh. Meine Zweifel aber wuchsen. Kohlfahrt, das bedeutet, etwa viereinhalb Stunden rumlaufen, rumstehen, über Buckelpisten traben, Bollerwagen ziehen, komische Spiele spielen. Außerdem Anfahrt und Übernachtung. Und irgendwann stellte ich ernüchtert fest: Das wird nix. Also, so gar nicht. Ich überlegte, nicht mitzulaufen und nur zum Essen zu gehen. Aber dann hätte ich eine Zugfahrt und zwei Nächte im Hotel bezahlt, nur um den Tag alleine herumzusitzen und abends als einzige Nüchterne mit einem Haufen Besoffener Grünkohl zu essen. Nenene, das lohnt sich nicht, auch wenn mir meine Kohlfahrts-Freunde allesamt lieb und teuer sind. Ich sagte also schweren Herzens ab. Und grämte mich. Richtig muffig war ich.

Der Samstag kam und ich ging einkaufen. Das geht doch ganz prima, dachte ich, als ich die 200 Meter von der Straßenbahn zur Post humpelte. Und ich dumme Nuss hatte das Event des Jahres angesagt. Ich grämte mich noch mehr und fand mich furchtbar doof.

Nun ja: Während ich in der Post darauf wartete, mein Päckchen aufgeben zu können, stand ich bald schon wieder auf einem Bein. Und die Strecke von der Post zurück zum Wochenmarkt war auf einmal richtig lang. Schon bevor ich einkaufte, war ich im Grunde reif für die Insel, per Liegendtransport. Und ich hatte eine unglaublich schlechte Laune. So schlecht, dass ich komplett den Faden verlor und  gar nicht mehr wusste, was ich eigentlich kaufen wollte. Ich erwarb also zuerst mal einen dicken Strauß Blumen – wenn das Leben schon so ungerecht ist, wollte ich es wenigstens bunt haben. Dann etwas Gemüse und ab zum Fleischstand. Ich hatte noch Grünkohl im Glas – wenn schon keine Kohlfahrt, dann wollte ich zumindest eine Portion Grünkohl essen. Rippchen wollte ich dazu, das ist das, was mir im pinkelfreien Hessen am ehesten zum Kohl schmeckt. Die Verkäuferin zeigte mit dem Messer – so viel? Ne, mehr. Noch mehr! Wenn ich muffig bin, neige ich zum Frustfressen. Daher kam mir die Idee, dass ich nicht nur Brötchen, sondern auch dringend noch ein Stück Kuchen bräuchte. Ich stellte mich am Bäckerwagen an und besah die Auslage: Bestimmt fünf Sorten Kuchen, die ich sehr liebe. Ich war unentschlossen. Sollte ich einfach alle kaufen? Die Schlange rückte etwas vor. Der Mann vor mir kaufte zwei dicke Scheiben Marmorkuchen. Wie man das dröge Zeug essen kann, wenn es auch anderes gibt, ist mir seit jeher ein Rätsel. Und dann war ich dran. Noch immer mürrisch und irgendwie blöd im Kopf war ich nach wie vor unentschlossen. Und so bestellte ich das, was mir als erstes einfiel: Zwei Kürbiskernbrötchen und ein Stück Marmorkuchen, bitte.

Zuhause packte ich meine Schätze aus und fror erst mal zwei Drittel vom Rippchen ein. Den ollen Marmorkuchen schmiss ich in den Schrank. Dann frühstückte ich und gab mich meinem Elend hin: Ich guckte „Der Landarzt“. Was soll man sonst auch machen, wenn man so doll krank ist?

Marmorkuchen mit EierlikörDie Kohlfahrer schickten erste Fotos: Man traf sich, endlich mal alle wieder beisammen, ach ist das schön. Ich gönnte es ihnen und suhlte mich in Selbstmitleid. Das ging so lange, bis ich beschloss, dass es Teezeit sei. Übellaunig kochte ich eine Kanne Sonntagstee – wenn schon, denn schon, und knallte den dicken Klafter Marmorkuchen auf einen Teller. Da lag er nun und grinste trocken. Und aus einer Laune heraus nahm ich ihn vom Kuchenteller runter und schmiss ihn in einen Suppenteller, wo ich ihn mit einer dicken Schicht breiigem Eierlikör bedeckte. Den ließ ich ein Viertelstündchen einwirken und schnabulierte dann meinen Kuchen. Tatsächlich – es half. Nach diesem exquisiten Dessert ging es meiner Laune deutlich besser. Das müssen die Gene meines Vaters sein: Der war früher auch immer total happy, wenn er sein Nachtisch-Eis in reichlich Eierlikör ertränken konnte. Und das sogar ohne entzündetes Knie.

