Die Guten kommen wieder

Noch einmal etwas Märchenhaftes. Irgendwie habe ich es ja immer mit dem Tod. Dieses Mal begegnet er uns in Gestalt einer jungen Frau – denn wer sagt, dass Tode immer große, gruselige Kuttenträger sein müssen?

Die Guten kommen wieder

Es war einmal eine alte Frau mit Namen Elise. Die hatte vor fünf Jahren ihren Mann verloren und trauerte noch immer. Jeden Tag ging sie zum Friedhof und setzte sich auf die kleine Bank gegenüber dem Grab, um ihm nah zu sein. Eines Tages setzte sich eine junge Frau zu ihr. „Ich hoffe, ich störe Sie nicht?“, fragte sie und Elise schüttelte den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht. Ich bin nur hier, weil ich sonst nichts zu tun habe und auf diese Weise meinem Hans nah sein kann.“ Die Frau nickte verständnisvoll. „Ja, das kann ich gut nachvollziehen, Ich finde auch, dass Friedhöfe etwas besonders Magisches haben. Eine Kraft, die einen auftanken lässt. Es gibt eigentlich nur einen Ort, der noch stärkere Kräfte hat, und das sind Spielplätze.“ Elise lächelte, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf. „Spielplätze? Da war ich nur sehr selten mal. Mein Mann und ich hatten leider keine Kinder.“ Die junge Frau berührte die Ältere ganz kurz am Arm. „Ich weiß“, sagte sie, „ich kenne Ihre Geschichte.“ Überrascht sah Elise sie an. „Sie wissen Bescheid über uns? Wie denn das?“ Die junge Frau zuckte leicht die Achseln. „Nur das, was sich herumspricht. Dass Sie Ihren Johannes schon als Kind kennengelernt haben, Sie einander liebten, aber aus familiären Gründen nicht heiraten durften, beide zuerst unglückliche Ehen mit anderen Partner hatten und sich dann wieder getroffen haben. Ich finde es so wunderschön, dass Sie ihr Glück doch noch gefunden haben.“ Elise sah versonnen vor sich hin. „Ja, das stimmt alles. Erstaunlich, was die Leute so über einen wissen. Man kann sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen, wie sehr die Familien uns damals unter Druck gesetzt haben, die Finger voneinander zu lassen. Zuerst waren wir nicht stark genug. Aber dann, nach diesem ungeheuren Zufall, der uns wieder zusammenbrachte, konnte uns nichts mehr trennen. Bis auf der Tod, natürlich.“ Beide schwiegen eine Weile.

Friedhof

„Wie war er denn?“ fragte die junge Frau schließlich und Elises Lächeln machte ihr altes, faltiges Gesicht jung und wunderschön. „Er war einzigartig. Warmherzig und zuverlässig, außerdem ein echter Schlingel, auch im Alter noch. Sein spitzbübisches Grinsen hat sich nie verändert. Er hatte noch so viel von dem Schulbuben an sich, der mich getröstet hat, als ich an meinem ersten Schultag Angst hatte und weinte. Er war ja sechs Jahre älter als ich. Trotzdem bemutterte er mich ein bisschen, auch wenn die anderen Jungen über ihn lachten und ihn eine Glucke nannten. Er hatte einfach ein gutes Herz.“ „Das klingt schön, wie Sie über ihn sprechen“, sagte die junge Frau. „Trotzdem denke ich, dass Sie den Tipp mit dem Spielplatz einmal versuchen sollten. Er ist gleich bei Ihnen in der Nähe, wenn Sie durch den kleinen Park laufen.“ Elise versprach, es sich zu überlegen. Sie saßen noch ein wenig beieinander, bevor die junge Frau sich verabschiedete und irgendwo zwischen den blühend bepflanzten Gräbern verschwand.

