Dieser Text war der erste von Maike Ruprecht, der im Jahr 2012 im Laborjournal erschien. Seitdem schreibt sie regelmäßig für dieses Magazin und erfreut auch unser Schreibgrüppchen immer wieder mit heiteren Alltagsgeschichten aus ihrer Arbeitswelt. Auch wenn sie als technische Assistentin einen ganz anderen Job hat als ich, kommt mir einiges von dem, das sie beschreibt, doch bekannt vor. Dieses Mal sucht sie
Die innere Mitte
Als ich mich vor 10 Jahren entschloss TA zu werden, wusste ich noch nicht, wie unglaublich nervenaufreibend dieser Beruf manchmal sein würde. Sicher, ich rechnete mit missglückten Experimenten, anstrengenden Praktikanten und Kollegen, aber sonst stellte ich mir alles recht entspannt vor.
Womit ich nicht rechnete waren die Bestellungen.
Als ich diesen Bereich übernahm, erwartete ich ein paar Telefonate zu führen oder, wie in der heutigen Zeit üblich, Internetbestellungen. Was war schon weiter dabei?
Naja, ich war jung und naiv.
Die folgenden Berufsjahre sollten mich eines Besseren belehren.
Die eindrucksvollste Demonstration für die Komplexität mancher Bestellungen lieferte mir die Anlieferung des Saatguts für unsere Erbsenanzucht.
Die Bestellung verlief erfreulich einfach. Eine E-Mail an die Saatgutfirma, worauf eine nette Bestätigung vom Chef persönlich folgte, dann wartete ich.
Eine Woche später, Freitag 13:30, ich freue mich schon auf meinen Feierabend und das kommende Wochenende, läutet das Telefon.
Eine mir unbekannte Stimme nuschelt was von Erbsen, Lieferung und wohin denn? Nachdem ich all das in meinem Kopf entwirrt hatte, verweise ich auf den Zusatz in der Adresse, der eigentlich alles erklärt und noch die meisten Lieferanten ans Ziel gelotst hat.
Der Mann legt auf.
30 Minuten später, Telefon, Spediteur: „Der Fahrer ist jetzt da!“
Ich sehe mich im Labor um: Kein Fahrer und erst recht keine 300kg Erbsen.
„Wo denn?“, erkundige ich mich.
„Das weiß der Fahrer nicht so genau, irgendwo auf dem Campus jedenfalls!“
Mir fällt ein Mantra ein, das ich vor 15 Jahren bei meinem ersten und einzigen Kurs für autogenes Training gelernt habe: Wir finden unsere innere Mitte.
Ich atme tief durch.
„Was sehen sie denn in Ihrer Nähe, beschreiben Sie doch mal.“
Vielleicht lässt sich so sein Standort ermitteln.
„Moment!“
„Hallo?“
Aufgelegt!
Diesmal dauert es kaum 25 Minuten.
„Der Fahrer sagt, er steht direkt vor einer Baustelle“, präsentiert mir der Spediteur stolz seine neuste Erkenntnis. Aha!
Da der Campus Riedberg, ebenso wie das gesamte Stadtviertel dieses Namens gerade erst im Entstehen begriffen ist, ist alles um Umkreis von 1km² Baustelle. Der Mann ist wirklich eine große Hilfe. Warum habe ich bloß nicht mit dem autogenen Training weitergemacht? Ich atme tief durch. Wir finden unsere innere Mitte.
„Geben Sie mir doch die Telefonnummer Ihres Fahrers, dann kann er mir das vielleicht genauer beschreiben“, schlage ich hoffnungsvoll vor.
„Nee, geht nicht, der spricht kein Deutsch!“
„Ich kann englisch“, wende ich ein.
„Nee, auch nicht!“
„Französisch?“
In dieser Sprache bewegen sich meine Kenntnisse zwar auf Schulniveau aber ich bin verzweifelt, will in mein Wochenende und für ein bisschen ´gauche´ und ´droite´ wird es schon reichen.
„Nee, nee!“
Das erklärt immerhin, warum der gute Mann nicht einfach aussteigen und nach dem richtigen Gebäude fragen kann. Wir finden unsere innere Mitte. Ich begrabe meine Was-ich-schönes-mache-wenn-ich-Freitag-früher-gehen-darf-Pläne und rufe ein paar Leute in den umliegenden Gebäuden an, ob sie einen Lastwagen sähen, ohne Erfolg. Langsam bleibt mir nur der Trost, dass Erbsensaatgut wenigstens keine empfindliche Ware ist, und weder gekühlt noch mit Trockeneis versorgt werden muss. Also kann die Spedition zur Not am Montag einen neuen Versuch starten, vielleicht sogar mit einem, wenigstens französisch sprechen Fahrer.
Die Rettung kam dann von unverhoffter Seite.
„Da steht ein LKW vor unsere Einfahrt. Könnten das die Erbsen sein?“, fragt unser Gärtner mich, als die Leitung einmal kurz nicht durch den Spediteur blockiert ist. Tatsächlich hat der Fahrer mit seinem LKW fast zwei Stunden unmittelbar vor dem Gewächshaus gestanden, wohin er die Erbsen liefern sollte, ohne einmal sein Führerhaus zu verlassen.
Solche Geschichten passieren glücklicherweise nicht ständig, aber doch mit unerschütterlicher Regelmäßigkeit.
Vielleicht spendiert mir mein Professor ja mal einen Auffrischungskurs in autogenem Training?