Tanja konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben eine so schlechte Laune gehabt zu haben. Sie saß an einem Tisch, der über und über mit Kleinkram bedeckt war: Süßigkeiten, Spielzeug, Radiergummis, dazu fast 100 kleine Säckchen, Schleifenband und Papier. Das war es aber nicht, was sie so übellaunig werden ließ. Der Grund dafür lag darin, dass sie alleine davorsaß.
Schon oft hatte Tanja sich dafür verflucht, dass sie vor 12 Jahren den Übermüttern auf den Leim gegangen war: Übermütter, das waren die, die sich in Krabbelgruppen und Foren ständig darüber ausließen, was sie alles selber machten, anstatt es zu kaufen, und wie gesund sie ihre Familie ernährten, ohne auf industriell produziertes Gift zurückzugreifen. Und natürlich, wie sehr sie doch auf ihre kleinen Kinder eingingen. Kinderorientiert bis zur Selbstaufgabe, das galt als schick. Ganz hatte Tanja sich diese Philosophie nie zu eigen gemacht, doch es war für sie selbstverständlich, für ihren erstgeborenen Sohn Patrick den jährlichen Adventskalender selber zu füllen. Drei Abende hatte sie damit verbracht, 24 hübsche Säckchen zu nähen. Einen weiteren, um einen Besenstiel so auszurüsten, dass man die Säckchen daran befestigen konnte. Natürlich füllte sie nicht nur Schokolade hinein, das war ungesund und fantasielos. Nein, sie machte sich Gedanken und besorgte 24 hübsche Minigeschenke. Und es machte ihr Freude.
Drei Jahre nach Patrick kam Sophie. Auch sie bekam einen selbstgenähten, selbstgefüllten Adventskalender. Auch Alexander, noch zwei Jahre jünger, bekam solch ein Modell und ebenfalls das Nesthäkchen Isabell. 96 Säckchen galt es nun jedes Jahr zu befüllen, und nicht nur das: 96 kleine Dinge galt es zu besorgen. Sie mussten zum Alter der Kinder passen, vergleichbar sein – nicht, dass einer gefühlt mehr oder, noch schlimmer, weniger bekam. Außerdem mussten die Sachen der aktuellen Mode entsprechen und sich in die kleinen Beutelchen stecken lassen. Zu weit rausgucken sollten sie auch nicht, sonst wusste man ja schon vorher, was es an dem Tag geben würde, und das war doof, fanden die Kinder. Und das fand auch Nils, der Vater der Bande, der sich zwar beim Füllen der Adventskalender vornehm zurückhielt, aber trotzdem eine Meinung dazu hatte.
Anfang November hatte Tanja vorgeschlagen, in diesem Jahr auf die selbstgefüllten Kalender zu verzichten und stattdessen für jedes Kind das Wunschmodell zu kaufen. Diese Idee hatte einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei Nils. Das sei doch Tradition, hatte er gemeint, und auf so eine eingeführte Familientradition könne man doch nicht einfach verzichten. Tanja hatte gemault, sie hatte so viel zu tun im Moment und es dauerte ewig, all die kleinen Geschenke zu besorgen, die hinterher ohnehin nur überall rumliegen würden. Nils aber hatte sie überredet, er würde ihr natürlich helfen. Sie würden sich ein paar nette Stunden machen mit einem schönen Glas Rotwein und guter Musik, es würde ein Abend voller Zweisamkeit werden. Jeder zwei Kalender, das war doch fix gemacht. Tanja hatte sich mal wieder breitschlagen lassen. Und nun saß sie hier alleine.
Schon gestern hatten sie sich gemeinsam an die Arbeit machen wollen. Doch da hatte Nils unbedingt bei seinem Freund Ulrich helfen müssen, der in Kürze umziehen wollte und die Wohnung noch nicht fertig hatte. Es eilte, der Umzug sollte schon Anfang Dezember sein. Tanja hatte das eingesehen, war doch Ulrich jemand, der auch immer da war, wenn man ihn brauchte. Und heute musste Nils ganz plötzlich lange arbeiten, hatte eine Schicht von einem Kollegen übernommen, von dem Tanja noch nie zuvor gehört hatte. Warum er unbedingt hatte einspringen müssen, hatte er Tanja nicht erklärt – er hatte einfach feige eine Nachricht auf ihr Handy geschickt. Und so saß sie also hier und kochte innerlich.