Der nächste Tag brachte strahlendes Frühsommerwetter. Elise war früh fertig mit ihrer Hausarbeit und beschloss, von dem Gang zum Friedhof tatsächlich einmal durch den Park zu schlendern und nach dem Spielplatz zu sehen. Als sie sich ihm näherte, sah sie die junge Frau auf einer Bank sitzen und den Kindern beim Spielen zusehen. Aus einer Laune heraus kaufte sie am Kiosk zwei Eis am Stiel und ging auf die Bank zu. „Da sind Sie ja wieder“, rief die junge Frau erfreut und bedankte sich für das Eis. „Das ist ja nett von Ihnen!“ Gemeinsam aßen sie und beobachteten das Gewimmel auf dem Spielplatz. Es waren mindestens ein Dutzend Kinder, stellte Elise fest, und gemeinsam lachten sie ein paar Mal laut auf, wenn eines der ganz Kleinen drollig über den Rasen kugelte. Als ein kleiner Junge sich nicht die Rutsche hinunter traute und ein etwas Größerer ihm gut zuredete, jubelten sie beide laut, als der Kleine sich irgendwann mutig abstieß und unten in der Sandgrube landete. „Das hätte mein Hans auch gemacht“, bemerkte Elise mit Blick auf den größeren Jungen, der etwa fünf Jahre alt war und mit den anderen Kindern friedlich spielte. Ab und zu lachte er laut oder warf den auf der Bank sitzenden Frauen ein spitzbübisches Lächeln zu. „Er ist wie Hans“, durchfuhr es sie und sie sah zur Seite zu ihrer Bekannten. Die nickte nur. „Ja“, sagte sie. „So funktioniert das. Die Guten kommen wieder.“ Elise war so erschüttert, dass sie nur noch Augen für den Jungen hatte. Sie bemerkte nicht einmal, dass die Frau neben ihr einfach verschwand.

Elise ging von nun an fast jeden Tag auf den Spielplatz. Sie erfuhr, dass der kleine Junge Johannes hieß und ein echter Lausbub war – manchmal frech, aber nie böse. Er half den Kleineren und schützte einen Igel vor den Angriffen eines Pudels. Und wenn er lächelte, sah Elise ein anderes, älteres Gesicht vor sich: faltig, aber doch jungenhaft.

Als der nächste Frühling kam, fühlte Elise, dass ihre Kräfte rapide schwanden. Sie war müde und antriebslos. Eines Tages kam sie morgens kaum aus dem Bett. „Was ist das denn?“, wunderte sie sich und dachte „Geht so Sterben?“ Sie wehrte sich nicht groß gegen den Gedanken, denn mit 85 Jahren zu sterben fand sie nicht schlimm. Und so erledigte sie mühsam alles, was noch zu tun war, leerte ein letztes Mal die Mülleimer, fegte raus und wischte kurz durch die Waschbecken. Dann zog sie sich etwas Bequemes an und legte sich auf das Sofa. Im Sessel neben ihr saß die junge Frau, die sie schon kannte. „Da sind Sie ja wieder“, sagte dieses Mal Elise und die Frau zwinkerte ihr zu. „Ja, da bin ich. Und dieses Mal habe ich Ihnen etwas mitgebracht.“ Sie zog eine große Glaskugel hervor und hielt sie Elise direkt vor das Gesicht. Die sah hinein. Man sah ein junges Paar über einen Parkplatz laufen, er mit schnellen, aufgeregten Trippelschritten, sie mühsam und gebückt, die Hände an den Bauch gepresst. „Die Guten kommen wieder“, sagte die junge Frau und nickte Elise aufmunternd zu. „Ein paar Stunden wird es wohl noch dauern, aber sehr schwer wird diese junge Mutter es nicht haben.“ Beruhigt legte Elise sich in ihr Kissen, zog die Wolldecke hoch bis zum Kinn und entspannte sich. Atmen, immer nur Atmen, mehr gab es nicht zu tun. Und irgendwann brauchte es auch das nicht mehr.

„Atmen, atmen, Sie schaffen das!“ Und ja, mit einer letzten Kraftanstrengung der jungen Schwangeren war es endlich geschafft. Noch war sie erschöpft, und ihr Mann war der Ohnmacht näher, als er es sich je hatte träumen lassen. Doch dann blickten sie gemeinsam glücklich auf ihre lang ersehnte Tochter, die klein, warm und verschrumpelt auf den Bauch der Mutter gelegt worden war. Sie nannten sie Ella.