Nachtrag: Dem Knie geht es inzwischen besser, aber das war ein hartes Stück Arbeit. Es knurzelt noch. Gestern bin ich aber zum ersten Mal wieder richtig „zweibeinig“ anstatt im Oma-Schritt eine Treppe hochgelaufen. Folglich habe ich die Hoffnung, dass ich diese Malaise überleben werden. Und das ist gut so – ich habe nämlich nicht mehr viel Eierlikör.

Wolfsgedanken

Wieder einmal eine Miniatur aus dem Schreibkurs: 12 Minuten waren Zeit und es gab ein Bild, das Wölfe im Bayrischen Wald zeigte. Man hört und liest ja des öfteren, was Menschen denken, wenn sie Wölfe sehen, aber ich habe mich gefragt, was diese Wölfe wohl denken, wenn sie Menschen sehen.

drei Wölfe

Wolfsgedanken

Die Menschen dort sind harmlos. Sie gehören zu denen, die einfach nur herumlaufen, scheinbar ohne Ziel. Sie sind aufgeregt, wenn sie uns sehen, aber nicht aggressiv. Eher neugierig und ein bisschen ängstlich. Die meisten sind froh, wenn wir sie in Ruhe lassen, so wie wir froh sind, wenn sie uns in Ruhe lassen. Wir ziehen es vor, sie zu meiden, auch wenn wir uns ab und zu in ihrer Nähe unsere Beute greifen.

Das Beute machen ist leichter geworden, seit ich nicht mehr allein bin. Meine Partnerin ist eine gute Jägerin, und auch die junge Wölfin, die mit uns läuft, hat gute Anlagen. Ich spüre sie in meiner Nähe, sie atmet leicht unruhig und scheint nicht so recht zu wissen, was sie von den Menschen zu halten hat. Ich knurre beruhigend, nur keine Angst, es besteht keine Gefahr. Die mit den klackernden Stöcken sind merkwürdig, sie gehen zügig zwischen zwei Stäben und wenn es Weibchen sind, reden und reden und reden sie dabei. Ein komisches Verhalten, keiner weiß, was das soll. Auf Beute sind sie nicht aus, dafür wären sie auch viel zu laut.

Es ist gutes Wetter heute, da kommen immer viele Menschen in den Wald. Sie scheinen trockenen Boden lieber zu mögen als feuchten. Dabei riecht es hier viel besser, wenn es nicht ganz so trocken ist. Zu nass ist natürlich auch nichts, ich schlafe gerne trocken. Wir haben eine schöne Höhle hier gefunden, sie wird uns eine ganze Weile reichen, auch wenn wir bald mehr sein werden. Denn wir werden mehr, ich spüre es. Meine Partnerin ist nicht mehr ganz so leichtfüßig wie zuvor, ihr Atem geht oft schwer und sie hat sich gerundet. Nun ja, das war zu erwarten. Bald wird es einige kleine Mäuler mehr zu stopfen geben. Ich freue mich darauf, auch wenn es viel Arbeit bedeuten wird. Der Wald hier ist ein guter Fleck zum Leben, er ist weitläufig und dicht, und da, wo die Menschen nicht herumlaufen, gibt es eine Menge Beute. Bald beginnt die Zeit der Jungtiere. Einige von ihnen werden ihr Leben lassen müssen, damit unsere Kleinen erwachsen werden können. Ein komischer Gedanke, aber so ist es halt, das Leben.

Merkwürdige Dinge: Nesteldecke und Nestelstulpen

Vor einer Weile kam über die Facebook-Gruppe, mit der ich für Charity-Projekte stricke, eine merkwürdige Anfrage rein: Ob wohl jemand ein paar Nestelstulpen, auch Nestelmuffs genannt, stricken könnte? Oder auch Nesteldecken? Ich war ratlos: Nestel-was? Wieso, weshalb, warum?