Als die Kinder im Bett waren, konnte sie endlich anfangen. Neun Uhr war es geworden, schließlich waren die Großen in einem Alter, in dem man sie nicht mehr einfach um acht ins Bett schicken konnte. Kurz hatte Tanja überlegt, die ganze Aktion einfach abzublasen, doch die erwartungsvollen Augen der Kleinen, die sich gegenseitig die Haken in ihren Zimmern, an denen die Kalender jedes Jahr aufgehängt wurden, gezeigt hatten, hatten sie davon abgehalten. Sie öffnete die große Flasche Rotwein, die Nils vor einigen Tagen mitgebracht hatte, und schenkte sich ein großes Burgunderglas ganz voll. Diesen Wein würde sie heute austrinken, an diesem Abend voller Einsamkeit.
Tanja begann zu werkeln. Zuerst der Kalender für Isabell. Das war der Einfachste, schließlich war ihre Kleinste erst vier. Sie liebte kleine Tiere zum Spielen, und Tanja hatte ein hübsches Sortiment Tierchen besorgt. Ab und zu packte sie auch eine Süßigkeit, ein Mini-Shampoo oder eine hübsche Zopfspange in ein Säckchen, damit es etwas Abwechslung gab. Die Giraffe und der Elefant passten nicht in einen der kleinen Beutel, sodass sie sie in Weihnachtspapier packte und so weit hineinstopfte, wie es eben ging.

Weihnachtsmarkt in Mölln am 3. Adventswochenende
Als der erste Kalender fertig war, schlich Tanja sich auf Socken ins Zimmer der schlafenden Isabell und hängte ihn vorsichtig an die vorgesehenen Haken. Beim Hinausgehen trat sie auf einen Legostein. Den Schmerzensschrei konnte sie gerade noch unterdrücken und tröstete sich damit, dass sie in die Küche humpelte und die Rotweinflasche mit ins Wohnzimmer nahm. Ihr großes Glas war fast leer, das war heute ein unhaltbarer Zustand.
Nach und nach arbeitete Tanja sich durch den Haufen an Kleinkram, füllte Säckchen um Säckchen. Sie wickelte glitzernde Stifte ein, quälte sich mit Mini-Spielen ab, die partout in keines der Säckchen passen wollten, und trat versehentlich auf eine heruntergefallene Nougatkugel, die natürlich eine Schweinerei anrichtete. Den Wein erledigte sie so nebenbei. Irgendwann hatte sie das Gefühl, dringend eine Gleitsichtbrille zu benötigen, denn die kleinen Bänder zum Verschließen der Beutel verschwammen vor ihren Augen und sie hatte ein Problem damit, hübsche Schleifen zu schnüren. Bei Patricks Kalender vergaß sie beinahe dessen Nussallergie. Rabenmutter, schalt sie sich, während sie einige Säckchen wieder auffummelte, um die Süßigkeiten auszutauschen. Sie hatte keine Lust mehr.
Als sie den letzten Kalender in Sophies Kinderzimmer aufhängte, schmerzte ihr Nacken und sie war todmüde. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es schon weit nach zwölf war. Von Nils keine Spur. „Ein Abend voller Zweisamkeit“, dachte sie bitter und ging zu Bett. Als ihr Mann zwei Stunden später kam, hörte sie ihn zwar, gönnte ihm aber keinen Gruß zur guten Nacht.
Am nächsten Morgen war Tanjas Stimmung nicht besser geworden. Der Liter Rotwein schien sich in ihrem Kopf gesammelt zu haben und schwappte dort herum. Sie war froh, als die Kinder endlich alle aus dem Haus waren und überließ es Nils, die Kleine in den Kindergarten zu bringen. Sie hatte heute frei. „Zum Glück“, dachte sie und rieb sich den schmerzenden Kopf. Das Gespräch mit ihrem Mann, der sich keiner Schuld bewusst zu sein schien, vermied sie.