Der Tod trägt einen bunten Kittel

Wir waren mal wieder lesen, mein Schreibgrüppchen und ich. Der Titel lautete „Kischalarm“ und wir waren mit viel Spaß bei der Sache. Ich beschäftigte mich mit unbekanntem Terrain – und glaube nun endlch verstanden zu haben wie das läuft mit Leben und Sterben. Denn:

 

Der Tod trägt einen bunten Kittel

Tod, Sensenmann

Bild zur Verfügung gestellt von Manwalk (Manfred Walker), http://www.pixelio.de

Klaus räkelte sich wohlig in seinem Fernsehsessel. Er hatte Lust, sich eine Zigarette anzuzünden, doch da er vor zwei Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte, waren keine da. Er griff stattdessen zur fast leeren Weinflasche und ließ den kleinen Rest in sein Glas tröpfeln. Immerhin zwei Schlucke würden es noch sein, dachte er und hielt das Glas so, dass die wunderbare dunkelrote Farbe des edlen Tropfens im Licht der Stehlampe leuchtete. Aaaahhhh, was für ein Genuss.

Es klopfte an der Tür. Klaus sah verwundert auf die Uhr – halb elf. Wahrscheinlich wieder ein Nachbar, dessen Parkplatz in der Tiefgarage zugeparkt war – das passierte ständig. Und fast genauso häufig rannte der um seinen Parkplatz Betrogene dann durchs Haus und klingelte bei allen Nachbarn, um den Übeltäter zu finden und das fehlgeparkte Auto entfernen zu lassen. Klaus sollte sich ein Schild an die Tür hängen: „Isch ‘abe gar kein Auto!“ Das wäre zwar gelogen, aber immerhin wäre dann Ruhe.

Es klopfte nochmal. Zusätzlich drückte jemand langanhaltend die Klingel. Völlig entnervt rappelte Klaus sich hoch und tappte in seinen braunen Cordpantoffeln zur Tür. „Jajaja, ich komme ja schon. Was ist denn los?“ Er riss die Tür auf und starrte verblüfft auf die merkwürdige Gestalt, die davorstand. Das war keine Nachbarin, das war auch nicht der Hausmeister, das war eine gesichtslose Gestalt in einem geblümten Kaputzenumhang. Noch nie hatte Klaus ein solches Gewand gesehen, und doch kam es ihm seltsam vertraut vor. Dieses Muster – so etwas hatte seine Oma getragen. Immer, wenn sie zuhause war, trug sie diese eigenartigen Hauskittel mit dem Blumenmuster, im Sommer sogar fast ohne etwas darunter. Der Anblick ließ Klaus vergessen, dass der Mensch ihm gegenüber kein Gesicht hatte. Er öffnete die Tür weit und ließ den Mann eintreten. Es musste ein Mann sein, denn die Gestalt war sehr groß und trug außerdem eine schwere Sense mit sich herum. Sensen sind bei Frauen ein eher unübliches Accessoire, dachte Klaus, bei Männern in der Großstadt aber auch. Er kombinierte die Sense mit dem fehlenden Gesicht und folgerte erschrocken, dass er soeben den Tod in seine Wohnung gelassen hatte. Den Sensenmann, der sich als Oma Lotte getarnt hatte.

„Ähem …“ stammelte er, „ähem, das war ein Irrtum, junger Mann. Ich kenne Sie gar nicht, könnten Sie bitte meine Wohnung wieder verlassen?“ Der Tod drehte sich zu ihm um, das leere Gesicht schien ihn anzusehen. Langsam schüttelte der Hüne den Kopf. „Ach so, Sie wollten tatsächlich zu mir? Mein Name ist Klaus Fischer, sind Sie sicher, dass Sie hier richtig sind?“ Der Tod nickte, auch dies geschah quälend langsam. Klaus erwartete, dass jeden Moment die Sense auf ihn herniedersausen und ihn von den Füßen säbeln würde. Doch nichts geschah. Der Tod stand ruhig im Flur, sah sich um, schob mit dem Fuß ein paar herumliegende Turnschuhe ordentlich unter das Schuhregal. Klaus schluckte.

