Drei tote Briefträger – von Andreas Wolf

Endlich habe ich wieder einmal einen Gastbeitrag: Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte von Andreas Wolf. Seine Geschichten leben von ihrer Absurdität und davon, mit unerschütterlicher Stimme unbetont vorgelesen zu werden. Mal geht es um einen Schaumstoffrest, dann wieder um ein Schnitzel im Zweifel – also Themen, die die Welt bewegen. Dieses Mal haben wir also

Drei tote Briefträger

WeihnachtsbaumschmuckHeinz öffnete die Haustür: Es war wenige Tage vor Heilig Abend, die Straßen und Wege waren glatt, in den erleuchteten Fenstern sah man Familien, die mit Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt waren: Hausfrauen, die sich um den Weihnachtsbraten kümmerten, und auf der Straße vor seiner Tür lag ein toter Briefträger. Ärgerlich, dachte Heinz, denn eine große Menge Blut, das aus einer Kopfwunde des toten Briefträgers geströmt war, hatte sich auf den liebevoll gepflegten Rasenvorplatz seiner Frau Gundula ergossen, so dass dieser nun sprichwörtlich rot eingefärbt war. Zwar eignete sich Blut ganz gut als Dünger, doch Gundula hasste alles, was eingefärbt war: Lippenstifte, gefärbte Fingernägel, grüne Lebkuchenherzen und eben auch mit Blut verfärbter Rasen.

Einerseits war dies etwas, was Heinz an ihr ganz besonders zu schätzen wusste, andererseits in solchen Momenten wie diesen ganz besonders ärgerlich. Denn nun musste er seinen Kopf dafür hinhalten, warum dieser Rasen nun rot war, statt grün. Mindestens jedoch würde sie ihm vorhalten, dass er mal wieder vergessen hatte Salz zu streuen.

Leider war es nicht bei ein bißchen verfärbtem Rasen geblieben: Denn das Blut war durch den bei Rasen nicht stehen geblieben, sondern bis auf den Gehweg an der Straße gelaufen und dort zu einer Art rotem Teppich gefroren.

Am nächsten Tag traute Heinz seinen Augen nicht: Denn ein zweiter toter Briefträger lag neben dem ersten und hatte den Blumenkasten des Nachbarn mit sich in den Tod gerissen. „Mist“, dachte Heinz, denn Herr Senftenberg von nebenan war besonders penibel, was das Aufstellen von Blumenkästen und das Reinigen der Straße anging. Dabei fiel ihm ein, dass er gestern noch den ersten toten Briefträger wegräumen wollte: Schließlich hätte einer der Nachbarn darüber stolpern und sich sonst etwas brechen können. Gerade Frau Müller war in letzter Zeit nicht gut zu Fuß gewesen, sie wäre bestimmt über den toten Briefträger gestolpert, dessen Blut übrigens inzwischen gefriergetrocknet war.

Die Tür zum Nachbarhaus öffnete sich: Herr Senftenberg grüßte freundlich, schaute auf die beiden Briefträger und sagte: „Na kein Wunder, dass ich keine Post mehr bekomme. Wollte mich schon beschweren, aber…“ Heinz grüßte freundlich zurück: „Den Blumenkasten ersetze ich ihnen natürlich“. „Ach was“, entgegnete Herr Senftenberg: „Den wollte ich eh schon ersetzen. Aber wo wir gerade dabei sind: Die Nachbarschaftsordnung sieht zwar nicht vor, was mit herumliegenden toten Briefträgern zu tun ist, dennoch soll der Gehweg tagsüber freigehalten werden. Halten Sie also den Gehweg frei, bevor noch etwas passiert“. Heinz dachte an die Gemeinschaftsordnung und daran, dass er damals überstimmt worden war, als es darum ging, Ausnahmeregelungen wie diese mit in die Ordnung aufzunehmen.

Doch noch bevor er Herrn Senftenberg antworten konnte, kam Herr Dahlke aus seiner Haustür. Herr Dahlke war seit drei Jahren im Vorruhestand, kümmerte sich aber nur wenig um die Gemeinschaftsordnung. Vermutlich gerade weil er Herrn Senftenberg nicht leiden konnte. „Na da kann ich ja lange auf die Postkarte meiner Enkel warten, wenn die Briefträger alle hier tot herumliegen.“ Herr Dahlke war immer für einen Scherz zu haben. Auch wenn Herr Senftenberg keine Miene verzog, so verzog Heinz doch ein wenig die Mundwinkel. Denn alle war leicht untertrieben, fand Heinz: Natürlich gab es noch mehr als zwei Briefträger auf der Welt. „Aber gut, dass ich Sie beide treffe: Da ich offensichtlich der einzige bin, der auf Post wartet, habe ich mal die Taschen der Briefträger durchsucht“. Damit übergab er einen rot verfärbten Brief an Herrn Senftenberg, der schnaubte „Schon wieder eine Rechnung“ und in seinem Haus verschwand. Heinz hatte seiner Frau das mit dem roten Rasen immer noch nicht gebeichtet. Aber da es auf Weihnachten zuging, würde sie vielleicht etwas versöhnlicher reagieren. Darüber mußte er nachdenken.

Das waren noch Zeiten: sicher auf vier Rädern unterwegs, um Post zu verteilen. Ausflugs-Postkutsche aus Bad-Kissingen

Als Heinz am nächsten Tag die Haustür öffnete, war Herr Dahlke gerade dabei, einen dritten toten Briefträger zu den beiden anderen vor seiner Tür zu platzieren. Als Herr Dahlke Heinz sah, sagte er: „Er hatte schlechte Post“, und fing an zu grinsen. Als er Heinz‘ irritierten Blick sah, sagte er schnell: „Keine Angst, ich habe nur heute Morgen nicht gestreut… Dafür hatte dieser endlich die Post meiner Enkel dabei. Für Sie hatte er auch etwas.“, und gab Heinz einen mit Blutflecken verschmierten Brief seiner Schwiegermutter. Heinz nahm den Brief, sagte aber kein Wort, denn schließlich kann es nicht sein, dass jeder seinen Kram vor seiner Haustür ablud, statt diesen ordnungsgemäß wegzuräumen oder einzumauern. Als Herr Dahlke seinen etwas ärgerlichen Blick sah, sagte er: „Ich dachte wir könnten uns vielleicht gegenseitig helfen: Da wir beide ein ähnliches Problem haben, würde ich Ihnen im Frühjahr die Scheune im Garten reparieren. Dafür könnten Sie sich vielleicht um den Briefträger kümmern?“. Heinz hatte eigentlich keine Lust sich um gleich drei tote Briefträger zu kümmern, doch war die Gartenscheune nicht mehr ganz neu.  Außerdem konnte er die Briefträger in die Scheune tun, so dass Herr Dahlke mit der finalen Entsorgung zu tun hatte. Heinz willigte ein.

