Merkwürdige Dinge: Nesteldecke und Nestelstulpen

Vor einer Weile kam über die Facebook-Gruppe, mit der ich für Charity-Projekte stricke, eine merkwürdige Anfrage rein: Ob wohl jemand ein paar Nestelstulpen, auch Nestelmuffs genannt, stricken könnte? Oder auch Nesteldecken? Ich war ratlos: Nestel-was? Wieso, weshalb, warum?

Die Auflösung ist einfach, einleuchtend und irgendwie traurig: Die Anfrage kam von einer Dame, die eine Demenzstation leitet. Dort gibt es Menschen, die unruhige Hände haben und die ganze Zeit herumsuchen und -fummeln. Einige kratzen und kneifen sich auch. Ihnen hilft es, wenn die nervösen Finger auch etwas zum Fummeln finden, also Knöpfe, Ösen oder sonstiges Kleinzeug, an dem sich herumspielen lässt. Auch unterschiedliche Strukturen beschäftigen sie. Deshalb gibt es spezielle Decken und Tücher, die kleine Elemente enthalten, an denen man herumgreifen kann. Die kann man für viel Geld kaufen oder auch selber machen. Eine schöne Sache, auch um Wollreste und Mutters alte Knopfbestände zu verarbeiten. Nachdem ich einen Haufen helle Wolle, für die ich bislang keine bessere Idee gehabt hatte, zu Rollstuhl- und Nesteldecken verarbeitet hatte, widmete ich mich also diesen ominösen Stulpen.

Mit meinen großen Beständen an Sockenwollresten, Knöpfen und Bastelkram zum Annähen wurde die Sache ein Selbstläufer – es macht wirklich Spaß, diese Dinger herzustellen. Damit sie auf jeden Arm passen, nehme ich 64 Maschen. Ich ziehe irgendwo ein Bändchen ein, an dem man herumspielen kann, mit dem sich die „Armsocke“ aber auch etwas enger machen lässt, damit sie zierlichen Personen nicht dauernd herunterfällt. Perlchen werden gleich mit eingestrickt, aber nur auf der Oberseite – es soll ja nicht unangenehm sein, wenn der Arm irgendwo aufliegt.

Alles in allem denke ich beim Stricken der Stulpen recht viel nach. Viele Leute, die heutzutage alt sind, haben noch Arbeitskleidung getragen – also kommen Papas alte Uniformknöpfe (von der Bahn) mit zum Einsatz. Etwa ein Drittel der heutigen Demenzpatienten sind Männer – und die tragen vielleicht lieber gedecktere Farben. Und die Stulpen sollen irgendwie symmetrisch sein. Das ist allerdings mein eigener Geschmack – MICH würde es stören, wenn die Elemente willkürlich angeordnet wirken. So bekommt also auch mein Kopf etwas zu tun, wenn ich mich dieser wirklich befriedigen Art der Resteverwertung widme. Die Wertschätzung, die dafür von der Projektorganisatorin zurückkam, tut da noch ein Übriges.

 

Covid und das große Müde …

Zwei Monate Blogpause – das gab es seit 2013 noch nie bei mir! Aber wie es eben so geht: Manchmal geht einfach nix.

Da fuhr ich doch Anfang Oktober frohgemut in den Urlaub an die Ostsee. Das Wetter war prächtig, meine Laune war es auch.

Leere Strandkörbe im Herbstlicht

Unterwegs nach Niendorf

Ich hatte ein hübsches kleines Hotel direkt am Timmendorfer Strand gebucht, hüpfte jeden Morgen früh aus dem Bett, frühstückte ausgiebig im fast leeren Frückstücksraum und stiefelte dann los. Es war noch so warm, dass man den ganzen Tag draußen sein konnte – angenehm zu Zeiten einer noch immer herummarodierenden Pandemie. Durch die viele Bewegung – ich ging auch jeden Abend noch schwimmen – fühlte ich mich fit und jung, gerade so, als sei ich höchstens 49.

Blick auf die Ostsee. Im Vordergrund allerhand Grünzeug.

Irgendwo auf der Promenade

So verging meine Woche viel zu schnell. Schon am Freitag war ich etwas wehmütig, so dachte ich zumindest, und konnte mich nicht mehr so recht motivieren. Das Schwimmen habe ich geschwänzt. Am Samstag fand ich meinen Koffer zu schwer und im Zug begann ich zu husten. Zuhause machte ich einen Covid-Test und der zeigte sofort – nach 30 Sekunden – einen dicken roten Strich. Fehlte nur noch, dass er geklingelt hätte. Hallo Corona, mein Name ist Meike.

Wie zu erwarten, war ich die beiden Wochen danach ziemlich im Eimer, auch wenn es alles in allem sicherlich ein milder Verlauf war. Aber diese Müdigkeit! Ich glaube, ich habe in meinem Erwachsenenleben noch nie so viel geschlafen.

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Eule im Vogelpark Niendorf. Ich habe bessere Fotos gemacht dort, aber dieses erscheint mir hier passend.