„Ja, Sie sehen, es ist gerade gar nicht aufgeräumt, ich bin gar nicht auf sie eingestellt. Eigentlich müsste ich erst putzen, was sollen denn sonst die Nachbarn sagen, wenn sie mich hier finden und es sieht hier so aus …“ Die große Gestalt schien zu lächeln, sicherlich hörte sie diese Art von Argumentation häufiger. „Darf ich eintreten?“ fragte der Tod höflich und wies auf die offenstehende Wohnzimmertür. „Es redet sich doch besser im Sitzen.“ Was heißt hier reden, dachte Klaus hektisch, der will bestimmt nicht reden, der will mich niedermachen. Mir einen Herzinfarkt schicken, Schlaganfall, mich mit einem Schlag seiner Sense ins Jenseits schicken. Er überlegte, dem Tod nochmal die Tür nach draußen zu weisen, doch der war schon unterwegs in sein Wohnzimmer, legte eine Jazz-CD ein und setzte sich gemütlich in den alten Schaukelstuhl. Das sah komisch aus.

„Der Stuhl da“, erklärte Klaus, „der hat meiner Oma gehört. Meiner Oma Lotte. Sie hat immer in dem Stuhl gesessen früher.“ „Ich weiß“, erwiderte der Tod. „Ich habe sie dort abgeholt.“ Klaus spürte ein dumpfes Gefühl im Magen. Seine Oma war erst vor zehn Jahren verstorben, im gesegneten Alter von 87 Jahren. Er fühlte einen Anflug von Trauer, aber auch Angst. Er war doch erst 46, was wollte der Tod denn bei ihm?

Rose, Blüte, Knospe, TauDer Sensenmann schaukelte ein wenig. Er sah recht harmlos aus in seinem bunten Kittel, denn die Sense hatte er lässig ans Bücherregal gelehnt. In der Hand hielt er die leere Weinflasche, studierte ihr Etikett und schnüffelte an ihr herum. „Riecht gut“, befand er dann. „Aber das Zeug bringt dich um. Das und dein ganzer Lebenswandel. Gutes Essen, viel Alkohol, literweise Kaffee und dann diese Raucherei. Natürlich kaum Bewegung – jeder Meter muss mit dem Auto gefahren werden. Fettleber, Herzschwäche … brauchst du noch mehr?“ Klaus schüttelte den Kopf. „Aber ich bin doch ganz gesund. Zumindest merke ich nicht, dass ich krank bin. Und zu dick bin ich auch nicht. Naja, zumindest nicht viel.“ Er versuchte, sein kleines Wohlstandsbäuchlein einzuziehen und kniff die Hinterbacken zusammen, um eine bessere Haltung anzudeuten. Der Tod nickte. „Jaja, so kann es manchmal kommen. Das Leben ist eine Lotterie, da kann doch der Tod nicht stur nach Reihenfolge vorgehen.“ Klaus sah das anders. „Doch, das kann und sollte der Tod. Es muss doch seine Ordnung haben, das Leben, der Tod, einfach alles!“ Die Gestalt im Schaukelstuhl sah sich in Klaus‘ unaufgeräumtem Wohnzimmer um. „Ja, es muss seine Ordnung haben – das sehe ich.“ Er schien tatsächlich zu schmunzeln. Dann aber straffte er sich und wurde geschäftlich: „Hast du besondere Wünsche? Bett, Sessel oder lieber hochdramatisch unter der laufenden Dusche?“ Klaus schüttelte den Kopf. Was sollte er denn hier Entscheidungen treffen? Und überhaupt, für ihn war noch lange nicht alles geklärt.

