Wolfsgedanken

Wieder einmal eine Miniatur aus dem Schreibkurs: 12 Minuten waren Zeit und es gab ein Bild, das Wölfe im Bayrischen Wald zeigte. Man hört und liest ja des öfteren, was Menschen denken, wenn sie Wölfe sehen, aber ich habe mich gefragt, was diese Wölfe wohl denken, wenn sie Menschen sehen.

drei Wölfe

Wolfsgedanken

Die Menschen dort sind harmlos. Sie gehören zu denen, die einfach nur herumlaufen, scheinbar ohne Ziel. Sie sind aufgeregt, wenn sie uns sehen, aber nicht aggressiv. Eher neugierig und ein bisschen ängstlich. Die meisten sind froh, wenn wir sie in Ruhe lassen, so wie wir froh sind, wenn sie uns in Ruhe lassen. Wir ziehen es vor, sie zu meiden, auch wenn wir uns ab und zu in ihrer Nähe unsere Beute greifen.

Das Beute machen ist leichter geworden, seit ich nicht mehr allein bin. Meine Partnerin ist eine gute Jägerin, und auch die junge Wölfin, die mit uns läuft, hat gute Anlagen. Ich spüre sie in meiner Nähe, sie atmet leicht unruhig und scheint nicht so recht zu wissen, was sie von den Menschen zu halten hat. Ich knurre beruhigend, nur keine Angst, es besteht keine Gefahr. Die mit den klackernden Stöcken sind merkwürdig, sie gehen zügig zwischen zwei Stäben und wenn es Weibchen sind, reden und reden und reden sie dabei. Ein komisches Verhalten, keiner weiß, was das soll. Auf Beute sind sie nicht aus, dafür wären sie auch viel zu laut.

Es ist gutes Wetter heute, da kommen immer viele Menschen in den Wald. Sie scheinen trockenen Boden lieber zu mögen als feuchten. Dabei riecht es hier viel besser, wenn es nicht ganz so trocken ist. Zu nass ist natürlich auch nichts, ich schlafe gerne trocken. Wir haben eine schöne Höhle hier gefunden, sie wird uns eine ganze Weile reichen, auch wenn wir bald mehr sein werden. Denn wir werden mehr, ich spüre es. Meine Partnerin ist nicht mehr ganz so leichtfüßig wie zuvor, ihr Atem geht oft schwer und sie hat sich gerundet. Nun ja, das war zu erwarten. Bald wird es einige kleine Mäuler mehr zu stopfen geben. Ich freue mich darauf, auch wenn es viel Arbeit bedeuten wird. Der Wald hier ist ein guter Fleck zum Leben, er ist weitläufig und dicht, und da, wo die Menschen nicht herumlaufen, gibt es eine Menge Beute. Bald beginnt die Zeit der Jungtiere. Einige von ihnen werden ihr Leben lassen müssen, damit unsere Kleinen erwachsen werden können. Ein komischer Gedanke, aber so ist es halt, das Leben.

Die Oma im Wolf

Als Kind habe ich Märchen geliebt: Bevor ich selber lesen konnte, bekam ich sie vorgelesen oder durfte sie auf Platten hören. Später las ich sie selber, ich hatte einige dicke Märchenbücher: Märchen der Welt und Tiermärchen. Am liebsten waren mir aber immer die altmodischen Märchen der Gebrüder Grimm. Zum einen, weil die – im Gegensatz zu denen von Hans Cristian Andersen – immer ein Happy End hatten (zumindest für die Hauptperson). Und zum anderen, weil sie simpel zu verstehen waren, gut und böse war klar abgegrenzt.

Ein stark vorgealtertes Rotkäppchen nebst Wolf auf Kürbis – Bild zur Verfügung gestellt von Ruth Rudolph / http://www.pixelio.de

Natürlich wusste ich, dass diese Märchen pure Erfindung waren: Zwar konnte ich mir noch vorstellen, dass man Stroh zu Gold spinnen kann – die Farbe passt ja schon mal. Auch konnte ich mir vorstellen, dass ein Esel Goldmünzen kackt – das ist sicher nur eine Sache der richtigen Fütterung. Und die Sache mit Dornröschen – nun ja, das mit den hundert Jahren war sicher nur eine Methapher. Die hatten ja damals noch gar nicht so genaue Kalender. Doch eine Frage bewegte mich schon früh, und die Erinnerung daran lässt mich immer wieder in dumpfes Brüten verfallen: Denn wie, ja wie nur hat die Großmutter in den Wolf gepasst? Eigentlich hätte sich jedes intelligente Kind diese Frage stellen müssen, und ich verstehe nicht, wieso dieses Märchen noch immer nicht verboten wurde.

Ich hätte mich wahrscheinlich gar nicht großartig gewundert, wenn der Wolf die Großmutter einfach nur gefressen hätte. Es gab ja viele große Tiere früher, man denke nur an das Mammut und den Tyrannosaurus Rex. Dieser Wolf aber musste die Oma ja auch noch im Ganzen hinunterwürgen, inklusive Nachthemd. Denn ansonsten hätte der Jäger sie nicht unversehrt wieder herausholen können, und im Text stand nichts davon zu lesen, dass sie nackt gewesen wäre oder dass der brave Mann sie erst wieder zusammensetzen musste.

Mein Misstrauen in dieses Märchen mag natürlich auch daran liegen, dass für mich eine handelsübliche Großmutter immer ein wenig … nun ja … nennen wir es „mollig“ zu sein hatte. Meine kleine Oma Hedwig war pummelig, meine große Oma Erna war dick. Also so richtig dick. Da hätte der Wolf wohl schon den Kürzeren gezogen, wenn er sabbernd im Schlafzimmer aufgetaucht wäre. Der arme Kerl wäre wohl auch schon allein von dem Nachthemd satt gewesen. Und wenn dann Oma ohne Nachthemd da gestanden hätte und ein Jäger wäre reingekommen – ohgottogott! Ich will mir diese Szene einfach nicht weiter ausdenken.

Oma Erna mit zwei Wölfen – Opa Carl und Onkel Fidi. Bild von der Hochzeitsfeier meiner Eltern.