Inzwischen habe ich mich einigermaßen berappelt, aber zum Schreiben fehlte mir bislang jegliche Lust und Inspiration. Also habe ich Pause gemacht und mich mal wieder an die Verarbeitung meiner Wollberge gemacht. Socken, Tücher, dit und dat – all das wanderte letzte Woche in einem großen Karton an das Charity-Projekt, bei dem ich mitmache. Auch diese kleinen Gesellen hier, die den heutigen Post versöhnlich abschließen sollen:

gestrickte Schnecken und Trompetenschnüffler

Schön ausgedrückt – Wir und Sie

Lange ist’s her, doch heute gibt es mal wieder ein paar Gedanken zur Sprache. Wir und Sie – das sind zwei kurze Wörter mit sehr großer Macht.

Wir und Sie

„Wie können wir das zulassen?“, fragt der betroffen dreinblickende Schauspieler, der in einem TV-Spot um Spenden bettelt. „Wir brauchen eine einsatzbereite Bundeswehr“, sagt der bierbäuchige Stammtischler, der selber viel zu alt ist, um sich in eine Uniform zu zwängen und in irgendeinem Land durch die Wüste zu rennen. „Wir können uns einen höheren Mindestlohn nicht leisten“, behauptet der Lobbyist, der selber noch nie mit weniger als dem fünffachen des Mindestlohns auskommen musste. Wir, das schafft Nähe, das macht gleich. Zumindest soll es das.

Das genaue Gegenteil des kumpelhaften „Wir“ ist das Distanz schaffende „Sie“, umgangssprachlich gerne verkürzt auf „se“. „Da hinten ham‘ se eingebrochen“, oder auch „den Müll schmeißen se ja doch immer neben die Tonnen“. „Se“, das sind die Schlimmen, die Unanständigen. Die, mit denen „wir“ auf keinen Fall in einen Topf geworfen werden wollen. „Se“, das sind „die“, also die anderen, die außen vor dem „wir“ stehen.

„Und dann wollen se alle nicht arbeiten“, sagen die, die ganz genau wissen, wie die so ticken, die anderen, die nicht dazugehören. Es ist ein einfaches Spiel, das da gespielt wird von den Aufrechten, von denen mit dem guten Blick und der Menschenkenntnis: Die da draußen, die sind nicht wie wir. Die spielen bei uns nicht mit.

Heute vor 80 Jahren

… wurde meine Mutter Ursel geboren. Sie war die Tochter von Gerhard Friedrich und Erna sowie die große Schwester von Claus und Rita.

Familie am Weihnachtsbaum

Weihnachten mit der Familie, etwa 1956

Als Kriegskind verbrachte sie die ersten Jahre nur mit ihrer Mutter. Die Zeiten waren schwierig,  aber meine Oma Erna war eine echte Löwin und brachte ihr Kind allen Widrigkeiten zum Trotz durch.

Die Mädchenjahre verbrachte Ursel zum großen Teil in der Schloßstraße in Rastede, und zwar in der Wohnung, in der ich später so oft meine Großeltern besucht habe. Anfangs wohnte die Familie beengt in zwei kleinen Zimmern in der unteren Etage, konnte später aber oben zwei Zimmer und einen großen Dachboden dazu mieten. Um in die oberen Zimmer zu gelangen, musste man lange über eine Außentreppe gehen – das hat mich als Kind total fasziniert.

In der Teenagerzeit engagierte meine Mutter sich sehr in der neuapostolischen Kirche. Dort hatte sie auch Gelegenheit, Geige spielen zu lernen. Mit 14 musste sie von der Schule abgehen, obwohl ihr aufgrund von Krankheit – sie hatte eine angeborene Hüftfehlstellung – zwei Jahre fehlten. Sie begann zunächst als Kindermädchen und Haushaltshilfe zu arbeiten und besuchte nebenher eine Haushaltsschule. Später arbeitete sie in einer Fabrik, die Einlagesohlen für Schuhe herstellte.

Mädchenchor mit Geigerin

Und dann ging meine Mutter in einem roten Kleid auf eine Hochzeit, wo sie meinen Vater kennenlernten. Es funkte nicht sofort, aber durch Zufall trafen sie sich wieder, mochten sich und wollten zusammen in den Urlaub fahren. „Das gehört sich nicht!“, fand meine Oma Erna, und so wurde zuerst geheiratet. Viele Jahre später fragte ich meine Mutter, wie sie es denn gefunden hätte, wenn ich mit 22 einen 12 Jahre älteren Witwer hätte heiraten wollen, den ich erst ein paar Wochen kenne. „Verrückt“, antwortete sie.

Auf Hochzeitsreise reisten meine Eltern nach Freilassing, wo sie Boot und Bergbahn fuhren, wanderten und mein Vater meiner Mutter das Schwimmen beibrachte.

Ursel wurde Mutter zweier Töchter: 1966 wurde meine wunderbare Schwester Ilka geboren, 1970 folgte ich. Man beachte: Das Bild mit der Familie im Wasser entstand im August 1970 auf Borkum. Da war ich schon da, aber ich durfte nicht mit! Die haben mich einfach bei Oma und Tante Rita gelassen! Da hatte ich es bestimmt gut, aber eifersüchtig bin ich doch! 😉

Immer, wenn ich darüber nachdenke, fällt mir auf, was für eine gute Ehe meine Eltern führten. Die haben sich auch mal gestritten, wegen irgendwelchem Kleinkram wie „Sollte man wirklich ein Gerüst basierend auf einer 40 Jahre alten Schranktür bauen und da noch eine Trittleiter draufstellen?“ oder „Isst man Bohnensuppe mit dem Löffel oder einer Gabel?“, aber sie waren doch immer rücksichtsvoll und einander zugewand.