Am nächsten Tag war der Heilige Abend gekommen. Heinz beschloss, am heutigen Tag die Haustür nicht zu öffnen: Wer konnte schon ahnen, wer da noch so alles herumlag. Dann könnte er sagen, er wisse von nichts. Seiner Frau hatte er einen blühenden Weihnachtskaktus besorgt, über den sie sich sicher freuen würde. Dann könnte er ihr auch von dem Problem mit dem Rasen berichten.

Irgendwann am Abend fing es an zu schneien und sie beschlossen, mit der Bescherung zu beginnen. Doch plötzlich klopfte es an der Tür. Heinz öffnete nur widerwillig. Jedoch war vor der Tür niemand und auch von den toten Briefträgern war nichts mehr zu sehen. Dafür hatte jemand einen Sack mit Streusalz vor der Tür abgestellt. Außerdem war der Rasen wieder grau-grün, wie üblich zu dieser Jahreszeit. Und auch sonst waren keine Blutspuren mehr da. Heinz verschloß ungläubig die Tür und rieb sich die Augen: Ob er sich das alles nur eingebildet hatte? Er war zwar inzwischen in einem Alter, in dem man sich Dinge einbildete, doch dass es nun schon soweit war mit ihm, das hätte er nicht gedacht. Etwas in Sorge um seine Gesundheit, aber doch erleichtert, dass er wohl so etwas wie einen Tagtraum hatte, ging er nochmal vor die Tür, nahm etwas von dem Streusalz und verstreute es auf dem Gehweg. Fröhlich und voller Vorfreude – auf die Geschenke, den Weihnachtsbraten und doch auch das Zusammensein mit seiner Frau – ging er zurück ins Wohnzimmer, wohlwissend, dass er nicht für drei Tote Briefträger verantwortlich war. Dann fiel sein Blick auf die Weihnachtspost und den Brief, den ihm Herr Dahlke gegeben hatte: Den mit Blut verschmierten Brief.

Die innere Mitte – von Maike Ruprecht

Dieser Text war der erste von Maike Ruprecht, der im Jahr 2012 im Laborjournal erschien. Seitdem schreibt sie regelmäßig für dieses Magazin und erfreut auch unser Schreibgrüppchen immer wieder mit heiteren Alltagsgeschichten aus ihrer Arbeitswelt. Auch wenn sie als technische Assistentin einen ganz anderen Job hat als ich, kommt mir einiges von dem, das sie beschreibt, doch bekannt vor. Dieses Mal sucht sie

Die innere Mitte

Erbsen, Pisum sativum, gemeinfreies Bild aus den Wikipedia Commons

Als ich mich vor 10 Jahren entschloss TA zu werden, wusste ich noch nicht, wie unglaublich nervenaufreibend dieser Beruf manchmal sein würde. Sicher, ich rechnete mit missglückten Experimenten, anstrengenden Praktikanten und Kollegen, aber sonst stellte ich mir alles recht entspannt vor.

Womit ich nicht rechnete waren die Bestellungen.

Als ich diesen Bereich übernahm, erwartete ich ein paar Telefonate zu führen oder, wie in der heutigen Zeit üblich, Internetbestellungen. Was war schon weiter dabei?

Naja, ich war jung und naiv.

Die folgenden Berufsjahre sollten mich eines Besseren belehren.

Die eindrucksvollste Demonstration für die Komplexität mancher Bestellungen lieferte mir die Anlieferung des Saatguts für unsere Erbsenanzucht.

Die Bestellung verlief erfreulich einfach. Eine E-Mail an die Saatgutfirma, worauf eine nette Bestätigung vom Chef persönlich folgte, dann wartete ich.

Eine Woche später, Freitag 13:30, ich freue mich schon auf meinen Feierabend und das kommende Wochenende, läutet das Telefon.

Eine mir unbekannte Stimme nuschelt was von Erbsen, Lieferung und wohin denn? Nachdem ich all das in meinem Kopf entwirrt hatte, verweise ich auf den Zusatz in der Adresse, der eigentlich alles erklärt und noch die meisten Lieferanten ans Ziel gelotst hat.

Der Mann legt auf.

30 Minuten später, Telefon, Spediteur: „Der Fahrer ist jetzt da!“

Ich sehe mich im Labor um: Kein Fahrer und erst recht keine 300kg Erbsen.

„Wo denn?“, erkundige ich mich.

„Das weiß der Fahrer nicht so genau, irgendwo auf dem Campus jedenfalls!“

Mir fällt ein Mantra ein, das ich vor 15 Jahren bei meinem ersten und einzigen Kurs für autogenes Training gelernt habe: Wir finden unsere innere Mitte.

Ich atme tief durch.

„Was sehen sie denn in Ihrer Nähe, beschreiben Sie doch mal.“

Vielleicht lässt sich so sein Standort ermitteln.

„Moment!“

„Hallo?“

Aufgelegt!

Diesmal dauert es kaum 25 Minuten.

„Der Fahrer sagt, er steht direkt vor einer Baustelle“, präsentiert mir der Spediteur stolz seine neuste Erkenntnis. Aha!

Da der Campus Riedberg, ebenso wie das gesamte Stadtviertel dieses Namens gerade erst im Entstehen begriffen ist, ist alles um Umkreis von 1km² Baustelle. Der Mann ist wirklich eine große Hilfe. Warum habe ich bloß nicht mit dem autogenen Training weitergemacht? Ich atme tief durch. Wir finden unsere innere Mitte.

„Geben Sie mir doch die Telefonnummer Ihres Fahrers, dann kann er mir das vielleicht genauer beschreiben“, schlage ich hoffnungsvoll vor.

„Nee, geht nicht, der spricht kein Deutsch!“

„Ich kann englisch“, wende ich ein.

„Nee, auch nicht!“

„Französisch?“

In dieser Sprache bewegen sich meine Kenntnisse zwar auf Schulniveau aber ich bin verzweifelt, will in mein Wochenende und für ein bisschen ´gauche´ und ´droite´ wird es schon reichen.

„Nee, nee!“

Das erklärt immerhin, warum der gute Mann nicht einfach aussteigen und nach dem richtigen Gebäude fragen kann. Wir finden unsere innere Mitte. Ich begrabe meine Was-ich-schönes-mache-wenn-ich-Freitag-früher-gehen-darf-Pläne und rufe ein paar Leute in den umliegenden Gebäuden an, ob sie einen Lastwagen sähen, ohne Erfolg. Langsam bleibt mir nur der Trost, dass Erbsensaatgut wenigstens keine empfindliche Ware ist, und weder gekühlt noch mit Trockeneis versorgt werden muss. Also kann die Spedition zur Not am Montag einen neuen Versuch starten, vielleicht sogar mit einem, wenigstens französisch sprechen Fahrer.

Die Rettung kam dann von unverhoffter Seite.

„Da steht ein LKW vor unsere Einfahrt. Könnten das die Erbsen sein?“, fragt unser Gärtner mich, als die Leitung einmal kurz nicht durch den Spediteur blockiert ist. Tatsächlich hat der Fahrer mit seinem LKW fast zwei Stunden unmittelbar vor dem Gewächshaus gestanden, wohin er die Erbsen liefern sollte, ohne einmal sein Führerhaus zu verlassen.