„Wieso haben Sie Omas Kittel an? Oder zumindest etwas, das so tut, als sei es Omas Kittel?“ Der Seufzer, der aus dem Schaukelstuhl zu hören war, klang wirklich herzzerreißend. Klaus ging auf Konfrontation. „Ja, nun sagen Sie doch mal. Was soll das mit diesen rosa Karos und dem Blumenmuster? Wollten Sie sich damit tarnen? Als sensentragende Großmutti?“ Der Tod zuckte die Schultern. „Warum nicht? Hat doch funktioniert, oder? Das ist mein Berufsgeheimnis: Wenn ich einen Kunden hole, der vielleicht Probleme machen könnte, bemühe ich mich um ein vertrauenerweckendes Auftreten. Man sieht dann in die Akte des Kunden und sucht nach etwas, von dem man weiß, dass es dem Kunden immer viel bedeutet und Vertrauen eingeflößt hat. Bei dir war das Einfachste Omas alter Kittel, bei anderen sind es die langen roten Haare der Mutter oder die Busfahreruniform des Vaters. Folglich bemühe ich mich um diese Erscheinung – das geht einfach bei mir, ist quasi virtuell – und werde so viel leichter eingelassen. Nur in den seltensten Fällen klappt das nicht, dann wird es manchmal etwas unästhetisch. Wenn der Kunde versucht abzuhauen und ich mit der Sense mehrmals ranmuss, oder wenn er gar aggressiv mir gegenüber wird. Dann wird es natürlich nichts mit dem friedlichen Sterben im Bett.“ Klaus hörte die nur schwach versteckte Drohung in diesen Worten. Er hatte auch nicht vor, abzuhauen. Der Sensenmann war selbst im Sitzen noch größer als er selber. Und flüchten, in seinen alten Cordpantoffeln, konnte er ebenfalls vergessen. Das sah er alles ein. Doch sterben wollte er auch nicht.

Klaus setzte sich nun ebenfalls. Er musste nachdenken. Er war Gebrauchtwagenhändler, geübt im Schachern und Verhandeln. Es musste sich doch irgendetwas finden lassen, was er dem Tod anbieten konnte, etwas, das sinnvoller war, als ihm, Klaus Fischer, das Leben zu nehmen.

„Bist du es nicht leid, immer nur destruktiv zu wirken?“, fragte er schließlich und sah den Tod ehrlich interessiert an. Der zuckte die Schultern. „Muss ja gemacht werden, der Job. Die Kollegen sind nett, ich habe Gleitzeit und bin weitgehend frei in meinen Entscheidungen. Das ist schon in Ordnung so. Oder denkst du, Gebrauchtwagenhändler braucht diese Welt dringender?“ Dazu hatte Klaus keine Meinung, deshalb antwortete er nicht darauf. „Aber ist es denn nicht schöner, ein gutes Werk zu tun? Es gibt doch Leute, die wollen gerne sterben und können nicht.“