Mein Vater starb 2002 an Krebs. Da war meine Mutter ebenfalls schon sehr hinfällig, ihre Multiple Sklerose machte sie zunehmend unbeweglich. Ihre letzten Jahre verbrachte sie in einer kleinen Einliegerwohnung bei meiner Schwester, wo sie von Ilka und ihrer Familie liebevoll umsorgt wurde. Ich fuhr hin, so oft ich konnte. In Frankfurt besuchte sie mich mit meiner Schwester tatsächlich auch zwei Mal, bereits im Rollstuhl sitzend. Das war immer etwas abenteuerlich, denn meine kleine Wohnung war dafür nicht wirklich geeignet.  Dort, wo ich jetzt wohne, ginge das besser, aber diese Wohnung konnte sie leider nur noch auf Bildern ansehen.

Über den Dächern von Frankfurt

Im Oktober 2014 war Uschis Weg zuende. Was bleibt, sind viele schöne Erinnerungen. Die Leidenschaft für’s Handarbeiten wurde mir von ihr und Oma Erna vererbt, und ich habe die beste Schwester der Welt (hier zu sehen 1976).

Zwei fremde Leben

Vor zwei Wochen hatte ich ein Erlebnis, das gleichzeitig schön, aber auch merkwürdig und irgendwie verstörend war: Ein Freund von mir hatte gemeinsam mit seiner Mutter ein Haus geerbt. Es hatte zwei hochbetagten Leuten gehört, die vor einigen Jahren verstorben waren. Dieses Haus wurde nun verkauft, und zwar so, wie es war – unrenoviert und mit Inhalt. Die Käufer hatten kein Interesse an den vielen Sachen im Haus, sodass der Freund uns vorschlug, mal durchzugehen und zu gucken, ob wir etwas haben möchten. Wäre ja gut, denn dann würde nicht alles weggeschmissen. Schön, dachte ich, das ist ja wie ein „Flohmarkt für umsonst“. Ich freute mich darauf und überlegte, dass ich vielleicht eine schöne Kaffeekanne gut gebrauchen könnte.

Zu fünft betraten wir also das fremde Haus. Ich glaube, wir Gäste waren alle ein bisschen aufgeregt, denn obwohl wir die früheren Bewohner nicht kannten und es keinerlei emotionale Bindung an das Haus und dessen Inhalt gab, hatten wir doch das Gefühl, in zwei fremde Leben einzudringen. Dementsprechend verhalten begannen wir, uns umzusehen. Zögernd wurden erste Schranktüren geöffnet. Alle hatten wir mal gelernt, dass man bei fremden Leuten nicht in die Schränke glotzt – das musste man erst mal loswerden. Wir teilten uns auf – zu dritt sahen wir uns unten um, die Herren begannen aus irgendeinem Grund mit dem Dachboden. Anfangs spähten wir immer gemeinsam in jeden Schrank, erst langsam begannen wir, auch Sachen herauszunehmen und genauer anzugucken. Jeder suchte sich eine Ecke auf einem Tisch, um das Häufchen der „will ich haben“-Sachen dort abzulegen.

Was wir fanden, war in erster Linie Geschirr. Kaffeeservice, Teeservice, Gläser – ich glaube, die Hausbewohner hätten eine Kaffeetafel für 60 Personen ausrichten können, ohne irgendwo Geschirr auszuleihen. Schnell fand ich eine hübsche Kaffeekanne. Und dann noch eine. Und noch eine. Eine Freundin nahm eine Teekanne – auch zu dem Set gab es eine hübsche Kaffeekanne. Ich zeigte ihr eine andere Teekanne – auch die fand sie schön. Unsere Stapel wuchsen. Ein schöner Kuchenteller mit Rosenmuster – hinreißend altmodisch. Eine gut dazu passende Tortenplatte – ganz entzückend. Die andere Freundin fand ebenfalls einen Tortenteller – hübsch gemustert in einem sonnigen Gelb.

Schallplatte, abgebildet Wim, Wum und Wendelin

alte Bekannte – solche Platten hatte meine Oma auch

Vieles versetzte uns mit Schwung zurück in die 70er und 80er Jahre. Erstaunlicherweise war Etliches original verpackt und offensichtlich nie benutzt worden – elektrische Bratenmesser, Brotmesser mit Scheibendickeneinsteller (mindestens zwei), etwa 15 Brotkörbe. Auch Anderes gab es in so großer Zahl, dass wir es kaum fassen konnten – was macht man denn mit mindestens 100 Untersetzern in dekorativen Schachteln? Und wie viele Spülbürsten verbraucht man Zeit eines Lebens? Warum bevorratet man so etwas? Das gute Tafelsilber lag bunt gemischt mit billigstem Besteck, wie es auf Kaffeefahrten verteilt wird, in der Lade. Ganze Bestecksets waren noch original verpackt – teils hochwertig, teils aus scharfkantigem gepresstem Blech. Zierliche Mokkasets, wie unbenutzt, und Gläser aus verschiedenen Dekaden – alles war so überreichlich vorhanden, dass man gar nicht wusste, wo man hingucken sollte. Denn im ersten und zweiten Stock ging es ähnlich weiter: von allem viel, oft so gut wie neu. Selbst im zweiten Stock fand ich noch einen Geschirrschrank, den ich aber nur kurz öffnete und dann aufgab – zu unübersichtlich war die darin aufgestapelte Masse.