Solche Geschichten passieren glücklicherweise nicht ständig, aber doch mit unerschütterlicher Regelmäßigkeit.

Vielleicht spendiert mir mein Professor ja mal einen Auffrischungskurs in autogenem Training?

Wortspiele 2.0

Heute gibt es wieder einmal einen Gastbeitrag von Maike Ruprecht. Maike beobachtet ihre Arbeitswelt in einem Labor schart und beschreibt sie genau – und da ihre saubere Arbeitswelt von meiner überkandidelten Marketingwelt extrem abweicht, finde ich ihre Kolumnen immer besonders spannend. Heute geht es um

Neues aus der Reihe „Spaß mit Katalogen“

Manche professionellen Produktbeizeichnungen sind wahre Perlen der Katalogpoesie. So klangvoll und von so bildhafter Schönheit, dass es geradezu verwerflich ist, sie ein unbeachtetes Dasein zwischen Katalogseiten führen zu lassen.

Hier meine Favoriten des letzten Jahres:

Welch wunderbarer Verkaufschlager wäre bespielsweise die Bestätigungssäule?

Man montiert sie neben seinen Pipetten und bei wie auch immer gearteten Zweifeln an Ausgang, Sinn oder Interpretation von Experimenten, Vorträgen oder Publikationen spendet sie auf Knopfdruck mit wohlmodulierter Stimme Trost und Zuversicht. So wie der Spiegel bei Schneewittchen das Ego der Königin streichelte. „Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier“. Großartiger Gedanke. Der ursprüngliche Bestätigungsauftrag der silarylenbestückten Kapillarsäule liegt übrigens irgendwo in der Umwelt- und Spurenanalytik.

Weniger verbreitet, aber nicht minder schön, die Hufnagelprägung.

Ein Begriff, der meines Erachtens in einem Katalog über Hufschmiede, Cowboys und Pferdeflüsterer heimsuchende Krankheiten weit besser aufgehoben wäre, denn als schnöde Bezeichnung eines speziellen Prägemusters für Lagenzellstoff.

Der nun folgende Begriff ist nichts für zartbesaitete Gemüter, beschwört er doch sehr unangenehme Bilder von malträtierten, ja, gemarterten Kranken herauf. Ohne jeden Zweifel fällt er unter jene Begriffe, die man ausschließlich in fachkundige Hände geben sollte, das Einstichthermometer. Ein im Grunde vollkommen harmloses Utensil zur Temperaturmessung in flüssigen, pulvrigen oder plastischen Stoffen.

Zum Schluss den allerschönsten Begriff, entdeckt in der Abteilung Kaltlichtquellen. Die Schwanenhals-Ummantelung bezeichnet ursprünglich die Verkleidung lichtleitender Glasfaserkabel, oder einfacher ausgedrückt biegsamer Lampenarme, die u.a. an Lichtquellen montiert werden können und ein bisschen an Insektenfühler erinnern.

Schwanenhals-Ummantelung. Dieser wunderschöne Begriff birgt ungeahntes Potential. Man stelle sich vor, der Wissenschaftler eröffnet das Rendezvous mit den galanten Worten :“Darf ich Ihnen Ihre Schwanenhals-Ummantelung abnehmen, meine Liebe?“. Worauf die Dame ihm ihren Schal aushändigt, entzückt von seiner Eloquenz.

Stöbert man weiter im Katalog dräut jedoch großes Unheil. Dort finden wir die Zeile: „Schwanenhälse können beliebig zurecht gebogen werden“. Grausame Bilder von Schwänen mit verknoteten Hälsen drängen sich vor mein geistiges Auge, ganz zu Schweigen vom Schicksal unzähliger junger Damen. Und was geschieht erst, wenn der laborjargonunkundige Katalogleser die nächste Ballettaufführung besucht? Arme Odette! Ein derart grausiges Ableben hat Tschaikowsky für seinen Superschwan bestimmt nicht vorgesehen.

Weihnachten kam fast zu spät, von Klaus Reiner

Die geneigten Leser mögen sich nun vielleicht fragen, wieso ich im März, einen Monat vor Ostern, mit einer Weihnachtsgeschichte um die Ecke kommen. Nun, das ist ganz einfach, vor Weihnachten konnte ich diese Geschichte meines Schreibwerksttattskollegen Klaus Reiner noch nicht ergattern. Ich musste erst etwas für ihn schreiben und ihm diese schnurrige Geschichte so abtauschen. Er hat dieses menschliche Drama übrigens bei unserer Weihnachtslesung im Café Wacker vorgetragen, und da er genauso liest, wie er schreibt, blieb dabei kein Auge trocken. Hier nun also, zur Frühlingszeit, der Bericht über eine kulinarisch arme Kindheit.

Das Weihnachtsessen, oder: Weihnachten kam fast zu spät.

Meine Mutter war keine besonders gute Köchin. Rückblickend scheint es mir eher so gewesen zu sein, dass sie sich durch ihre zweifelhaften Künste für die Weltmeisterschaft der schlechtesten Köche qualifizieren wollte.

Tagtäglich kam ich – ein zarter Erstklässler – von der Schule nach Hause in eine Küche, in der ein fieser Dunst hing. Es roch nach gekochten Karotten. Oder Spinat. Die Küche dampfte, der süße Geruch des Gemüses war der Geruch eines Hinterhaltes. Und ich sollte das Opfer sein.

Ein schwerer Dampf stieg von meinem Teller auf und ich ließ alle Hoffnung fahren. Nach zwei, drei zaghaften Bissen hatte ich schon aufgegeben.

Ich stocherte in Kohlrabi oder Schwarzwurzeln herum, die in einer Mehlschwitze versunken waren wie Todgeweihte in den Sümpfen des Grauens. Ich drehte die Kartoffeln um, um zu sehen, ob auf ihrer Rückseite vielleicht die Tür zu einem geheimen Ort sein würde. Ich könnte durch ein kleine Tür fliehen, die sich da vielleicht auftat. Ich würde vielleicht in Paris leben, wenn ich erst entkommen war, oder in New York.

Aber nein – Verrat! – die Kartoffeln gaben ihr Geheimnis nicht Preis. Also erstach ich die winzigen Bröckchen ausgelaugten Rindfleisches, nur um sie an der Gabel hin und herzudrehen und sie von allen Seiten zu betrachten.

„Iss dein Mittagessen, es wird doch kalt!“ sagte meine Mutter. Sie nahm einen Löffel voller pelziger Kartoffeln und Kohlrabipampe und stopfte sie mir in den Mund. „So und jetzt kauen und schlucken!“ Sie hatte es ziemlich klein gehackt, man musste es fast nicht mehr kauen. Manchmal mahlte sie es sogar zusammen mit dem Rindfleisch klein, weil sie dachte, vielleicht ist das Kauen das Problem. Ich gab mir wirklich Mühe es zu schlucken, aber meine Fähigkeit zu schlucken war mir verloren gegangen. Also kaute ich nur. „Kauen und schlucken, kauen und schlucken!“ Sie wiederholte dieses Mantra, um es zu meinem zu machen. „Mir ist flecht“, rief ich mit halbvollem Mund und rannte zur Toilette.