schwarzer EngelEr dachte an die Mutter eines Freundes, deren schwere, schmerzhafte Krankheit sich jetzt schon seit Jahren hinzog – hier würde Gevatter Tod sicherlich mehr als willkommen sein. Wieder schien der Tod zu schmunzeln. „Du willst mir also ein Geschäft anbieten? Ein altes krankes Weiblein gegen einen Kerl in den besten Jahren. Na, da muss schon ein bisschen mehr kommen. Was hast du noch für mich?“ Klaus überlegte eine Weile. Das Einzige, was ihm einfiel, war der alte Hund Schnüffel aus dem Erdgeschoss. Der war uralt und lahmte stark, der war auf jeden Fall richtig auf der Liste. „Jetzt willst du mich aber verarschen, oder?“, lautete die Antwort seines unheimlichen Besuchers auf Klaus Vorschlag hin. „Nein, nein, nein, ganz bestimmt nicht. Ich dachte einzig an das Wohl des Tieres.“ Klaus schwitzte. Er dachte an seinen Job – zu verkaufende Autos immer in den rosigsten Farben darstellen, bei anzukaufenden Modellen die Fehler finden. Und er fand einen Fehler. „Weißt du, eigentlich kannst du gar nicht so viel fordern. Du hast nämlich einen Fehler gemacht!“ „Ich, einen Fehler?“ Der Sensenmann lachte. Er hatte eine tiefe Stimme, eigentlich klang es ganz angenehm, wenn er lachte. Doch Klaus spürte, dass der Hüne nicht amüsiert war. „Ich mache nie Fehler – zumindest hat sich noch nie jemand von meinen Kunden darüber beschwert. Was für einen Fehler soll ich denn gemacht haben?“ Klaus fürchtete sich, wagte sich aber doch weiter in die Offensive. „Deine Akten stimmen nicht. Du hast gesagt, das viele Rauchen macht mich krank. Ich habe aber schon vor zwei Jahren aufgehört!“ Der Tod lehnte sich verblüfft in Oma Lottes Schaukelstuhl zurück. Es fehlte nicht viel und Klaus hätte sich ihn mit einem Strickzeug in der Hand vorstellen können. „Soooo, du rauchst also nicht mehr. Und das schon seit zwei Jahren. Hmmm … stimmt, das war bei mir nicht vermerkt. Was machen wir denn da?“ Klaus wagte kaum zu atmen, während der Sensenmann grübelte. Es war nicht unbedingt beruhigend, dass er dazu sein Werkzeug in die Hand nahm, es vor sich auf den Boden stellte und sich zum Schaukeln damit abstieß.

Dann endlich traf die Gestalt im bunten Kittel eine Entscheidung. „Gut, ich schlage dir ein Geschäft vor: Ich nehme die Oma und auch den alten Köter, die sollen beide nicht mehr länger warten. Und du…“, er wies mit einem großen, klobigen Finger auf Klaus, „du hörst auf der Stelle auf zu saufen und wirst Vegetarier!“ Klaus stöhnte innerlich, nickte aber. Bevor dem Tod noch die Idee kommen konnte, seinem Gesundheitsprogramm irgendwelchen Sport hinzuzufügen, ergriff er dessen Hand und schüttelte sie kräftig. „So machen wir das!“ Klaus eilte in den Flur, um seinen ungebetenen Gast hinauszubegleiten, doch der Riese lehnte ab. „So geht das nicht. Du musst mir deine Tauschsubjekte schon zeigen. Oder denkst du, ich habe Google Maps mit dabei?“ Klaus grauste es, denn er wollt Gevatter Tod nicht bei dessen schauerlichen Geschäft beobachten. Trotzdem griff er nach seinen Schlüsseln und einer Jacke. „Schuhe! Oder willst du in diesen Latschen auf der Treppe zu liegen kommen und dir das Genick brechen?“ Der Tod lachte heiser wie über einen gelungenen Witz und Klaus beeilte sich, die Pantoffeln gegen ein Paar solide Turnschuhe zu tauschen. Dann folgte er seinem Begleiter hinaus in den Hausflur.

Den Hund fanden sie schnell. Fasziniert sah Klaus zu, wie der Tod geschickt die Tür zu der kleinen Erdgeschosswohnung öffnete, sich in den Türrahmen hockte und ein leises Geräusch machte. Sein Äußeres hatte sich verändert, er war nun gekleidet wie Metzgermeister Köster, wo das alte Hundefrauchen immer einkaufte. Gewiss gab es dort für den betagten Rüden immer ein Scheibchen Wurst. Tatsächlich kam der Hund an die Tür. Er schien zu lächeln, drängte sich an die Beine der großen Gestalt, legte sich dann lang in den Flur und schlief einfach ein. Eine Art Feder schwebte empor, die der Tod auffing und mit seinen großen Händen behutsam in einem kleinen Beutel verstaute. „Hundeseelen sind leicht“, erklärte er und Klaus nickte, als hätte er verstanden.