Auch Andenken gab es, die wir nur ansahen, wenn sie uns direkt vor die Finger fielen. So lag auf einem Tisch eine Kinokarte aus dem Jahr 1960. Woanders sahen wir eine Postkarte, die auf 1943 datiert war. Foto- und Andenkenalben gab es ebenfalls, aber die sahen wir kaum an – das Gefühl, zu tief in die Privatsphäre fremder Menschen einzudringen, war dabei zu stark.

Am meisten beeindruckte mich jedoch die Küche: Denn hier sah man, wie das Paar, abseits von Sammelwut und Vorratsdenken, gelebt hat. Und das war anscheinend bescheiden. In den Küchenschränken befand sich einfaches, viel benutztes Geschirr. Angeschlagene Kaffeebecher und Senfgläser für die kalten Getränke. Das in den Wohnzimmerschränken war offensichtlich „für gut“ gewesen und geschont worden. Ähnlich kenne ich das von meinen Verwandten, die auch alle „das gute Geschirr“ in den Wohnzimmerschränken gehabt hatten.

alte Küche mit Blumen an den Fliesen und HähnchengrillNachdem wir unsere geplanten zwei Stunden durch das Haus gegangen waren, sichteten wir die gesammelten Werke auf den Wohnzimmertischen. Ich stellte drei Viertel wieder zurück, und so machten es auch die anderen. Nicht, weil es nicht schön gewesen wäre, sondern weil wir es nicht brauchten. Weil auch unsere Schränke schon voll genug sind und wir nicht in der Masse ertrinken wollen, wie es diesen beiden alten Menschen anscheinend passiert ist. Ich nahm eine Kaffeekanne und noch ein paar Sachen, ließ aber die Tortenteller zurück – ich habe zwei, und nie habe ich mehr als zwei Kuchen, die ich gleichzeitig anbieten müsste. Auch zwei Spülbürsten – originalverpackt – nahm ich mit. Doch ich widerstand dem Nähkasten und der Schachtel mit den vielen Rollen Nähgarn in Rottönen – so viele Knöpfe kann ich gar nicht basteln. Auch meine Freunde wählten jeweils nur einige Sachen, sodass wir später zu viert mit all unseren Schätzen in ein kleines Auto passten.

Dieser Nachmittag hat mich sehr beschäftigt und bewegt. Es war doch etwas ganz anderes als ein normaler Flohmarkt. Ich glaube, so tief war ich noch nie im Leben zweier völlig Fremder. Und ich hoffe, dass noch einige der im Haus angehäuften Sachen einen Abnehmer finden. Vielleicht kann ein Sozialkaufhaus noch etwas gebrauchen, oder die neuen Besitzer haben Spaß daran, einiges auf dem Flohmarkt oder bei Ebay zu verkaufen. Aber es ist schwierig – die Mengen im Haus sind so groß und unübersichtlich, noch dazu ist es teilweise so voll, dass man sich kaum bewegen kann. Wenn man das sortieren will, braucht man wirklich Zeit.

Laffeekanne mit blauem Muster und Saftkaraffe

Ein Teil meiner Ausbeute

Nachtrag: Ich wüsste gerne, wie es einmal sein wird, wenn mein Haushalt aufgelöst wird. Ob es mein Neffe sein wird, der durch die Wohnung streift und sich darüber wundert, was die Tante alles angesammelt hat? Oder gebe ich selber mal alles weg, um in ein Zimmerchen in einem Altenheim zu ziehen? Es ist wohl zu früh, darüber nachzudenken, aber nicht zu früh, um mal wieder auszusortieren – wehret den Anfängen!

Nachtrag 2: Ja, ich weiß, auch ich habe zu viel von allem. Besonders Bastelsachen und Wolle reichern sich bei mir an. Aber ich habe meinen Gelüsten nachgegeben und dem Freund, der uns eingeladen hat, am Tag nach der Hausbegehung eine Nachricht geschrieben: Ob er mir wohl doch noch das Nähkörbchen und die Schachtel mit den Garnrollen sichern könnte? Er kann! 🙂

Lieblingsgedicht

Vor einigen Tagen wurde darüber berichtet, dass sich der Vorsitzende der AfD, Tino Chrupalla, in einem Interview mit einem Kinder-Reporter der Kindernachrichtensendung „Logo“ nicht mit Ruhm bekleckert habe. Er erklärte dem Jungen, dass in den Schulken wieder mehr über deutsches Kulturgut, insbesondere auch Volkslieder und Gedichte gelehrt werden solle. Als der aufgeweckte Junge dann nach seinem Lieblingsgedicht fragte, fiel ihm keines ein. Also gar keines. Immerhin benannte er als Lieblingsdichter dann Heinrich Heine, was ebenfalls zu Erheiterung in den sozialen Netzwerken führte. Ich habe mich zwar mit Heine noch nicht sooo sehr beschäftigt, weiß über ihn aber genug, um einem Politiker dieser grässlichen Partei gerade diese Neigung nicht so recht abzunehmen.