Die Auflösung ist einfach, einleuchtend und irgendwie traurig: Die Anfrage kam von einer Dame, die eine Demenzstation leitet. Dort gibt es Menschen, die unruhige Hände haben und die ganze Zeit herumsuchen und -fummeln. Einige kratzen und kneifen sich auch. Ihnen hilft es, wenn die nervösen Finger auch etwas zum Fummeln finden, also Knöpfe, Ösen oder sonstiges Kleinzeug, an dem sich herumspielen lässt. Auch unterschiedliche Strukturen beschäftigen sie. Deshalb gibt es spezielle Decken und Tücher, die kleine Elemente enthalten, an denen man herumgreifen kann. Die kann man für viel Geld kaufen oder auch selber machen. Eine schöne Sache, auch um Wollreste und Mutters alte Knopfbestände zu verarbeiten. Nachdem ich einen Haufen helle Wolle, für die ich bislang keine bessere Idee gehabt hatte, zu Rollstuhl- und Nesteldecken verarbeitet hatte, widmete ich mich also diesen ominösen Stulpen.

Mit meinen großen Beständen an Sockenwollresten, Knöpfen und Bastelkram zum Annähen wurde die Sache ein Selbstläufer – es macht wirklich Spaß, diese Dinger herzustellen. Damit sie auf jeden Arm passen, nehme ich 64 Maschen. Ich ziehe irgendwo ein Bändchen ein, an dem man herumspielen kann, mit dem sich die „Armsocke“ aber auch etwas enger machen lässt, damit sie zierlichen Personen nicht dauernd herunterfällt. Perlchen werden gleich mit eingestrickt, aber nur auf der Oberseite – es soll ja nicht unangenehm sein, wenn der Arm irgendwo aufliegt.

Alles in allem denke ich beim Stricken der Stulpen recht viel nach. Viele Leute, die heutzutage alt sind, haben noch Arbeitskleidung getragen – also kommen Papas alte Uniformknöpfe (von der Bahn) mit zum Einsatz. Etwa ein Drittel der heutigen Demenzpatienten sind Männer – und die tragen vielleicht lieber gedecktere Farben. Und die Stulpen sollen irgendwie symmetrisch sein. Das ist allerdings mein eigener Geschmack – MICH würde es stören, wenn die Elemente willkürlich angeordnet wirken. So bekommt also auch mein Kopf etwas zu tun, wenn ich mich dieser wirklich befriedigen Art der Resteverwertung widme. Die Wertschätzung, die dafür von der Projektorganisatorin zurückkam, tut da noch ein Übriges.

 

Covid und das große Müde …

Zwei Monate Blogpause – das gab es seit 2013 noch nie bei mir! Aber wie es eben so geht: Manchmal geht einfach nix.

Da fuhr ich doch Anfang Oktober frohgemut in den Urlaub an die Ostsee. Das Wetter war prächtig, meine Laune war es auch.

Leere Strandkörbe im Herbstlicht

Unterwegs nach Niendorf

Ich hatte ein hübsches kleines Hotel direkt am Timmendorfer Strand gebucht, hüpfte jeden Morgen früh aus dem Bett, frühstückte ausgiebig im fast leeren Frückstücksraum und stiefelte dann los. Es war noch so warm, dass man den ganzen Tag draußen sein konnte – angenehm zu Zeiten einer noch immer herummarodierenden Pandemie. Durch die viele Bewegung – ich ging auch jeden Abend noch schwimmen – fühlte ich mich fit und jung, gerade so, als sei ich höchstens 49.

Blick auf die Ostsee. Im Vordergrund allerhand Grünzeug.

Irgendwo auf der Promenade

So verging meine Woche viel zu schnell. Schon am Freitag war ich etwas wehmütig, so dachte ich zumindest, und konnte mich nicht mehr so recht motivieren. Das Schwimmen habe ich geschwänzt. Am Samstag fand ich meinen Koffer zu schwer und im Zug begann ich zu husten. Zuhause machte ich einen Covid-Test und der zeigte sofort – nach 30 Sekunden – einen dicken roten Strich. Fehlte nur noch, dass er geklingelt hätte. Hallo Corona, mein Name ist Meike.

Wie zu erwarten, war ich die beiden Wochen danach ziemlich im Eimer, auch wenn es alles in allem sicherlich ein milder Verlauf war. Aber diese Müdigkeit! Ich glaube, ich habe in meinem Erwachsenenleben noch nie so viel geschlafen.

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Eule im Vogelpark Niendorf. Ich habe bessere Fotos gemacht dort, aber dieses erscheint mir hier passend.

