Robert Maier und seine Geschichte „Der große Häwelmann“

Robert_sRobert Maier schreibt seit einigen Jahren hauptsächlich Kurzgeschichten. Er bewegt sich in seinen Texten gerne in unterschiedlichen Genres und fühlt sich in Krimis und Science Fiction genauso wohl wie in sozialkritischen Glossen und Mystischem. Ständige Bestandteile seiner Geschichten sind Fantasie und Humor.
Roberts Protagonisten heißen zumeist Frank – warum, weiß er selber nicht. Auch der faule Student in seinem Roman mit dem Arbeitstitel „Müsli-Man“, für den Robert derzeit einen Verleger sucht, trägt diesen Namen. Der Roman bietet einen gut beobachteten Blick auf die alternative Szene des Jahres 1981 und einen Studenten, der von der Polizei für einen RAF-Terroristen gehalten wird.

Der große Häwelmann

Frank war hundemüde und konnte nicht einschlafen. Mit einer Bierdose aus der Minibar neben seinem Bett zappte er sich durch die Kanäle des fremden Fernsehers.

Irgendwelche Leute spielten Poker, bis Frank mehrere Kanäle weiterschaltete. Aufgeregte CNN-Reporter berichteten live und großspurig vom Ort irgendeines Geschehens. In China ist ein Sack Reis umgefallen, ging es Frank durch den Kopf. Er trank das Bier leer. Alkohol machte ihn müde, aber wenn er dann endlich eingeschlafen wäre, müsste er aufs Klo. Wieder schaltete er um und fand sich inmitten eines Fußballspiels wieder. Fußball interessierte ihn, die 2. Dänische Liga aber nicht. Er ging aufs Klo.

Dann kuschelte er sich wieder in sein Hotelbett. Zwei nackte Frauen in einem Whirlpool machten eindeutige Gesten, sagten offensichtlich Schweinskram auf Dänisch und wollten, dass er sie anrief. Danach machte eine halbnackte Sekretärin mittleren Alters unanständige Bewegungen. Sie wollte ebenfalls angerufen werden. Frank schaltete um. Der italienische Sender, der in jedem Hotel zu empfangen war. Blonde Models mit monumentalen Oberweiten schwadronierten und plapperten auf Italienisch.

Frank machte doch noch ein Bier aus der Minibar auf.

Er hatte gerade einen russischen Sender eingeschaltet, als er den Mond bemerkte. Ein strahlend heller Vollmond schaute in sein Fenster hinein und schien ihm freundlich eine gute Nacht zu wünschen. „Gute Nacht“, gab Frank zurück und prostete dem Mann im Mond zu.

Als Frank wieder in den Fernseher schaute, fühlte er sich beobachtet. Der Mond hörte nicht auf, ihn anzusehen. Was wollte er von ihm? Es gehörte sich nicht, Leuten einfach ins Fenster zu gucken. Wieso überhaupt waren die Vorhänge nicht zugezogen? Frank war sich sicher, dass er das getan hatte, als er in sein Hotelzimmer gekommen war.

„Prost, alter Mond“. Der Mond antwortete nicht, aber das hatte Frank auch nicht erwartet. Stattdessen schien das Zimmer plötzlich in ein unwirkliches silbriges Licht getaucht. Das künstliche Flimmerlicht des Fernsehers war verschwunden. Erstaunt sah Frank auf die Fernbedienung in seiner Hand. Er hatte doch gar nicht gedrückt. Misstrauisch sah er zum Mond herüber, der nach wie vor freundlich aber hartnäckig zum Fenster hereinsah und mit seinen Lichtstrahlen das Hotelzimmer ausleuchtete.

„Was hast du gemacht, alter Mond?“

Frank musste verrückt geworden sein. Er sprach mit dem Mond.

Er drückte einen Knopf auf der Fernbedienung. Der Ruck kam so plötzlich, dass er mit dem Kopf rückwärts auf dem Kissen landete. Sein Bett hatte sich bewegt! Vorsichtig schaute Frank nach unten. Das Bett hatte Rollen. Aus irgendeinem Grund war es ein Stück von der Wand weggerollt, aber warum so plötzlich und gerade jetzt?