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Aber darum soll es hier eigentlich gar nicht gehen. Diese Debatte brachte mich selber dazu, darüber nachzudenken, welches Gedicht und welchen Dichter ich eigentlich gesagt hätte. So einfach finde ich das gar nicht. Ohne dass ich diesen Politiker verteidigen möchte, wäre mir zuerst wahrscheinlich auch nichts Gescheites eingefallen, außer vielleicht die fade Made von Heinz Erhard oder „Ein kleiner Hund mit Namen Fips“ von Christian Morgenstern. Das war das erste Gedicht, das wir in der Schule gelesen haben, in der 2. Klasse. Damit hätte ich mich in der Öffentlichkeit sicherlich zum Affen gemacht.

Nach einigen Sekunden des Nachdenkens wäre bei mir aber wohl ein bisschen was gekommen. Mein liebster Dichter ist Rilke, und als erstes Gedicht von ihm fiel mir spontan „Der Panther“ ein. Das haben wir früh in der Schule gelesen und schon damals fand ich, dass da viel drinsteckt. Als ich heute jedoch in meinem Rilke herumwühlte, fand ich eines, dass mir eigentlich schon immer besonders gut gefallen hat – dieses hier:

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Das Gedicht ist inzwischen rund 120 Jahre alt, die Zeiten und die relevanten Diskussionen haben sich natürlich geändert. Doch derzeit entbrennen täglich viele tausend Diskussionen um Sprache und darum, was die Sprache bewirkt. Mir begegnen zunehmend Personen, die meinen, alles zu wissen, und sich anderen gegenüber als Sprachpolizei aufführen. Ich gebe mich da ja immer recht hartleibig, weil ich der Einschätzung Einzelner, die zu wissen glauben, wie alle anderen empfinden (müssen), nicht so recht traue. Rilkes altes Gedicht scheint mir nach wie vor aktuell zu sein, wenngleich es inzwischen vielleicht weniger um die Entzauberung der Dinge als um die Definition von Zuständen geht.

Dieses Gedicht wurde übrigens auch im von mir so geliebten „Rilke-Projekt“ der Musiker Richard Schönherz und Angelica Fleer interpretiert. Das macht ausgerechnet der unselige Xavier Naidoo. Nun, noch kann ich Kunst vom Künstler trennen und finde, das ist wirklich gut gemacht.

Ich freue mich auf dich!

„Backen ist Liebe“, so begann einmal der Slogan einer Margarine-Firma. Ich fand und finde den großartig, kann sich doch jeder genau vorstellen, wie es ist, nach Hause zu kommen und den Duft von frisch gebackenem Kuchen in die Nase zu kriegen. Die Küche, wohlig warm durch einen eingeschalteten Backofen, auf dem Tisch ein frischer, gut geratener Napfkuchen und eine Kanne heißer Tee – einladender kann eine Szenerie kaum sein. Ohne Zweifel, Gerüche und Geschmack schaffen Geborgenheit.

Dieses Gefühl lässt sich auch bewusst hervorrufen: Zum Beispiel, wenn man allein und ein bisschen kränklich zuhause abhängt, sich selbst ein wenig bemitleidet und einem plötzlich wieder einfällt, dass es an solchen Tagen zuhause oft Milchsuppe gab – Nudeln in Vanillemilch. Der cremige Geschmack und der vertraute Geruch bewirken, dass man sich gleich ein bisschen besser fühlt, nicht mehr so alleine ist. Oder die Hühnersuppe, die es immer bei Erkältungen gab. Die Variante aus der Tüte ist sicher nicht so lecker wie die der Mutter, taugt aber zur Sinnestäuschung und zum Anregen der positiven Erinnerungen. Zumindest bei mir funktioniert das immer noch.

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So in etwa sehen die Frikadellen meiner Schwester aus. Bild von Pixabay

Mit einem Lächeln denke ich an die Zeit gleich nach meinem Auszug von zuhause zurück: Es hatte mich von Norddeutschland nach München verschlagen. Dementsprechend selten konnte ich meine Eltern besuchen. Die Anfahrt lohnte sich nicht für ein Wochenende und war auch viel zu teuer. Wenn ich dann aber anrief und mein Kommen ankündigte, kam immer die gleiche Frage von meiner Mutter: „Was möchtest du denn dann gerne essen?“ Das war ihre Art, mir zu sagen, dass sie sich auf mich freut und mir etwas Gutes tun möchte. Ich wünschte mir dann immer Dinge, die ich nicht so wie sie kochen konnte und wahrscheinlich auch nie kochen können werde: Ihre unvergleichlich guten, fluffig-würzige Frikadellen, das Hühnerfrikassee mit Spargel in der Soße und Suppe vorweg oder Heringsstipp mit Pellkartoffeln, den ich so, wie sie ihn machte, nie wieder irgendwo gefunden habe. Es gab so viel, was nur meine Mutter so besonders gut kochen konnte. Und wenn ich dann kam, verbrachten wir alle miteinander schöne Stunden in der vertrauten Küche, in der es nach Kindheit roch. Im Radio dudelte NDR 1, Verkehrsmeldungen warnten vor dem Stau auf der A1 Heide Richtung Hamburg, es gab Tee und es wurde viel gelacht. Diese Zeiten sind lange vorbei, aber die guten Erinnerungen daran bleiben und werden immer wieder reaktiviert, wenn ich Zwiebeln anbrate, viel zu heiße Kartoffeln pelle, Ostfriesentee trinke oder irgendwo einen alten Schlager höre.

