Noch einmal etwas Märchenhaftes. Irgendwie habe ich es ja immer mit dem Tod. Dieses Mal begegnet er uns in Gestalt einer jungen Frau – denn wer sagt, dass Tode immer große, gruselige Kuttenträger sein müssen?
Die Guten kommen wieder
Es war einmal eine alte Frau mit Namen Elise. Die hatte vor fünf Jahren ihren Mann verloren und trauerte noch immer. Jeden Tag ging sie zum Friedhof und setzte sich auf die kleine Bank gegenüber dem Grab, um ihm nah zu sein. Eines Tages setzte sich eine junge Frau zu ihr. „Ich hoffe, ich störe Sie nicht?“, fragte sie und Elise schüttelte den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht. Ich bin nur hier, weil ich sonst nichts zu tun habe und auf diese Weise meinem Hans nah sein kann.“ Die Frau nickte verständnisvoll. „Ja, das kann ich gut nachvollziehen, Ich finde auch, dass Friedhöfe etwas besonders Magisches haben. Eine Kraft, die einen auftanken lässt. Es gibt eigentlich nur einen Ort, der noch stärkere Kräfte hat, und das sind Spielplätze.“ Elise lächelte, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf. „Spielplätze? Da war ich nur sehr selten mal. Mein Mann und ich hatten leider keine Kinder.“ Die junge Frau berührte die Ältere ganz kurz am Arm. „Ich weiß“, sagte sie, „ich kenne Ihre Geschichte.“ Überrascht sah Elise sie an. „Sie wissen Bescheid über uns? Wie denn das?“ Die junge Frau zuckte leicht die Achseln. „Nur das, was sich herumspricht. Dass Sie Ihren Johannes schon als Kind kennengelernt haben, Sie einander liebten, aber aus familiären Gründen nicht heiraten durften, beide zuerst unglückliche Ehen mit anderen Partner hatten und sich dann wieder getroffen haben. Ich finde es so wunderschön, dass Sie ihr Glück doch noch gefunden haben.“ Elise sah versonnen vor sich hin. „Ja, das stimmt alles. Erstaunlich, was die Leute so über einen wissen. Man kann sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen, wie sehr die Familien uns damals unter Druck gesetzt haben, die Finger voneinander zu lassen. Zuerst waren wir nicht stark genug. Aber dann, nach diesem ungeheuren Zufall, der uns wieder zusammenbrachte, konnte uns nichts mehr trennen. Bis auf der Tod, natürlich.“ Beide schwiegen eine Weile.
„Wie war er denn?“ fragte die junge Frau schließlich und Elises Lächeln machte ihr altes, faltiges Gesicht jung und wunderschön. „Er war einzigartig. Warmherzig und zuverlässig, außerdem ein echter Schlingel, auch im Alter noch. Sein spitzbübisches Grinsen hat sich nie verändert. Er hatte noch so viel von dem Schulbuben an sich, der mich getröstet hat, als ich an meinem ersten Schultag Angst hatte und weinte. Er war ja sechs Jahre älter als ich. Trotzdem bemutterte er mich ein bisschen, auch wenn die anderen Jungen über ihn lachten und ihn eine Glucke nannten. Er hatte einfach ein gutes Herz.“ „Das klingt schön, wie Sie über ihn sprechen“, sagte die junge Frau. „Trotzdem denke ich, dass Sie den Tipp mit dem Spielplatz einmal versuchen sollten. Er ist gleich bei Ihnen in der Nähe, wenn Sie durch den kleinen Park laufen.“ Elise versprach, es sich zu überlegen. Sie saßen noch ein wenig beieinander, bevor die junge Frau sich verabschiedete und irgendwo zwischen den blühend bepflanzten Gräbern verschwand.