Später saß ich wieder über dem Teller und starrte auf den Stellungskrieg, der sich zwischen Kartoffeln und Kohlrabipampe entwickelt hatte. Beide saßen in ihre Schützgräben und feuerten mutlos aufeinander, dazwischen versprengte Truppen von Rindfleischstückchen. Es gab keine Hoffnung, der Winter würde kommen, und er würde allen Gemüsesoldaten den Garaus machen. Aber er würde wenigstens diesen sinnlosen Krieg beenden.

“Du stehst nicht eher auf, als bis dein Teller leer ist“ maule meine Mutter über ihre Schulter, vom Abwasch herüber. Ich gab mir wirklich Mühe. Eine Stunde später war der Teller halb leer. Der Winter war tatsächlich eingekehrt und sämtliche übrig gebliebenen Kartoffel- und Kohlrabisoldaten waren erfroren.

„Mensch, das ist doch eiskalt jetzt!“ Meine Mutter war bissig geworden. Sie riss mir den halb vollen Teller weg und kratzte den Rest in den Mülleimer.

Ein Soldatengrab.

So oder so ähnlich ging es an 363 Tagen im Jahr. Und als das Jahr um war, kam ein neues Jahr. Inzwischen hatte meine Mutter mir einen Wärmeteller gekauft. Da ließ sich heißes Wasser einfüllen, und man konnte das Mittagessen so auf fast zwei Stunden ausdehnen. Die Karotten, Kohlrabis und Kartoffeln erfroren nicht mehr auf dem Schlachtfeld. Sie hielten verzweifelt durch und waren sogar noch ein bisschen warm, wenn sie in ihrem Soldatengrab landeten.

Das perfide ist, du glaubst die Lüge! Du glaubst irgendwann, dass du eine Schuld trägst an dem täglichen Stellungskrieg von Kartoffeln und Blumenkohl. An den tragischen Schicksalen von gebackenen Eiern und Spinat. Du glaubst irgendwann, dass du beteiligt bist, an der Erschaffung der Todeszone, die sich vor deinen Augen tagtäglich auftut.

Aber es ist eine Lüge.

Denn sie können nicht kochen, das ist alles. Sie können einfach nicht kochen, aber dir und dem Rest der Welt erzählen sie, wie schlecht du doch als Kind gegessen hast, und überhaupt, dass du nicht völlig verkümmert bist, das liegt daran, dass sie dir Vitamin- und Kalktabletten und Lebertran gegeben haben.  Mein Gott!

Aber dann kam Weihnachten, und es kam fast zu spät, aber dann halt doch gerade noch rechtzeitig.  Denn an zwei Tagen im Jahr gab es Gänsebraten, am ersten und am zweiten Weihnachtsfeiertag. Und den machte mein Vater.

Ich aß nicht, ich fraß.

„Mensch, der Bub kann was verputzen!“ sagten die Verwandten.

„Mach doch langsam!“ sagte meine Mutter, „man meint ja du kriegst sonst nichts!“

Gefühlt habe ich immer die Gans völlig alleine gegessen, an Weihnachten.

Weihnachten, die Rettungsinsel für einen kulinarisch Schiffbrüchigen.

Dieses ersehnte Weihnachten, das leider viel zu selten war und dann immer so spät gekommen ist.

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(Nachtrag: Allen besorgten Lesern möchte ich nun beruhigend mitteilen, dass Klaus diese Essensmisere gut überstanden hat und auch groß und stark geworden ist.)

A neverending story – von Maike Ruprecht

Ich freue mich über einen neuen Gastbeitrag von Maike Ruprecht. Bei ihr im Labor ist immer was los. Ich glaube, eigentlich forschen sie dort an Pflanzen. Manchmal aber auch am Bodenbelag …

A neverending story

Letztes Jahr im Herbst kamen zwei Männer, betrachteten seufzend unseren Fußbodenbelag, krochen ein bisschen darauf herum, schnitten auf jeder Flurseite ein tablettgroßes Stück heraus und machten sich damit davon. Warum? Das erfuhren wir nicht. Trophäenjäger waren es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Unser Linoleum dürfte sich an der Wand einer Professorenvilla nicht besonders gut machen.

Mehrere Monate lebten wir mit zwei Löchern im Linoleum, gleichmäßig verteilt auf jeder Flurseite eines. Bis letzte Woche.

Da kam ein Handwerker und verbrachte den Tag kniend an dem auf der Büroseite gelegenen Loch. Wann immer ich vorbeikam starrte er regungslos in die Kluft. Beim dritten Mal kam mir der Gedanke, dass er sich vielleicht erst bewegt, wenn man Geld in das Loch wirft. Da in meinen Kitteltaschen aber kein einziger Cent steckte konnte ich meine schöne Hypothese  nicht überprüfen. Irgendwann musste der gute Mann aber gearbeitet haben, brachte der nächste Morgen doch eine Überraschung.

Das Loch hatte sich um das vierfache vergrößert und damit keiner in die 0,3 cm tiefe Grube hineinstürzen sollte spannte sich darüber ein Kreuz aus rotweißem Absperrband.

Gehorsam übersprangen wir fortan auf dem Weg in die Küche regelmäßig eine Distanz von annähernd einem Meter. Handwerker ließen sich in den folgenden Wochen keine blicken, somit blieb die Sprunggrube unverändert. Warum auch nicht?

Unvollendete Großbaustellen sind ja schwer angesagt zurzeit. Berlin hat seinen Flughafen, Stuttgart seinen Bahnhof, warum sollen wir nicht mit unserem Linoleumboden für Frankfurt in die Bresche springen?

Dann, eines schönen Tages,  ich saß gemütlich am Computer und glich Sequenzen ab, erhob sich auf dem Flur unvermittelt ein Gebrumm wie von einer mit einem Zahnarztbohrer gekreuzten Riesenhornisse. Zaghaft öffnte ich die Tür einen Spalt breit und linste hinaus. Ein junger Bursche fräste die Klebstoffreste vom Boden des Laborflurlochs. Im Gegensatz zu seinem vorangegangenen Kollegen legte er immensen Arbeitseifer an den Tag.

Nach einem Tag lebhaften Gebrumms waren beide Löcher nicht nur sauber ausgefräst, sie hatten auch Zuwachs bekommen. Im Laborflurlinoleum klaffen seitdem vier Löcher, alle sauber ausgefräst.

Die exponentielle Lochzunahme erinnert mich auf beunruhigende Weise an das Betragen des Nichts in Michaels Endes „Unendlicher Geschichte“. Zuerst materialisiert es sich als vereinzelte Löcher hier und da, welche sich ausdehnen, sich ganze Städte und Landstriche einverleiben und schlussendlich das gesamte phantasische Reich verschlingen. Bis auf ein Sandkorn.