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Napfkuchen von Pixabay

Inzwischen kann ich selber recht gut Hühnerfrikassee machen, aber die Frikadellen meiner Schwester schmecken um Klassen besser als meine und halten vor allem auch besser zusammen. In ein paar Wochen sind wir alle geimpft, dann werde ich sie endlich wieder besuchen. Wir haben schon darüber gesprochen, was wir dann essen wollen: Vielleicht Milchnudeln. Oder einen traditionellen Eintopf. Vielleicht backe ich auch mal was. Denn Backen ist Liebe.

Makkaroni mit Mockturtle – in Omas Küche

Wieder mal eine Hausaufgabe, dieses Mal aus dem Kulinarik-Workshop: Es ging um ein Lebensmittel, das für uns untrennbar mit etwas verbunden ist. Einige Schreibkollegen entwickelten hier fantasievolle Geschichten, ich blieb irgendwie in meiner Erinnerung hängen und musste im Nachhinein feststellen, dass ich über dieses Essen tatsächlich schon mal geschrieben habe – wenn auch in einem anderen Zusammenhang. Das war im Jahr 2013! Nun ja – ich mag es halt einfach gerne 🙂

Makkaroni mit Mockturtle – in Omas Küche

Ich bin hoch im Norden aufgewachsen, genau genommen im Ammerland. Kulinarisch geht es dort deftig zu, Grünkohl mit Pinkel ist wohl das Bekannteste, was dort auf den Speiseplan gehört. Ebenfalls wichtig sind Kartoffeln – wenn es in den 70er Jahren zwei Tage nacheinander keine Kartoffeln zu essen gab, startete der typische Ammerländer einen Protestfeldzug und klagte gar fürchterlich. Nudeln, von uns Kindern schon damals heiß geliebt, galten allgemein als ungesunde Dickmacher und Reis war etwas, von dem man generell nicht leben konnte. Nun ja – die Milliarden von Asiaten hatte man dazu wohl nicht befragt.

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Kartoffeln – Bild von Pixabay

Es gab zuhause also nur selten Nudeln zu essen. Oma war da offener. Bei ihr gab es selbst an hohen Feiertagen schon mal Spiralnudeln zum Gulasch, und weil sie von aufbrausendem Temperament war, wagte es nicht mal mein Vater, dagegen aufzumucken. Und wenn wir Kinder bei Oma waren, was relativ oft der Fall war, gab es sogar Spaghetti oder, noch häufiger, lange Makkaroni. Und zu diesen Makkaroni gab es eine Ammerländer Spezialität, die eher schwierig zu beschreiben ist. „Dat is wat Kleinfleisch in Soße“, so beschrieb es einmal eine Touristin, die den Mut besessen hatte, dieses eigentlich als Suppe gedachte Gericht zu bestellen und nun ratlos vor dem dicken, dunkelbraunen Zeug saß. Ursprünglich ein Seefahrergericht und als Ersatz für Schildkrötensuppe gedacht, gab es diese Suppe in meiner Kindheit oft auf Familienfeiern, dann mit einem dreieckig halbierten Toastbrot. Was genau drin ist, habe ich nie erforscht, und ich will es auch eigentlich gar nicht wissen. Was ich aber weiß ist, dass Makkaroni mit Mockturtle für mich für immer untrennbar mit Omas Küche und viel Spaß verbunden sein wird.

Omas Küche war alt, der Boden bewegte sich ein bisschen, wenn man über das Linoleum lief. Jeder hatte seinen festen Platz – Oma saß vor dem Küchenbuffet, Opa links davon, meine Schwester vor der Spüle und ich auf der kleinen Bank mit dem Kunstlederbezug, der eine karierte Prägung hatte, die ich unzählige Male mit meinen Fingern nachgemalt habe.

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Aus den Wikipedia Commons: Mockturtle_Wilfried Wittkowsky. Irritierenderweise mit Klößen …

In Omas Küche sah es immer mal wieder anders aus als bei uns, wo es immer pingelig sauber war. Wenn sie kochte, arbeitete sie schwungvoll und „mit weiter Streuung“, wie mein Vater zu sagen pflegte. Das bedeutete nichts anderes, als dass von einem geschnittenen Kohl ein nicht unerheblicher Teil auf dem Boden landete, Mehl seinen Weg über Tisch und Schränke fand und sich je nach zubereiteter Speise überall ominöse Fingerabdrücke wiederfanden. Sie trug stets eine Kittelschürze, und die zeigte jedem aufmerksamen Beobachter genau das Menü des Tages.

Bei Oma zu essen war anders als zuhause, denn bei ihr ging es deutlich weniger streng zu, was die Tischmanieren anging. Sie war halt auch nicht dazu verpflichtet, uns zu erziehen – Omas haben eine andere Rolle. Bei ihr durfte man Tee aus der Untertasse trinken und die Makkaroni mit der Soße einschlürfen. Selbst, wenn man versuchte, diese Nudeln ordentlich zu essen, saute man sich unweigerlich ein. Es gibt eigentlich keinen logischen Grund dafür, ausgerechnet diese unpraktischsten aller Nudeln zu kaufen. Es war wohl so, dass Oma selbst Spaß an diesen unförmigen Dingern hatte, und Opa machte stoisch mit und schnitt sich seine Portion in mundgerechte Stückchen. Das tat Oma bei uns übrigens irgendwann auch, aber immer erst, wenn wir schon alles vollgesaut hatten.