Der Mond schaute ihn an. Abwartend.

„Hast du das gemacht, alter Mond?“

Er hatte schon wieder mit dem Mond geredet.

Er drückte eine Taste der Fernbedienung, um den Fernseher anzumachen. Es passierte aber etwas völlig anderes.

Franks Bett setzte sich abermals in Bewegung. Es fuhr wie auf einer Rampe auf den größten der silbernen Mondstrahlen auf, war im Nu durchs geschlossene Fenster hindurch und schwebte sanft auf den Parkplatz vor dem großen Hotel hinab.

Frank fand sich im Bett zwischen abgestellten Autos wieder und starrte verblüfft den Mond an.

„Was hast du gemacht, alter Mond?“

Schon immer hatten Menschen ein Gesicht im Mond gesehen. Frank hatte es aber noch nie so deutlich erkannt wie in diesem Augenblick. Der Mond hatte das Gesicht einer großmütterlichen alten Frau.

„Mond, du bist eine Frau?“

„Natürlich bin ich eine Frau.“

Frank war zusammengezuckt, als der Mond plötzlich zu sprechen anfing.

„Die ganze Welt weiß, dass ich eine Frau bin. Auf Spanisch heiße ich ‚La Luna‘, auf Französisch ‚La Lune‘ – nur in wenigen Ländern wie Deutschland glaubt man, ich sei männlich.“

Der Mond eine Mondin. Und eine sprechende dazu.

„Und wieso bin ich jetzt mit meinem Bett auf einem Parkplatz gelandet?“

„Das hast du ganz alleine gemacht“, sagte der Mond – die Mondin – mit einem gütigen Frau-Holle-Lächeln. „Die Fernbedienung“, setzte sie hinzu, als Frank sie verständnislos anschaute.

Tatsächlich. Das Bett hatte immer dann etwas gemacht, wenn er auf die Fernbedienung gedrückt hatte. Frank versuchte die Taste mit der Aufschrift „TV“.

Das Bett mit Frank darin begann wieder den Mondstrahl entlang in die Höhe zu rollen, immer höher, bis es vor einem der Fenster im obersten Stockwerk des Hotels in der Luft schwebend zum Stehen kam. Einen Moment starrte er verdutzt in das leere Hotelzimmer vor ihm, dann wurde ihm klar, dass er wieder eine Taste auf der Fernbedienung drücken sollte.

Kaum hatte er das getan, öffnete sich die Badezimmertür und eine Frau betrat das Zimmer. Offensichtlich vom Duschen gekommen, begann sie sich mit einer Lotion einzucremen. Allem Anschein nach war sie sich nicht bewusst, dass direkt vor ihrem Fenster ein Bett mit einem Mann darin schwebte, und was Frank besonders gefiel, sie war völlig nackt.

„Leuchte alter Mond! Leuchte!“ rief Frank in seiner Begeisterung. Er hatte die Frau erkannt, mit der er noch am Abend in der Hotelbar einen Flirt begonnen hatte, aus dem aber letztlich nicht mehr geworden war.

„Hast du noch nicht genug?“ fragte der Mond.

Die Frau war wieder im Bad verschwunden, und Frank drückte eine weitere Taste.

In wilder Fahrt ging es durch die nächtlichen Straßen der Stadt. Frank rüttelte an parkenden Autos, dass die Alarmanlagen ein riesiges Spektakel begannen, kniff einer vorbeigehenden Dame in den Po, raste dann mit dem Bett durch ein vornehmen Restaurant, wo er einem ebenso verdutzten wie ehrwürdigen älteren Herrn das Sektglas klaute, und parkte anschließend sein Bett auf dem Giebel der höchsten Kirche der Stadt.

„Hast du noch nicht genug?“ fragte der Mond, der ja eigentlich eine Mondin war.