Unsere Handlanger des Nichts sind bislang nicht zurück gekehrt. Sollten sie es eines Tages doch tun, erwartet uns gewiss ein ebensolches Schicksal. Zuerst wird das Büroflurlinoleum Nachwuchs bekommen, dann werden sich die Löcher Stück für Stück ausdehnen und uns alle mitsamt unseren Zentrifugen und Pipetten verschlingen.

Der Jäger der verlorenen Sätze: Markus Muth

Es ist mir eine besondere Freude, heute den wunderbaren und wundersamen Kollegen Markus Muth vorzustellen. Das Forum der eWriters wäre leer ohne ihn!

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Der Jäger der verlorenen Sätze. Der Schöne und sein Biest.

Markus Muth,

Mathematiker, ITler, Pseudophilosoph, Textjunkie und Tausendsassa, nachtschreibender Profiamateur,  querköpfiger Spontankreativist, bekennender Träumer, auf mehreren Meta-Ebenen daheim und doch in keine Schublade passend. Schreibt, um sich lizenzfrei selbst zitieren zu können.

Seine Kernaussagen:

Ein Text – egal, wie er daherkommt – hat viele Bedeutungsebenen.

Nichts ist so, wie es scheint, sondern immer ganz anders.

Seine eBooks gibt es in drei Härtegraden:

M. Muth für Einsteiger und Laienleser: 

Kurze Geschichten – Lesefutter für zwischendurch

Der seichte Einstieg in Muth’sches Geplänkel. Satzschachtelmostersperrzone.

M. Muth für Fortgeschrittene:

M.’s Traum

Verquastete Schwafelphilosophie einer durchwachten Nacht. Ideal für Liebhaber des Muth’schen Blubbermodus und Personen, die vor dem aus der Mode geratenen Gebrauch von Sekundärliteratur (sprich Lexika) nicht zurückschrecken.

M. Muth für Hartgesonnene und Unbelehrbare:

arcanum occultum

Sprachliche Kryptographie. Experimentelle Literatur. Es soll Leute gegeben haben, die im inhaltscodierten Textsumpf dieses Machwerks steckengeblieben sind, weil sie es als verbalakrobatische Kurzgeschichte missverstanden haben. Warnung! Sich mit diesem Text zu befassen, kann nachhaltige Schäden Ihrer geistigen Gesundheit zur Folge haben.

Seine Adresse:

http://www.arcanumoccultum.de/

Alle Jahre wieder, von Maike Ruprecht

ruprecht_maikeWieder möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, eine Kollegin vorzustellen: Der Jahreszeit angemessen mit einem vorweihnachtlichen Text.

Die Autorin und Kolumnistin Maike Ruprecht wurde in Norddeutschland geboren und lebt inzwischen in Frankfurt. Ihre Alltagsbeobachtungen sind immer wieder amüsant und vor allem treffend. Besonders gut zur Geltung kommen sie auf Lesungen, denn Maike trägt sie mit einer Verve vor, die ihresgleichen sucht.

Alle Jahre wieder

Sechs Wochen vor Heiligabend liegt die obligatorische Abstimmungsemail über den Ablauf der Weihnachtsfeier in meinem Postfach. Es ist jedes Jahr aufs Neue spannend, wer sich diesmal erbarmt, und die Organisation derselben übernimmt. Sollte sich keiner opfern, bestimmt der Professor kurzerhand einen Freiwilligen. Dem armen Tropf bleibt dann meist nur noch eine Woche Zeit.

Hier die diesjährigen Vorschläge aus dem WOK (Weihnachtsfeierorganisationskomitee):

–          Weihnachtsmarkt

–          Schlittschuhlaufen

–          Besinnliche Feier im Seminarraum

–          Laser-Tag

Ich stutze, lese ein weiteres Mal. Warum nur muss ich plötzlich an diese „Welcher-Begriff-passt-nicht-zu-den-anderen“-Rätselfragen denken?

Laser-Tag? Zu Weihnachten?

Ich kann mir schwer etwas vorstellen das, von den zahlreichen bunten Lichtern mal abgesehen, weniger zum Fest der Liebe passt als mit einem Phaser bewaffnet in einer spärlich beleuchteten Arena von Deckung zu Deckung zu huschen, und dabei mittels Laserstrahlen meine Kollegen abzuknallen. Jeder Treffer wird durch die kurzzeitige Deaktivierung ihrer Spielerweste angezeigt und nach ein paar Sekunden darf der so Gestorbene dann wiederauferstehen. Wem das fünfmal widerfährt, der muss an seine Ladestation zurückkehren, um dort die ultimative Reinkarnation durch rechargen seines Phasers zu zelebrieren.

Berücksichtigt man den christlichen Hintergrund der ausstehenden Festlichkeit, müsste man Laser-Tag demnach nicht eher zu Ostern spielen?

Die Mehrheit meiner abstimmenden Kollegen scheint gleichgültig ob dieser theologischen Problematik, Laser-Tag gewinnt die Wahl mit vier Stimmen Vorsprung.

Mit was für Banausen arbeite ich eigentlich zusammen, die an solch grundlegende Dinge keinen Gedanken verschwenden?

Was wäre passender für unsere Weihnachtsfeier? Etwas, dem festlichen Anlass angemessenes zu ersinnen, was gleichzeitig die Zustimmung der Kollegen findet, ist alles andere als einfach. Für die Aufführung eines Krippenspiels dürfte der Impact-Faktor um den relativen Nullpunkt liegen.

Vielleicht ein Kompromiss aus beidem?

Laser-Tag in weihnachtlicher Aufmachung? Christkindlein mit Flügelchen, die mit Apfel, Nuss und Mandelkern bewaffnet, in tief verschneiter Arena, zwischen dunklen Tannen Jagd auf Weihnachtsmänner machen?

Auch nicht so ganz der Geist der Weihnacht.

Am besten mache ich es wie meine Kollegen und ignoriere derartige Feinheiten. Schließlich besteht auch die Möglichkeit, dass Manche dafür gestimmt haben weil es Spaß macht oder sie es, ganz unabhängig vom Anlass, einfach mal ausprobieren wollen.

Ich bin eine davon.

Robert Maier und seine Geschichte „Der große Häwelmann“

Robert_sRobert Maier schreibt seit einigen Jahren hauptsächlich Kurzgeschichten. Er bewegt sich in seinen Texten gerne in unterschiedlichen Genres und fühlt sich in Krimis und Science Fiction genauso wohl wie in sozialkritischen Glossen und Mystischem. Ständige Bestandteile seiner Geschichten sind Fantasie und Humor.
Roberts Protagonisten heißen zumeist Frank – warum, weiß er selber nicht. Auch der faule Student in seinem Roman mit dem Arbeitstitel „Müsli-Man“, für den Robert derzeit einen Verleger sucht, trägt diesen Namen. Der Roman bietet einen gut beobachteten Blick auf die alternative Szene des Jahres 1981 und einen Studenten, der von der Polizei für einen RAF-Terroristen gehalten wird.