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Es hätte durchaus praktischere Alternativen zu den Makkaroni gegeben – Bild von Pixabay

Natürlich ferkelten wir nicht bei jeder Mahlzeit so herum, aber es gab immer wieder übermütige Stunden, in denen wir in Omas Küche Dinge taten, die wir zuhause niemals gedurft hätten. Kirschkernspucken zum Beispiel – eine Beschäftigung, bei dem Omas ausladendes Dekolletee das Ziel darstellte. Oder Kaugummiblasen machen, bei dem beide Großeltern mitmachten und sich dabei ganz fürchterlich an einem Konglomerat aus Hubba Bubba und dritten Zähnen verschluckten. Dabei wurde viel geschimpft, viel gelacht und irgendwann, wenn man erschöpft zur Ruhe kam, wurde der alte Boiler über der Spüle angeschaltet und nochmal Tee gemacht, um wieder zu Kräften zu kommen.

Kirschkernzielspucken habe ich schon lange nicht mehr gemacht und auf Hubba Bubba stehe ich auch nicht mehr so. Meinen Tee trinke ich nun brav aus der Tasse, was auch daran liegt, dass ich gar keine Untertassen mehr benutze. Aber Mockturtle kaufe ich immer noch. Ich esse sie nicht mehr mit Makkaroni, schließlich muss ich meine Kleidung inzwischen selbst waschen. Aber noch immer, wenn ich die Dose öffne und mir der leicht katzenfutterartige Geruch in die Nase steigt, fühlt sich der Boden unter meinen Füßen an wie Linoleum auf einem Holzboden und ich fühle mich sehr zuhause. Und das, obwohl mein Zuhause inzwischen schon seit vielen Jahren nicht mehr das flache, ländliche Ammerland, sondern Frankfurt am Main ist. 

Ich würde so gern mal wieder …

Eine Aufwärmübung aus dem Schreibworkshop: Was würden wir gerne mal wieder tun, was fehlt uns derzeit? Wie immer habe ich das genommen, was mir als allererstes in den Sinn kam – waren ja auch nur 12 Minuten Zeit! Und das war es:

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Flohmarktsschätze

Ich würde so gerne mal wieder über einen Flohmarkt laufen. Flohmärkte sind das, was mir in Sachen Freizeitgestaltung zu Corona-Zeiten am meisten fehlt. Nicht, dass ich dringend etwas bräuchte, ganz im Gegenteil. Ich habe eher zu viel als zu wenig. Und ich kaufe auch zumeist gar nichts, wenn ich über so einen Markt laufe. Es geht mir mehr ums Gucken und Staunen, manchmal auch Lachen. Oft mache ich Fotos, wenn ich etwas besonders Schönes oder Lustiges sehe, und küre dann anhand dieser Bilder auf meinem Blog das „Objekt des Tages“. Wenn ich nicht allein, sondern mit einer Freundin unterwegs bin, ist es zumeist noch schöner, denn wir machen uns im bunten Gewusel gegenseitig auf Dinge aufmerksam. Natürlich bleiben wir auch mal am Bratwürstchenstand hängen. Unvergessen ist auch der Flohmarktbesuch mit einem Freund, bei dem wir gerade mal eine Reihe Stände schafften, dann ein Bier tranken, oder vielleicht waren es auch zwei oder fünf, und währenddessen von einer Dame und ihren beiden sturzbetrunkenen Begleitern über den Anbau von Tomatenpflanzen aufgeklärt wurden. Als wir den Getränkestand verließen, räumten die letzten Händler gerade ihre Schätze zusammen. Obwohl die Zeit so verblüffend schnell herumging, war es ein schöner, ausgefüllter Tag. Es geht mir nämlich gar nicht so sehr um das Kaufen und Verkaufen auf dem Flohmarkt, wenngleich das natürlich schön ist, sondern mehr um das Drumherum.

Das Drumherum ist es auch, was mir bei der Schnäppchenjagd im Internet fehlt. Wenn man etwas bei ebay kauft oder verkauft, fällt das ja leider flach. Kürzlich habe ich ein paar Dinge dort verkauft und ja, es kam Geld rein und ich hatte einen wirklich netten E-Mailverkehr mit einem Klaus aus Nordrhein-Westfalen. Aber das ist nicht dasselbe. Mit Klaus hatte ich kein Bier, nicht mal eine Brezel, und zusammen gelacht haben wir auch nicht. Ich würde gerne einmal wieder mit fremden Leuten auf einem Flohmarkt lachen. Das fehlt mir.

Der Winter meines Lebens

Derzeit ist Winter – ganz eindeutig, In Frankfurt wird mal wieder mit Schnee gegeizt, aber einige Teile Deutschlands haben ordentlich was abgekriegt. Und wie so oft, wenn sich in Deutschland Schnee zeigt, wird viel über das Wetter gesprochen, es werden Vergleiche und Parallelen gezogen zur großen Schneemasse im Winter 1978/79. Ja, das war wohl für viele eine echte Katastrophe, die meisten Erwachsenen fanden es überhaupt nicht lustig und gerade in Ostdeutschland nahm dieser Wintereinbruch wohl katastrophale Ausmaße an. Ich aber empfand das damals ganz anders: Für mich war es der Winter meines Lebens.