Erst, als Nils sie ansprach, brach aller Zorn aus ihr heraus. „Einen schönen Abend? Ob ich einen schönen Abend hatte, fragst du mich? Spinnst du jetzt total? Ein Abend voller Zweisamkeit, ja, super, die Weinflasche und ich. Das war echt toll. Sonst noch Fragen?“ Nils wirkte aufrichtig verwirrt. „Rotwein? Gestern? Was war gestern?“ Sie sah, dass er in seinem Gedächtnis verzweifelt nach dem Anlass für ihren Ärger und ihre plötzliche Trunksucht suchte und schüttelte fassungslos den Kopf. „Na super. Du wolltest zwei Adventskalender packen, Familientradition, du erinnerst dich? Wann wolltest du das denn wohl tun, wenn nicht irgendwann Ende November? Vielleicht kurz vor Rosenmontag?“ Jetzt zeigte sein Gesicht den Ausdruck eines schlechten Gewissens. „Ach du Schande, das habe ich ja ganz vergessen. Das tut mir leid.“ Tanja schnaubte. „Ja, mir auch. Wie schön, dass du immer für alle da bist. Für Ulrich, für diesen unbekannten Kollegen, für deine Mutter und den Nachbarn von gegenüber. Nur für deine Familie, diese zufällige Zusammenrottung von einer Frau und vier Kindern, bist du nie da. Danke, ich hab’s gemerkt.“ Damit tat sie ihm unrecht, das wusste sie, aber in der letzten Zeit hatte sie sich oft allein gefühlt. Immer wieder saß sie mit den Kindern am Abend zuhause, während Nils arbeitet, zum Sport ging oder irgendwo irgendwas erledigte. Hier gab es auch allerhand zu erledigen, aber das schien er vergessen zu haben. Und Zeiten, die sie einfach als Paar verbrachten, gab es gar nicht mehr.
Nils merkte, dass er in Ungnade gefallen war, und versuchte sich dünn zu machen. Er musste erst ab mittags arbeiten und drückte sich bis dahin in der Garage herum, wo er lautstark etwas werkelte. „Er erledigt was“, dachte Tanja missgestimmt und beschloss, selber einfach nichts zu erledigen. Eigentlich kochte sie zu Mittag, wenn sie nicht arbeiten musste, doch heute würde sie für sich und die Kinder Pizza bestellen. Sollte ihr illoyaler Ehemann sich doch eine Stulle zum Mitnehmen schmieren – sie war schließlich nicht seine Köchin.
Auch am nächsten Tag war Tanja nicht versöhnt. Dieses Mal gab es etwas zu Essen, sie hatte sogar extra für Nils gekocht: Rosenkohlauflauf. Ihr Mann hasste Rosenkohl, doch er traute sich nicht, zu meckern. Tanja weidete sich an seinem angewiderten Gesichtsausdruck und genoss ihre Rache. Nils würgte sein Essen hinunter und sah aus wie ein getretener Hund.
Die nächsten Abende verbrachten beide zuhause, aber getrennt. So ein Einfamilienhaus kann sehr groß sein, wenn man einander nicht begegnen will.
Nach einigen Tagen Kälte und Schweigen schluckte Tanja ihren Ärger herunter und bemühte sich, das Verhältnis zu ihrem Mann zu normalisieren. Es war ja lächerlich, ihre Ehe wegen so einer Kleinigkeit aufs Spiel zu setzen. Und doch wusste sie, dass diese Sache keine Kleinigkeit gewesen war. Es hatte ihr gezeigt, wie verlassen sie sich oft fühlte und wie wenig ausreichte, um sie gegen ihren Mann aufzubringen. Es war nicht mehr wie früher, als sie einander alles verziehen und nach einem Streit ausgiebig Versöhnung feierten. Sie konnten ja nicht einmal mehr richtig streiten. Wie sollte das denn gehen, wenn man auf vier kleine Kinderseelen Rücksicht nehmen musste?
Sie verbrachten eine Weihnachtszeit in gekünstelter Harmonie. Tanja und die Kinder backten Kekse, die Nils mit den Kleinen bunt verzierte, als er von der Arbeit kam. Sie suchten gemeinsam einen Baum aus und kauften zum ersten Mal nach 15 Jahren neuen Baumschmuck. Beim Putzen des Baumes lachten sie miteinander und es war fast ein wenig wie früher. Sogar „Der kleine Lord“ sahen sie sich an, die ganze Familie, tranken dazu einen selbstgebrauten Punsch und aßen von den selbstgebackenen Weihnachtskeksen. Es war schön und Tanja fasste wieder Hoffnung.
Die Weihnachtsfeiertage vergingen wie im Flug mit Bescherung, viel zu viel gutem Essen und Verwandtenbesuchen. Tanja freute sich an ihrer Familie, denn die Kinder waren allesamt glücklich und zufrieden, spielten mit ihren Geschenken und miteinander, stritten nicht und waren die ganze Zeit so ausgeglichen und wohlerzogen, dass es schon fast kitschig wirkte. Nils beschäftigte sich viel mit ihnen, half beim Aufbau der neuen Lego-Sachen, spielte X-Box mit Patrick und las Bücher vor. Keine Frage, er war ein guter Vater, wenn er sich die Zeit dafür nahm. Tanja liebte ihn dafür und spürte, dass noch nicht alles verloren war.