Dann führte er den Sensenmann einmal durch die halbe Stadt. Er kam sich komisch vor mit seinem Begleiter in der U-Bahn zu stehen, doch außer ihm schien niemand den Tod zu bemerken. Nur einmal kam es jedoch zu einer brenzlichen Situation, als einige junge Männer an einer Hauptstraße ein Autorennen veranstalteten. Sie hingen dabei lebensgefährlich weit aus ihren alten Autos und plötzlich raste einer der Wagen auf eine Litfasssäule zu. Es krachte fürchterlich und der Tod schien wie elektrisiert zu sein. „Komm, wir wollen doch zu dem Pflegeheim!“, flüsterte Klaus, doch die jetzt dunkle Gestalt schien ihn nicht zu hören. Dann nickte der Tod kurz und beruhigte sich. „Der Kollege ist schon vor Ort“, meinte er und Klaus schauderte es.

Gemeinsam erreichten sie das St. Anna-Stift und gelangten unbehelligt an die Rezeption. Die war verlassen, man hörte jedoch aus dem Nebenzimmer zwei Frauenstimmen. „Gut so“, flüsterte der Tod, schlich sich hinter den Tresen und sah am Computer nach, in welchem Zimmer Frau Meta Burmeister lag. Er nickte Klaus zu und gemeinsam fuhren sie in den dritten Stock.

Die Mutter von Klaus Freund schlief nicht, als die beiden das Zimmer betraten. Sie konnte schon lange nicht mehr richtig schlafen, der Krebs hatte sie ausgezehrt und auch starke Schmerzmittel halfen immer nur für eine kurze Zeit. Sie sah zur Tür und blickte fragend. „Klaus! Das ist ja schön, dass du mich mal besuchen kommst. Aber eine komische Zeit hast du dir ausgesucht.“ Sie bemerkte seinen Begleiter und ihre Züge entspannten sich. Sie lächelte. „Oh, ich sehe, du hast mir jemanden mitgebracht. Schnitter, du bist es – das ist ja schön! Spät kommst du, aber besser spät, als nie.“ Der Tod sah jetzt genau so aus, wie Klaus ihn sich immer vorgestellt hatte, keine Verkleidung entstellte ihn. Klaus hörte, wie er leise mit der alten Frau sprach, aber was sie sagten, konnte er nicht verstehen. Dann aber sah er eine Feder emporsteigen, größer dieses Mal, und auch sie wurde aufgefangen und sorgfältig eingepackt. Meta Burmeister war tot und Klaus lebte. Das Geschäft war erledigt.

Auf der Straße trennten sich Klaus und der Tod ohne ein weiteres Wort. Klaus verbrachte den Rest der Nacht auf einer Bank in der Nähe des Friedhofs. Gerne hätte er sich so richtig betrunken, aber das durfte er ja nicht. Und so weinte er ein bisschen, um Frau Burmeister, den Hund Schnüffel, den jungen Idioten aus dem Unfallwagen und all die Jägerschnitzel, die er nun nie mehr essen würde.

Komische Gewohnheiten: Nach dem Googlen zum Sterben hinlegen

Diese Gewohnheit beobachte ich immer mal wieder bei mir. Ich weiß aber, dass ich mit der Marotte nicht allein bin, und nehme sie deshalb hier mit auf.

Komische Gewohnheiten: Schon mal zum Sterben hinlegen

Wie schon hin und wieder einmal erwähnt, leide ich des Öfteren unter lebensbedrohlicher Hypochondrie. Nicht nur, dass ich weiß, dass meine Lebenserwartung aufgrund meines Lebenswandels gemindert ist. Nein, ich suche auch aktiv nach weiteren Risikofaktoren in meinem Leben, um deren Folgen dann intensiv auszuleben. So lese ich zum Beispiel die Packungsbeilagen aller Medikamente sehr aufmerksam, damit ich sämtliche Nebenwirkungen richtig zuordnen kann, sobald sie beginnen. Selbstverständlich bekomme ich die auch immer fast alle. Sogar das Zucken der Oberlippe, das irgendwo einmal als äußerst selten angegeben wurde, beschäftigte mich tagelang. Da ich eine grundsätzlich robuste Konstitution besitze, überlebe ich zumeist, fühle mich aber in meinem Wohlbefinden manchmal eingeschränkt.