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Ich war acht Jahre alt, als in den Weihnachtsferien 1978 das Unfassbare über uns hereinbrach. Meine Cousine Anne war zu Besuch (im Tausch war meine Schwester bei Cousine Heike) und wir wurden wach, weil irgendwelche fremd klingenden Geräusche durch das Haus klangen. Wir standen auf und guckten raus – Schnee! Und so viel! Das hatten wir komplett verschlafen! Die Geräusche kamen daher, dass meine Mutter erfolglos versuchte, irgendeine unserer Haustüren zu öffnen. Alle drei Türen – Vordertür, Terrassentür und die der Garage – waren so hoch zugeschneit, dass die Türen sich nicht öffnen ließen. Was für eine Aufregung! Mein Vater turnte also zum Küchenfenster hinaus, um eine Schaufel zu holen und zumindest eine Tür freizubuddeln. Ich wollte gleich hinterher, wahrscheinlich in Schlafanzug und Hüttenschuhen, was ich nicht durfte. Das prangere ich heute noch an, auch wenn es aus Sicht meiner Mutter natürlich verständlich war. Wir mussten frühstücken, uns waschen und anziehen, während Papa schippte. Und dann waren wir nicht mehr zu halten, wir wollten nur noch raus. Tatsächlich stapften wir durch den hohen Schnee zu Oma Erna, der wir irgendwas mitbrachten, das wir auf unseren Schlitten gelegt hatten. Ich weiß nicht mehr, was es war, aber die Aufregung, den Spaß, das spüre ich noch heute.

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Die nächsten Tage waren toll. Anne durfte etwas länger bleiben, weil meine Eltern unnötige Autofahrten vermeiden wollten. Wir waren draußen, spielten, tobten, bauten. Natürlich waren auch die Nachbarskinder dabein und auch meine Schwester, die irgendwann wieder gegen die Cousine eingetauscht wurde, war noch nicht zu groß, um mitzumachen. Ich kann mich an Schneekugeln erinnern, aus denen wir Schneemänner bauen wollten, die dann aber versehentlich so dick wurden, dass keiner sie mehr aufeinander heben konnte. Die überall beim Räumen zusammengeschobenen Schneehaufen wurden erklettert, ausgehöhlt, berutscht. Wir rodelten am Bahndamm – wo auch sonst sollte man in Norddeutschland rodeln, wenn nicht am Deich oder am Damm? Der Schnee blieb in den Rippen der Cordhosen hängen und durchnässte alles, sodass man sich mehrmals am Tag umziehen musste. Abends waren wir total kaputt. Es war einfach großartig! Ich lächle nach innen und außen, wenn ich daran denke und darüber schreibe.

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Ich glaube, ein wichtiger Grund, dass ich diese tollen Erinnerungen an diesen Schneewinter habe, liegt darin, dass wir Kinder laufen gelassen wurden. Wir durften stundenlang spielen, uns vom Haus entfernen, ohne dass uns unsere Eltern immer auf den Hacken gehangen hätten. Daran musste ich heute denken, als ich irgendwo las, wie schade es doch sei, dass die Kinder gerade so viele Hausaufgaben hätten und gar keine Zeit zum Rodeln wäre. Ich saß fassungslos da und dachte nur „Hallo? Spinnt ihr? Prioritäten?“ Ganz ehrlich, Hausaufgaben können die Kinder irgendwann mal machen, dafür ist jetzt keine Zeit. Jetzt, in diesen Tagen, wenn endlich mal Schnee ist, müssen die spielen. Alle Eltern sollten ihren Kindern diese Erinnerungen gönnen – gerade in diesen Zeiten, die so schwierig sind. Es ist schon schade genug, dass die Kinder nicht wie wir damals in großen Horden herumrennen können zur Zeit. Aber mit Hausaufgaben sollte man diese wenigen wertvollen Wintertage nicht verplempern.

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Anmerkung 1: Leider gibt es keine Fotos von mir in diesen Schneemassen. Von heute habe ich auch keine Winterbilder. Ich habe aber kürzlich, als ich in meinen Fotoalben herumsuchte, die hier im Beitrag enthaltenen Bilder gefunden und sie heute kurzerhand abfotografiert. Sie entstanden in dem Gebiet, dass früher direkt hinter unserem Haus anfing, wenn man über den Graben gehüpft war: eine Menge Felder und Wiesen, ein bei Schietwetter echt matschiger Weg und ein kleines Wäldchen, „Töpkens Busch“. Als Kinder sagten wir „wir gehen ins Moor“, wenn wir mit anderen Kindern zusammen loszogen, um irgendwo dort zu spielen und Stunden später total dreckig und mit vollgelaufenen Stiefeln wieder heimzukommen. Diese Bilder entstanden allerdings nicht bei einer Gummistiefeltour, sondern bei einem Spaziergang mit meinem Vater im Januar 1996.

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Anmerkung 2: Man möge mir meine despektierlichen Äußerungen über Hausaufgaben verzeihen, ich weiß, viele Leute halten die für nützlich. Ich gehöre nicht dazu und habe selber auch ab der Mittelstufe nur noch wenige davon gemacht. Ich glaube nicht, dass es mir geschadet hat, aber darüber kann man natürlich geteilter Meinung sein.