Inzwischen habe ich mich einigermaßen berappelt, aber zum Schreiben fehlte mir bislang jegliche Lust und Inspiration. Also habe ich Pause gemacht und mich mal wieder an die Verarbeitung meiner Wollberge gemacht. Socken, Tücher, dit und dat – all das wanderte letzte Woche in einem großen Karton an das Charity-Projekt, bei dem ich mitmache. Auch diese kleinen Gesellen hier, die den heutigen Post versöhnlich abschließen sollen:

gestrickte Schnecken und Trompetenschnüffler

Die Guten kommen wieder

Noch einmal etwas Märchenhaftes. Irgendwie habe ich es ja immer mit dem Tod. Dieses Mal begegnet er uns in Gestalt einer jungen Frau – denn wer sagt, dass Tode immer große, gruselige Kuttenträger sein müssen?

Die Guten kommen wieder

Es war einmal eine alte Frau mit Namen Elise. Die hatte vor fünf Jahren ihren Mann verloren und trauerte noch immer. Jeden Tag ging sie zum Friedhof und setzte sich auf die kleine Bank gegenüber dem Grab, um ihm nah zu sein. Eines Tages setzte sich eine junge Frau zu ihr. „Ich hoffe, ich störe Sie nicht?“, fragte sie und Elise schüttelte den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht. Ich bin nur hier, weil ich sonst nichts zu tun habe und auf diese Weise meinem Hans nah sein kann.“ Die Frau nickte verständnisvoll. „Ja, das kann ich gut nachvollziehen, Ich finde auch, dass Friedhöfe etwas besonders Magisches haben. Eine Kraft, die einen auftanken lässt. Es gibt eigentlich nur einen Ort, der noch stärkere Kräfte hat, und das sind Spielplätze.“ Elise lächelte, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf. „Spielplätze? Da war ich nur sehr selten mal. Mein Mann und ich hatten leider keine Kinder.“ Die junge Frau berührte die Ältere ganz kurz am Arm. „Ich weiß“, sagte sie, „ich kenne Ihre Geschichte.“ Überrascht sah Elise sie an. „Sie wissen Bescheid über uns? Wie denn das?“ Die junge Frau zuckte leicht die Achseln. „Nur das, was sich herumspricht. Dass Sie Ihren Johannes schon als Kind kennengelernt haben, Sie einander liebten, aber aus familiären Gründen nicht heiraten durften, beide zuerst unglückliche Ehen mit anderen Partner hatten und sich dann wieder getroffen haben. Ich finde es so wunderschön, dass Sie ihr Glück doch noch gefunden haben.“ Elise sah versonnen vor sich hin. „Ja, das stimmt alles. Erstaunlich, was die Leute so über einen wissen. Man kann sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen, wie sehr die Familien uns damals unter Druck gesetzt haben, die Finger voneinander zu lassen. Zuerst waren wir nicht stark genug. Aber dann, nach diesem ungeheuren Zufall, der uns wieder zusammenbrachte, konnte uns nichts mehr trennen. Bis auf der Tod, natürlich.“ Beide schwiegen eine Weile.

Friedhof

„Wie war er denn?“ fragte die junge Frau schließlich und Elises Lächeln machte ihr altes, faltiges Gesicht jung und wunderschön. „Er war einzigartig. Warmherzig und zuverlässig, außerdem ein echter Schlingel, auch im Alter noch. Sein spitzbübisches Grinsen hat sich nie verändert. Er hatte noch so viel von dem Schulbuben an sich, der mich getröstet hat, als ich an meinem ersten Schultag Angst hatte und weinte. Er war ja sechs Jahre älter als ich. Trotzdem bemutterte er mich ein bisschen, auch wenn die anderen Jungen über ihn lachten und ihn eine Glucke nannten. Er hatte einfach ein gutes Herz.“ „Das klingt schön, wie Sie über ihn sprechen“, sagte die junge Frau. „Trotzdem denke ich, dass Sie den Tipp mit dem Spielplatz einmal versuchen sollten. Er ist gleich bei Ihnen in der Nähe, wenn Sie durch den kleinen Park laufen.“ Elise versprach, es sich zu überlegen. Sie saßen noch ein wenig beieinander, bevor die junge Frau sich verabschiedete und irgendwo zwischen den blühend bepflanzten Gräbern verschwand.