Aufgrund der Überzeugung, dass Ärzte etwas Schlimmes finden, sobald man um die Ecke kommt, meide ich den Besuch bei einem Mediziner, so gut es geht. Unglücklicherweise brauche ich hin und wieder ein Rezept, sodass ich mich doch in eine Praxis hineinschleichen muss, aber wann immer es geht, schnappe ich nur das wichtige Zettelchen und eile wieder hinaus. Im Falle von tatsächlich auftretenden Beschwerden bevorzuge ich Doktor Google.

Und so passierte es mir kürzlich, dass ich mich nicht wohl fühlte. Eigentlich ging es mir schon länger nicht ganz richtig gut, aber die Symptome waren diffus. Irgendwann raffte ich mich auf und tippte meine Malaisen bei Google ein, um festzustellen, was ich alles Schlimmes habe. Das erste, was auftauchte, war „Herzinsuffizienz“. Heiliges Kanonenrohr!

Ich fühlte nach meinem Puls und betastete meinen Brustkorb: Alles noch da. Und doch war da die Gewissheit, dass ich wohl in Kürze verbleichen würde. In einer Mischung aus Resignation und würdevollem Trotz legte ich mich auf mein Sofa und wartete auf den Tod. Er würde kommen, in Kürze schon, und ich wollte dem alten Schnitter seinen Job nicht unnötig erschweren. Der macht schließlich auch nur seine Arbeit. Und da ich nie im Bett sterben wollte, wurde halt das Sofa der Ort meiner Wahl.

TodesengelDa lag ich also, und wartete ab.

Die Sache zog sich hin.

Irgendwann machte ich den Fernseher an. Es steht ja nirgends, dass man sich beim Sterben langweilen muss. Ich guckte ein wenig. Dann machte ich ein Nickerchen.

Schließlich bremste eine ganz gewöhnliche körperliche Regung meinen Willen zur Mitarbeit beim problemlosen Hinscheiden: Ich musste mal auf’s Klo. Leicht genervt rappelte ich mich wieder hoch. Also ehrlich, eine gewisse Pünktlichkeit kann man doch auch von Gevatter Tod erwarten, oder etwa nicht?

Ich erledigte zügig meine Geschäfte, denn auf keinen Fall wollte ich mit runtergelassenen Hosen im Bad niedergestreckt werden. Und dann kam ich zurück zum Sofa. Der Laptop war noch an. Ich aktivierte ihn wieder, um mein Todesurteil nochmal zu betrachten, und las ein wenig weiter. Vielleicht stand ich ja gar nicht kurz vor dem Herztod, sondern würde wegen etwas anderem mein kleines Leben aushauchen. Und tatsächlich, es gab noch ein paar Dinge zur Auswahl. Und wieder dachte ich sowas wie ‚Ach du grüne Neune!‘, als ich etwas las, das mir bekannt vorkam. Ich schluckte und beschloss, dass sich ein Arztbesuch vielleicht doch noch lohnen könnte. Denn es gibt Sachen, die will man nicht haben, an denen stirbt man aber nicht. Nicht mal ich …

Und so war ich tatsächlich innerhalb von einer Woche bei zwei Medizinern, die mir eine im Grunde recht gute Gesundheit bestätigten. Pillen gab es trotzdem, und zwar welche ohne nennenswerte Nebenwirkungen. Der Sensenmann wird sich noch eine Weile gedulden müssen, es sei denn, ich renne vor einen Bus oder so. Das hat er nun davon, dass er die Gelegenheit, als ich bereit zum Abflug auf meinem Sofa lag, nicht beim Schopf ergriffen hat.

 

Nachbemerkung: Ich muss übrigens gestehen, dass es mich erleichterte, über dieses Thema mit einer Freundin sprechen zu können, die bei sich an manchen Tagen ein ähnliches Verhalten beobachtet. So stand sie einmal des Nachts auf, überzeugt davon, in den nächsten Stunden dahinzuscheiden, und zog sich ein „ordentliches“ Nachthemd an. Denn in einem alten verwaschenen Ding wollte sie nicht tot aufgefunden werden. Verständlich, oder?