„Nein“, schrie Frank und begann sein Bett gegen die Glocken zu stoßen, bis das lauteste Stadtgeläut ertönte, das sonst nur zur Heiligen Nacht zu hören war.

„Und jetzt will ich noch höher“, schrie Frank und sein Bett begann die Mondstrahlen nach oben zu rumpeln, immer schneller und immer höher, bis die Erde unter ihm sich zu krümmen begann und Kontinente und Ozeane sichtbar wurden. An der Raumstation ISS klopfte er mehrmals gegen die Scheiben, bis die Astronauten aufgeregte Funksprüche an die Bodenstationen absetzten.

„Hast du noch nicht genug?“ fragte der Mond.

„Und jetzt will ich auf den Mond“, schrie Frank, ohne darüber nachzudenken, gegenüber wem er diesen Wunsch äußerte. Die gutmütige Mondin ließ ihn aber trotzdem auf ihrer Oberfläche herumtollen und sah stirnrunzelnd zu, wie er Steine in die Mondkrater warf und wie ein Känguru umherhüpfte.

Als er die Landestelle von Apollo 11 entdeckt hatte und begann, die zurückgelassenen Gerätschaften umzuwerfen und die ersten Fußstapfen der Menschheit im Mondstaub zu verwischen, platzte der Mondin der Kragen:

„Pfui Teufel“, rief sie und schaltete ihr Mondlicht aus, sodass Frank im Dunkeln stand.

Vorsichtig tastete er sich in sein Bett zurück und dachte nach. Er war mitten in einer Gutenachtgeschichte gelandet, die er manchmal seinen Kindern vorlas: Der kleine Häwelmann. Verdammt, wieso musste ausgerechnet ihm immer so etwas passieren!

In Theodor Storms Kindergeschichte nervte der kleine Junge Häwelmann den Mond so lange, bis der ihn in seinem Rollenwagen durch die Stadt und später in den Himmel führte. Dabei machte der Häwelmann durchweg nur Blödsinn und wurde schließlich von der Sonne in hohem Bogen ins Meer geworfen.

Frank wusste, wie nun seine eigene Geschichte enden würde. Die Sonne würde aufgehen – bestimmt ein Sonnerich – und ihn erbost in die Nordsee, den Atlantik oder ein anderes der sieben Weltmeere katapultieren. Das würde er nur schwerlich überleben. Ob er noch mal versuchen sollte, mit der Mondin zu reden? Die war ja wirklich ganz schön sauer. Aber wieso musste sie auch ohne Vorwarnung das Licht ausmachen und abhauen?

Er hatte gerade beschlossen, sich auf der Rückseite des Mondes vor der Sonne zu verstecken, als ihn ein heller Lichtstrahl traf.

„Junge“, rief die Sonne und blickte ihn mit ihren glühenden Augen an „was machst du hier in meinem Himmel?“

Frank fiel sehr lange, bevor er in den Ozean stürzte, lange genug, um darüber nachzudenken, dass der Himmel von Frauen regiert wurde, dass nämlich beide, Mond und Sonne, weiblich waren, und nicht nur keinen Sinn für Humor hatten, sondern auch noch völlig überzogen in ihren Reaktionen waren. Das letzte, woran er dachte, war: „Wieso haben sie nichts gesagt?“

Dann dachte er nichts mehr.

Er brauchte eine Weile, bis er begriff. Das Hotelzimmer. Das Bett. Die Frau. Nicht sein Hotelzimmer. Nicht sein Bett. Nicht seine Frau.

Die darf das nie erfahren, dachte er, als er sich auf Zehenspitzen davonstahl.

Er schlich nackt den Hotelkorridor entlang. Niemand sah ihn, nur der Mond schaute durch ein Fenster hinein.

An der Tür zu seinem Zimmer angekommen dachte er für eine lange Schrecksekunde, er hätte seinen Schlüssel vergessen, fand ihn aber sogleich in dem Kleiderbündel, das er an sich gepresst hielt.

Nachdem er die Gardinen vor dem strahlenden Vollmond zugezogen hatte, fiel er in sein Bett.

Was für ein Albtraum!