Der nächste Tag brachte strahlendes Frühsommerwetter. Elise war früh fertig mit ihrer Hausarbeit und beschloss, von dem Gang zum Friedhof tatsächlich einmal durch den Park zu schlendern und nach dem Spielplatz zu sehen. Als sie sich ihm näherte, sah sie die junge Frau auf einer Bank sitzen und den Kindern beim Spielen zusehen. Aus einer Laune heraus kaufte sie am Kiosk zwei Eis am Stiel und ging auf die Bank zu. „Da sind Sie ja wieder“, rief die junge Frau erfreut und bedankte sich für das Eis. „Das ist ja nett von Ihnen!“ Gemeinsam aßen sie und beobachteten das Gewimmel auf dem Spielplatz. Es waren mindestens ein Dutzend Kinder, stellte Elise fest, und gemeinsam lachten sie ein paar Mal laut auf, wenn eines der ganz Kleinen drollig über den Rasen kugelte. Als ein kleiner Junge sich nicht die Rutsche hinunter traute und ein etwas Größerer ihm gut zuredete, jubelten sie beide laut, als der Kleine sich irgendwann mutig abstieß und unten in der Sandgrube landete. „Das hätte mein Hans auch gemacht“, bemerkte Elise mit Blick auf den größeren Jungen, der etwa fünf Jahre alt war und mit den anderen Kindern friedlich spielte. Ab und zu lachte er laut oder warf den auf der Bank sitzenden Frauen ein spitzbübisches Lächeln zu. „Er ist wie Hans“, durchfuhr es sie und sie sah zur Seite zu ihrer Bekannten. Die nickte nur. „Ja“, sagte sie. „So funktioniert das. Die Guten kommen wieder.“ Elise war so erschüttert, dass sie nur noch Augen für den Jungen hatte. Sie bemerkte nicht einmal, dass die Frau neben ihr einfach verschwand.

Elise ging von nun an fast jeden Tag auf den Spielplatz. Sie erfuhr, dass der kleine Junge Johannes hieß und ein echter Lausbub war – manchmal frech, aber nie böse. Er half den Kleineren und schützte einen Igel vor den Angriffen eines Pudels. Und wenn er lächelte, sah Elise ein anderes, älteres Gesicht vor sich: faltig, aber doch jungenhaft.

Als der nächste Frühling kam, fühlte Elise, dass ihre Kräfte rapide schwanden. Sie war müde und antriebslos. Eines Tages kam sie morgens kaum aus dem Bett. „Was ist das denn?“, wunderte sie sich und dachte „Geht so Sterben?“ Sie wehrte sich nicht groß gegen den Gedanken, denn mit 85 Jahren zu sterben fand sie nicht schlimm. Und so erledigte sie mühsam alles, was noch zu tun war, leerte ein letztes Mal die Mülleimer, fegte raus und wischte kurz durch die Waschbecken. Dann zog sie sich etwas Bequemes an und legte sich auf das Sofa. Im Sessel neben ihr saß die junge Frau, die sie schon kannte. „Da sind Sie ja wieder“, sagte dieses Mal Elise und die Frau zwinkerte ihr zu. „Ja, da bin ich. Und dieses Mal habe ich Ihnen etwas mitgebracht.“ Sie zog eine große Glaskugel hervor und hielt sie Elise direkt vor das Gesicht. Die sah hinein. Man sah ein junges Paar über einen Parkplatz laufen, er mit schnellen, aufgeregten Trippelschritten, sie mühsam und gebückt, die Hände an den Bauch gepresst. „Die Guten kommen wieder“, sagte die junge Frau und nickte Elise aufmunternd zu. „Ein paar Stunden wird es wohl noch dauern, aber sehr schwer wird diese junge Mutter es nicht haben.“ Beruhigt legte Elise sich in ihr Kissen, zog die Wolldecke hoch bis zum Kinn und entspannte sich. Atmen, immer nur Atmen, mehr gab es nicht zu tun. Und irgendwann brauchte es auch das nicht mehr.

„Atmen, atmen, Sie schaffen das!“ Und ja, mit einer letzten Kraftanstrengung der jungen Schwangeren war es endlich geschafft. Noch war sie erschöpft, und ihr Mann war der Ohnmacht näher, als er es sich je hatte träumen lassen. Doch dann blickten sie gemeinsam glücklich auf ihre lang ersehnte Tochter, die klein, warm und verschrumpelt auf den Bauch der Mutter gelegt worden war. Sie nannten sie Ella.