Der große Häwelmann

Frank war hundemüde und konnte nicht einschlafen. Mit einer Bierdose aus der Minibar neben seinem Bett zappte er sich durch die Kanäle des fremden Fernsehers.

Irgendwelche Leute spielten Poker, bis Frank mehrere Kanäle weiterschaltete. Aufgeregte CNN-Reporter berichteten live und großspurig vom Ort irgendeines Geschehens. In China ist ein Sack Reis umgefallen, ging es Frank durch den Kopf. Er trank das Bier leer. Alkohol machte ihn müde, aber wenn er dann endlich eingeschlafen wäre, müsste er aufs Klo. Wieder schaltete er um und fand sich inmitten eines Fußballspiels wieder. Fußball interessierte ihn, die 2. Dänische Liga aber nicht. Er ging aufs Klo.

Dann kuschelte er sich wieder in sein Hotelbett. Zwei nackte Frauen in einem Whirlpool machten eindeutige Gesten, sagten offensichtlich Schweinskram auf Dänisch und wollten, dass er sie anrief. Danach machte eine halbnackte Sekretärin mittleren Alters unanständige Bewegungen. Sie wollte ebenfalls angerufen werden. Frank schaltete um. Der italienische Sender, der in jedem Hotel zu empfangen war. Blonde Models mit monumentalen Oberweiten schwadronierten und plapperten auf Italienisch.

Frank machte doch noch ein Bier aus der Minibar auf.

Er hatte gerade einen russischen Sender eingeschaltet, als er den Mond bemerkte. Ein strahlend heller Vollmond schaute in sein Fenster hinein und schien ihm freundlich eine gute Nacht zu wünschen. „Gute Nacht“, gab Frank zurück und prostete dem Mann im Mond zu.

Als Frank wieder in den Fernseher schaute, fühlte er sich beobachtet. Der Mond hörte nicht auf, ihn anzusehen. Was wollte er von ihm? Es gehörte sich nicht, Leuten einfach ins Fenster zu gucken. Wieso überhaupt waren die Vorhänge nicht zugezogen? Frank war sich sicher, dass er das getan hatte, als er in sein Hotelzimmer gekommen war.

„Prost, alter Mond“. Der Mond antwortete nicht, aber das hatte Frank auch nicht erwartet. Stattdessen schien das Zimmer plötzlich in ein unwirkliches silbriges Licht getaucht. Das künstliche Flimmerlicht des Fernsehers war verschwunden. Erstaunt sah Frank auf die Fernbedienung in seiner Hand. Er hatte doch gar nicht gedrückt. Misstrauisch sah er zum Mond herüber, der nach wie vor freundlich aber hartnäckig zum Fenster hereinsah und mit seinen Lichtstrahlen das Hotelzimmer ausleuchtete.

„Was hast du gemacht, alter Mond?“

Frank musste verrückt geworden sein. Er sprach mit dem Mond.

Er drückte einen Knopf auf der Fernbedienung. Der Ruck kam so plötzlich, dass er mit dem Kopf rückwärts auf dem Kissen landete. Sein Bett hatte sich bewegt! Vorsichtig schaute Frank nach unten. Das Bett hatte Rollen. Aus irgendeinem Grund war es ein Stück von der Wand weggerollt, aber warum so plötzlich und gerade jetzt?

Der Mond schaute ihn an. Abwartend.

„Hast du das gemacht, alter Mond?“

Er hatte schon wieder mit dem Mond geredet.

Er drückte eine Taste der Fernbedienung, um den Fernseher anzumachen. Es passierte aber etwas völlig anderes.

Franks Bett setzte sich abermals in Bewegung. Es fuhr wie auf einer Rampe auf den größten der silbernen Mondstrahlen auf, war im Nu durchs geschlossene Fenster hindurch und schwebte sanft auf den Parkplatz vor dem großen Hotel hinab.

Frank fand sich im Bett zwischen abgestellten Autos wieder und starrte verblüfft den Mond an.

„Was hast du gemacht, alter Mond?“

Schon immer hatten Menschen ein Gesicht im Mond gesehen. Frank hatte es aber noch nie so deutlich erkannt wie in diesem Augenblick. Der Mond hatte das Gesicht einer großmütterlichen alten Frau.

„Mond, du bist eine Frau?“

„Natürlich bin ich eine Frau.“

Frank war zusammengezuckt, als der Mond plötzlich zu sprechen anfing.

„Die ganze Welt weiß, dass ich eine Frau bin. Auf Spanisch heiße ich ‚La Luna‘, auf Französisch ‚La Lune‘ – nur in wenigen Ländern wie Deutschland glaubt man, ich sei männlich.“

Der Mond eine Mondin. Und eine sprechende dazu.

„Und wieso bin ich jetzt mit meinem Bett auf einem Parkplatz gelandet?“

„Das hast du ganz alleine gemacht“, sagte der Mond – die Mondin – mit einem gütigen Frau-Holle-Lächeln. „Die Fernbedienung“, setzte sie hinzu, als Frank sie verständnislos anschaute.

Tatsächlich. Das Bett hatte immer dann etwas gemacht, wenn er auf die Fernbedienung gedrückt hatte. Frank versuchte die Taste mit der Aufschrift „TV“.

Das Bett mit Frank darin begann wieder den Mondstrahl entlang in die Höhe zu rollen, immer höher, bis es vor einem der Fenster im obersten Stockwerk des Hotels in der Luft schwebend zum Stehen kam. Einen Moment starrte er verdutzt in das leere Hotelzimmer vor ihm, dann wurde ihm klar, dass er wieder eine Taste auf der Fernbedienung drücken sollte.

Kaum hatte er das getan, öffnete sich die Badezimmertür und eine Frau betrat das Zimmer. Offensichtlich vom Duschen gekommen, begann sie sich mit einer Lotion einzucremen. Allem Anschein nach war sie sich nicht bewusst, dass direkt vor ihrem Fenster ein Bett mit einem Mann darin schwebte, und was Frank besonders gefiel, sie war völlig nackt.

„Leuchte alter Mond! Leuchte!“ rief Frank in seiner Begeisterung. Er hatte die Frau erkannt, mit der er noch am Abend in der Hotelbar einen Flirt begonnen hatte, aus dem aber letztlich nicht mehr geworden war.

„Hast du noch nicht genug?“ fragte der Mond.

Die Frau war wieder im Bad verschwunden, und Frank drückte eine weitere Taste.

In wilder Fahrt ging es durch die nächtlichen Straßen der Stadt. Frank rüttelte an parkenden Autos, dass die Alarmanlagen ein riesiges Spektakel begannen, kniff einer vorbeigehenden Dame in den Po, raste dann mit dem Bett durch ein vornehmen Restaurant, wo er einem ebenso verdutzten wie ehrwürdigen älteren Herrn das Sektglas klaute, und parkte anschließend sein Bett auf dem Giebel der höchsten Kirche der Stadt.