Der nächste Tag brachte strahlendes Frühsommerwetter. Elise war früh fertig mit ihrer Hausarbeit und beschloss, von dem Gang zum Friedhof tatsächlich einmal durch den Park zu schlendern und nach dem Spielplatz zu sehen. Als sie sich ihm näherte, sah sie die junge Frau auf einer Bank sitzen und den Kindern beim Spielen zusehen. Aus einer Laune heraus kaufte sie am Kiosk zwei Eis am Stiel und ging auf die Bank zu. „Da sind Sie ja wieder“, rief die junge Frau erfreut und bedankte sich für das Eis. „Das ist ja nett von Ihnen!“ Gemeinsam aßen sie und beobachteten das Gewimmel auf dem Spielplatz. Es waren mindestens ein Dutzend Kinder, stellte Elise fest, und gemeinsam lachten sie ein paar Mal laut auf, wenn eines der ganz Kleinen drollig über den Rasen kugelte. Als ein kleiner Junge sich nicht die Rutsche hinunter traute und ein etwas Größerer ihm gut zuredete, jubelten sie beide laut, als der Kleine sich irgendwann mutig abstieß und unten in der Sandgrube landete. „Das hätte mein Hans auch gemacht“, bemerkte Elise mit Blick auf den größeren Jungen, der etwa fünf Jahre alt war und mit den anderen Kindern friedlich spielte. Ab und zu lachte er laut oder warf den auf der Bank sitzenden Frauen ein spitzbübisches Lächeln zu. „Er ist wie Hans“, durchfuhr es sie und sie sah zur Seite zu ihrer Bekannten. Die nickte nur. „Ja“, sagte sie. „So funktioniert das. Die Guten kommen wieder.“ Elise war so erschüttert, dass sie nur noch Augen für den Jungen hatte. Sie bemerkte nicht einmal, dass die Frau neben ihr einfach verschwand.
Elise ging von nun an fast jeden Tag auf den Spielplatz. Sie erfuhr, dass der kleine Junge Johannes hieß und ein echter Lausbub war – manchmal frech, aber nie böse. Er half den Kleineren und schützte einen Igel vor den Angriffen eines Pudels. Und wenn er lächelte, sah Elise ein anderes, älteres Gesicht vor sich: faltig, aber doch jungenhaft.
Als der nächste Frühling kam, fühlte Elise, dass ihre Kräfte rapide schwanden. Sie war müde und antriebslos. Eines Tages kam sie morgens kaum aus dem Bett. „Was ist das denn?“, wunderte sie sich und dachte „Geht so Sterben?“ Sie wehrte sich nicht groß gegen den Gedanken, denn mit 85 Jahren zu sterben fand sie nicht schlimm. Und so erledigte sie mühsam alles, was noch zu tun war, leerte ein letztes Mal die Mülleimer, fegte raus und wischte kurz durch die Waschbecken. Dann zog sie sich etwas Bequemes an und legte sich auf das Sofa. Im Sessel neben ihr saß die junge Frau, die sie schon kannte. „Da sind Sie ja wieder“, sagte dieses Mal Elise und die Frau zwinkerte ihr zu. „Ja, da bin ich. Und dieses Mal habe ich Ihnen etwas mitgebracht.“ Sie zog eine große Glaskugel hervor und hielt sie Elise direkt vor das Gesicht. Die sah hinein. Man sah ein junges Paar über einen Parkplatz laufen, er mit schnellen, aufgeregten Trippelschritten, sie mühsam und gebückt, die Hände an den Bauch gepresst. „Die Guten kommen wieder“, sagte die junge Frau und nickte Elise aufmunternd zu. „Ein paar Stunden wird es wohl noch dauern, aber sehr schwer wird diese junge Mutter es nicht haben.“ Beruhigt legte Elise sich in ihr Kissen, zog die Wolldecke hoch bis zum Kinn und entspannte sich. Atmen, immer nur Atmen, mehr gab es nicht zu tun. Und irgendwann brauchte es auch das nicht mehr.
„Atmen, atmen, Sie schaffen das!“ Und ja, mit einer letzten Kraftanstrengung der jungen Schwangeren war es endlich geschafft. Noch war sie erschöpft, und ihr Mann war der Ohnmacht näher, als er es sich je hatte träumen lassen. Doch dann blickten sie gemeinsam glücklich auf ihre lang ersehnte Tochter, die klein, warm und verschrumpelt auf den Bauch der Mutter gelegt worden war. Sie nannten sie Ella.