Dann, direkt nach Weihnachten, ging es wieder los: Nils verschwand des Abends mit nichts als der schwammigen Erklärung „Bin bei Ulrich“ oder „Ich gehe laufen.“ Und dann lief er fünf Stunden lang. Tanja war davon alles andere als begeistert, sagte aber nichts. Sie hatte früher eine Tante gehabt, die das Musterbeispiel einer ständig nörgelnden Ehefrau gewesen war – so wollte sie auf keinen Fall werden. Lieber biss sie die Zähne zusammen und schwieg.
Silvester verbrachten sie bei Freunden, die ebenfalls Kinder hatten. Es wurde nicht besonders spät, doch da sie früh aufgestanden war und vormittags gearbeitet hatte, war Tanja rechtschaffen müde und schlief ein, kaum dass ihr Kopf das Kissen berührte. Sie wurde wach von aufgeregten Kinderstimmen und der tieferen Stimme von Nils, die immer wieder beruhigend zu hören war. „Psst, leise, die Mama schläft noch. Finger weg, Isa, das ist nicht für dich, das ist für Mama. Aber keine Sorge, für euch ist sicher auch was dabei. Finger weg, habe ich gesagt!“
Neugierig geworden stand Tanja auf, zog den Bademantel über und trat auf den Flur. Dort blieb sie verdutzt stehen: Denn an der Wand im Flur hingen 12 Besenstiele, an denen jeweils eine Menge Päckchen hing. Darüber klebten Schilder mit Monatsnamen. Ihr Mann und die Kinder standen davor, und Nils hielt die Hände der kleinen Isabell fest, die sich wie immer die Dinge mit den Fingern ansehen wollte. Fragend sah Tanja ihren Mann an: „Was ist das denn?“ Er sah sie gleichzeitig verschämt, aber auch verschmitzt an und erklärte es ihr: „Das ist dein Adventskalender. Er geht allerdings bis Silvester. Heute darfst du das erste Päckchen aufmachen.“ Der siebenjährige Alexander mischte sich ein: „Da hinten ist der Januar“, krähte er und wies aufgeregt mit dem Finger auf einen der Besenstiele. Tanja trat davor und suchte mit den Augen die Eins. Etwas mühsam fummelte sie das kleine Päckchen ab und öffnete es. Darin war ein Zettel: „Gutschein für ein Mal essen gehen mit deinem lieben Mann am nächsten Samstag. Ulrich passt auf die Kinder auf, ein Tisch bei Pedro ist reserviert.“ Tanja strahlte und fiel ihrem Mann um den Hals. Dann blickte sie sich im Flur um. Ungläubig sah sie ihren Mann an: „Hast du all diese Päckchen gepackt?“ Er nickte. „Ja, habe ich. Bei Ulrich im neuen Hobbyraum. Er hat mich allerdings hier und da beraten.“ Tanja musste lachen, denn wie die Beratung des überzeugten Singles ausgesehen hatte, konnte sie sich gut vorstellen. Dann aber wurde sie ernst. „Danke“, sagte sie und schluckte ein wenig. „Ich danke dir“, antwortete er und guckte dabei komisch verliebt. „Können wir noch eins aufmachen?“, fragte Isabell, die auch bei ihren eigenen Adventskalendern am liebsten immer alle Säckchen am ersten Dezember geöffnet hätte.

Genau so einen Advebtskalender hatte ich früher auch! Bild zur Verfügung gestellt von Martin Schemm, http://www.pixelio.de
Im Laufe der nächsten Monate wurden alle Päckchen geöffnet. Sie enthielten kleine Süßigkeiten, Geschenke und Gutscheine, die alle pünktlich eingelöst wurden. Jeweils am Freitag, dem 13. fand Tanja eine Niete: Einmal einen grässlich schmeckenden Magenbitter und einmal eine geblümte Unterhose mit halbem Bein. Sie verzichtete darauf, diese zu tragen, drohte Nils aber damit, sich in diesem Gewand im Garten sehen zu lassen. Und auch die Kinder gingen nicht leer aus, denn immer wieder fand Tanja Gutscheine für gemeinsame Familienaktivitäten. Sie gingen zusammen ins Spaßbad und in den Zoo, lernten neue Spiele und hatten eine gute Zeit miteinander.
Schon im Sommer beschlossen Tanja und Nils, dass der Jahres-Adventskalender sich bewährt hatte. Für das nächste Jahr würden sie sich das Päckchen packen teilen: Jeder sechs Monate. Denn das, da waren sie sich sicher, war wirklich schnell gemacht und lohnte sich auf jeden Fall.
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