„Hast du noch nicht genug?“ fragte der Mond, der ja eigentlich eine Mondin war.

„Nein“, schrie Frank und begann sein Bett gegen die Glocken zu stoßen, bis das lauteste Stadtgeläut ertönte, das sonst nur zur Heiligen Nacht zu hören war.

„Und jetzt will ich noch höher“, schrie Frank und sein Bett begann die Mondstrahlen nach oben zu rumpeln, immer schneller und immer höher, bis die Erde unter ihm sich zu krümmen begann und Kontinente und Ozeane sichtbar wurden. An der Raumstation ISS klopfte er mehrmals gegen die Scheiben, bis die Astronauten aufgeregte Funksprüche an die Bodenstationen absetzten.

„Hast du noch nicht genug?“ fragte der Mond.

„Und jetzt will ich auf den Mond“, schrie Frank, ohne darüber nachzudenken, gegenüber wem er diesen Wunsch äußerte. Die gutmütige Mondin ließ ihn aber trotzdem auf ihrer Oberfläche herumtollen und sah stirnrunzelnd zu, wie er Steine in die Mondkrater warf und wie ein Känguru umherhüpfte.

Als er die Landestelle von Apollo 11 entdeckt hatte und begann, die zurückgelassenen Gerätschaften umzuwerfen und die ersten Fußstapfen der Menschheit im Mondstaub zu verwischen, platzte der Mondin der Kragen:

„Pfui Teufel“, rief sie und schaltete ihr Mondlicht aus, sodass Frank im Dunkeln stand.

Vorsichtig tastete er sich in sein Bett zurück und dachte nach. Er war mitten in einer Gutenachtgeschichte gelandet, die er manchmal seinen Kindern vorlas: Der kleine Häwelmann. Verdammt, wieso musste ausgerechnet ihm immer so etwas passieren!

In Theodor Storms Kindergeschichte nervte der kleine Junge Häwelmann den Mond so lange, bis der ihn in seinem Rollenwagen durch die Stadt und später in den Himmel führte. Dabei machte der Häwelmann durchweg nur Blödsinn und wurde schließlich von der Sonne in hohem Bogen ins Meer geworfen.

Frank wusste, wie nun seine eigene Geschichte enden würde. Die Sonne würde aufgehen – bestimmt ein Sonnerich – und ihn erbost in die Nordsee, den Atlantik oder ein anderes der sieben Weltmeere katapultieren. Das würde er nur schwerlich überleben. Ob er noch mal versuchen sollte, mit der Mondin zu reden? Die war ja wirklich ganz schön sauer. Aber wieso musste sie auch ohne Vorwarnung das Licht ausmachen und abhauen?

Er hatte gerade beschlossen, sich auf der Rückseite des Mondes vor der Sonne zu verstecken, als ihn ein heller Lichtstrahl traf.

„Junge“, rief die Sonne und blickte ihn mit ihren glühenden Augen an „was machst du hier in meinem Himmel?“

Frank fiel sehr lange, bevor er in den Ozean stürzte, lange genug, um darüber nachzudenken, dass der Himmel von Frauen regiert wurde, dass nämlich beide, Mond und Sonne, weiblich waren, und nicht nur keinen Sinn für Humor hatten, sondern auch noch völlig überzogen in ihren Reaktionen waren. Das letzte, woran er dachte, war: „Wieso haben sie nichts gesagt?“

Dann dachte er nichts mehr.

Er brauchte eine Weile, bis er begriff. Das Hotelzimmer. Das Bett. Die Frau. Nicht sein Hotelzimmer. Nicht sein Bett. Nicht seine Frau.

Die darf das nie erfahren, dachte er, als er sich auf Zehenspitzen davonstahl.

Er schlich nackt den Hotelkorridor entlang. Niemand sah ihn, nur der Mond schaute durch ein Fenster hinein.

An der Tür zu seinem Zimmer angekommen dachte er für eine lange Schrecksekunde, er hätte seinen Schlüssel vergessen, fand ihn aber sogleich in dem Kleiderbündel, das er an sich gepresst hielt.

Nachdem er die Gardinen vor dem strahlenden Vollmond zugezogen hatte, fiel er in sein Bett.

Was für ein Albtraum!

C. A. Raaven

Christian

C.A. Raaven – oder auch einfach Christian: Der humorvolle Berliner ist Autor des Jugendbuches „Bat Boy“. Er ist Self Publisher und engagiert sich verstärkt in diesem Bereich:  Im Frühjahr 2013 wurde er einstimmig zum ersten Vereinspräsident der eWriters gewählt.

Die „Schuld“ daran, dass er neben seinem kaufmännischen Beruf das Schreiben für sich gefunden hat, gibt er einer Mrs. McCaffrey, die mir bis dato unbekannt war. Er beschreibt den Vorgang so:

„Es gibt auf dieser Welt ja eine Unmenge von Drachengeschichten. Aber unter all diesen ist mir die Serie der Drachenreiter von Pern – und dort speziell dieser Band – besonders ans Herz gewachsen, denn er hat etwas bewirkt, was ich selbst nicht für möglich gehalten hätte.

Es war damals Anfang der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als ich zufällig beim Stöbern in meiner Lieblings-Buchhandlung auf die Reihe stieß. Ich war damals bevorzugt auf der Suche nach mehrteiligen Geschichten und sofort davon beeindruckt, dass der erste Band im Jahr 1967 erschienen war und der damals letzte Band gerade erst Ende der Achtziger.

Ich fing sofort an, die Bücher zu verschlingen, die mich in die ferne Welt Pern mit ihren vernunftbegabten Drachen entführten. Dann kam ich schließlich zur „Drachendämmerung“ und erlebte quasi einen Kulturschock, denn anstatt der mir inzwischen altbekannten vielschichtigen Fantasy-Geschichte mit ihren liebgewonnenen Charakteren, befand ich mich plötzlich mitten in einer Science-Fiction-Story, die die wahre Herkunft der Menschen von Pern und der Wesen, die sie als Drachen bezeichneten, schilderte. Und dann brach die Geschichte auch noch mitten in der Handlung ab, als es gerade richtig interessant zu werden versprach. Eine Frechheit, wie ich fand.

Zuerst glaubte ich an ein fehlerhaftes Buch, aber ein erneuter Besuch im Buchhandel zeigte mir, dass sämtliche vorhandenen Exemplare genau dort aufhörten, wo meines mich im Stich gelassen hatte. Sofort machte ich mich auf die Suche nach weiteren Bänden – eine Suche, die ohne das Internet, wie wir es heute kennen, ziemlich schwierig war: Fehlanzeige.

Dieser Umstand ließ mich Wochen und Monate lang nicht los. Schließlich kam ich auf die Idee, selbst eine Fortführung der Handlung zu schreiben, um meinem Hirn ein Ventil zu gönnen.

Die von mir verfassten Seiten wurden wenig später von einer Bekannten gelesen, die zu meinem großen Erstaunen sofort danach eine weitere Fortsetzung orderte.

Zwar kamen dann wenig später doch einige weitere Bände der Reihe heraus, so dass mein „Projekt“ obsolet wurde, aber der erste Schritt war getan.

Heute stehe ich kurz davor, meinen ersten Roman als eBook zu veröffentlichen.

Also danke Mrs. McCaffrey – auch wenn sie es nicht mehr lesen können. Sie haben mich vom Konsumenten zum Produzenten gemacht.“ (C. A. Raven)

Danke, Christian, dass auch du in mein Gästezimmer eingezogen bist! Und die Sache mit dem eigenen Roman hat inzwischen ja auch geklappt…

Mehr über Christian und „Bat Boy“ erfahrt ihr hier: http://www.c-a-raaven.de/Raavens_Welt/Willkommen.html

Marlies Lüer

Marlies_PortraitMarlies ist eine tolle Autorenkollegin, die ich bei den eWriters kennenlernen durfte. Sie schreibt Romane, Märchen und Fantasy und mag all diese Genres gleichermaßen. Sie veröffentlicht bei Amazon/KDP als so genannte Indie-Autorin. Erhältlich sind von Marlies Lüer bislang vier Bücher als EBooks.

Marlies ist ein gebürtiges Nordlicht, lebt jedoch seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Baden Württemberg.

Mehr über Marlies erfahrt Ihr auf ihrer Webseite http://www.silberworte.de

Der Anderwelt-Schöpfungsmythos

Erzählt von Fearghas, Midirs Sohn (und Marlies Lüer)

Vor langer Zeit, es mögen zehntausend Erdenjahre vergangen sein, waren Menschen und Tuatha de Danan EIN Volk. Sie waren die Kinder Danus, der Großen Mutter. Es kam eine dunkle Zeit über das Volk, denn die Dämonen Zwist und Hader schlichen sich in die Welt, um die Seele des Volkes zu vergiften.

Brudermord war das finstere Kind von Zwist und Hader. Die Tuatha de Danan fürchteten um ihre Existenz, denn die Menschen waren stärker als sie, erfüllt von Wildheit und auch Blutdurst. Das Feenvolk Tuatha zog sich in seiner Angst zurück ins Sommerland, auf die große Insel Avalon. Auf langen Booten, die sie aus Ebereschenholz schnitzten, überquerten sie das große Meer. Der Schutzgeist der Insel nahm sie gütig auf und verbarg das weinende Volk, indem er rund um die Insel Nebel aufsteigen ließ. So waren sie vor den Augen der Menschen verborgen.

Verfolger und Dämonen verirrten sich im Nebel, und viele kamen darin um, weil sie den Weg hinaus nicht mehr fanden. Die Kinder Danus aber fanden Frieden und Glück in ihrer neuen Heimat, die wahrlich ein Paradies war. Es gab dort keine Jahreszeiten. Immerzu trugen Bäume und Büsche Blüten und Früchte. Obwohl der Nebel, geformt wie eine Kuppel, die Insel verbarg und auch Sonne, Mond und Sterne nicht mehr zu sehen waren, hatte das Volk stets genug Licht, denn die Magie der Insel leuchtete ihnen allezeit. Auf der Insel waren zahlreiche Süßwasserquellen, das Wasser war angefüllt mit wilder Magie. Und so erlernten die Alten und Weisen des Volkes den Umgang mit der Magie, denn sie war ein Teil von ihnen geworden. Der Inselschutzgeist selbst gab ihnen Unterricht. Was sie lernten und all ihre magische Kunst, gaben sie gewissenhaft weiter an ihre Kinder und Kindeskinder. Und auch diese handelten so für ihre eigenen Kinder und Kindeskinder. Bald schon war ihnen nichts mehr unmöglich. Sie formten die Insel mit Magie und Imagination nach ihren Wünschen, erschufen sogar neue Kreaturen! Dadurch, dass sie so stark und mächtig im Geiste wurden, Generation für Generation, veränderten sich dort sogar die Gesetze der Natur. Die Zeit verlief fortan auf der Insel und in ihrer unmittelbaren Umgebung anders als im Rest der Welt. Die Erde drohte dadurch zu zerreißen! Schwere Beben, Wirbelstürme und Sintfluten erschütterten den Planeten in seinen Grundfesten. Unzählige Menschen und Tiere verloren ihr Leben.

Dagda und Danu, Allvater und Allmutter, sahen dies mit großer Sorge. Sie beschlossen, um alle miteinander zu retten, das Sommerland vom Rest der Erde zu trennen und schoben die Insel behutsam in eine andere Dimension. So kam der Planet wieder zur Ruhe und das Leben in all seinen Facetten wuchs und gedieh aufs Neue.

Die Völker aber, einst Brüder und Schwestern, waren nun getrennt  und entwickelten sich gemäß ihrer Art fort und unterschieden sich sehr. Die Tuatha de Danan bekamen die Aufgabe zugewiesen, all die Devas und Elementargeister, die für die irdische Flora und Fauna zu sorgen hatten, in ihrer so wichtigen Arbeit zu unterstützen mit der Energie der wilden Magie Avalons. Die Menschen hingegen waren dazu auserkoren, das Paradies, das die Erde damals war, zu hegen und zu pflegen. Auch waren sie große Träumer und erschufen Großes und brachten viel Neues in die Welt, im Einklang mit Natur und Kosmos. Doch war diese Entwicklung nicht von Dauer. Irgendwann begann, zunächst unmerklich, der Raubbau an der Natur und neue Dämonen schlichen sich in die Herzen und Geister der Menschen.

Darum gestatteten Danu und Dagda, dass sich dann und wann ein Tor zwischen den Dimensionen öffnete, damit die Abgesandten Avalons die Lehrer der Menschen sein konnten. Doch im Nebel hatten dereinst die sterbenden Dämonen ihre ganze Bosheit als letzten Gruß aus der Unterwelt hinterlassen. Jeder Elb, jede gute Fee, die durch das Tor gingen, verwandelten sich während des Überganges in ein Fabeltier oder einen Hybriden. Anstelle von weisen Lehrern bekamen die Menschen Besuch vom Minotaurus, von einäugigen Riesen oder Harpyien und anderen schrecklichen Wesen. Nur sehr selten gelang es einem Bewohner Avalons in seiner eigenen Gestalt über die Erde zu wandeln, um die Menschen von ihrem schädlichen Tun abzuhalten. Denn obwohl Erde und Avalon in verschiedenen Dimensionen ihre Heimat haben, so sind sie doch in ihrem Schicksal innig miteinander verbunden.

Stirbt ein Teil der Erde, so stirbt ein Teil Avalons. Und wenn einst Avalon im Anderland zugrunde gegangen ist, wer soll dann die Devas der Flora und Fauna nähren, wer die Elementargeister stärken?

Dann wird die Erde mit ihren Bewohnern auf sich selbst gestellt sein. Avalons Tod ist der Tod aller.

Mögen Allvater und Allmutter dies zu verhindern wissen!