Es gibt Dinge im Leben, die sind ganz einfach und könnten beinahe unbemerkt bleiben. Und doch entfalten sie eine unheimliche Wirkung, so wie ein Sandkorn im Getriebe oder ein Stein im Schuh. Etwas, über das man nicht hinwegsehen kann, auch wenn man es eigentlich gerne möchte. Weil es bequemer wäre, weniger peinlich, weniger schmerzhaft. Doch es hilft nicht: Mit einem Stein im Schuh kann man nicht gehen, und mit einem Dorn im Herzen auch nicht. Man muss etwas ändern, sonst geht man zugrunde.

Der Tag, an dem Rebekka den hellgelben Hühnergott fand, war ein Sonntag. Sie hatte sich mit Luis am alten Leuchtturm getroffen. Gemeinsam waren sie den Bohlenweg zum Strand hinunter gegangen, Hand in Hand, so als wären sie beide gerne hier am Strand und freuten sich, gemeinsam hier zu sein. Dabei hatte Rebekka doch da schon geahnt, dass Luis keinen Hang zum Meer hatte. Er war ein Stadtmensch, durch und durch, der ihr zuliebe ab und zu mit in die Natur kam, ohne dies jedoch zu genießen. Er konnte sich nicht gut entspannen, war in Gedanken immer bei seiner Arbeit und stand ständig unter Strom. Rebekka war auch fleißig, brauchte aber ihre Auszeiten und viel frische Luft. Und sie brauchte das Meer. Sie liebte das Meer. Auf Dauer konnte sie nicht ohne sein.
Und so war Rebekka für ein langes Wochenende zu ihrer Tante Margot gefahren, die nur wenige Meter von der Nordseeküste entfernt wohnte. Luis kam am Sonntag dazu, um sie abzuholen und zuvor noch ein Stündchen mit ihr spazieren zu gehen. „Aber bitte nicht zu lange, Liebling, der Wochenendverkehr ist immer die Hölle“, bat er und sie nickte. Jaja, sie wusste, dass es ihn heimzog. Sie lächelte das ungute Gefühl weg und zog ihn an der Hand weiter zum Wasser, wo sie direkt am leicht schäumenden Brandungssaum ein Stück weit liefen, ohne viel zu reden. Luis sah auf die Schiffe am Horizont und Rebekka blickte immer abwechselnd in die Ferne und auf den Sand zu ihren Füßen. Und dann sah sie ihn – den Hühnergott. Einen gelb-braun geäderten, etwas pflaumengroßen Stein mit einem unregelmäßigen Loch darin. Sie konnte es kaum glauben: Immer wieder hatte sie als Kinder nach so etwas gesucht und nie einen gefunden. Und nun lag er hier und sprang sie beinahe an.

Ehrfürchtig hob sie ihn auf und zeigte ihn Luis. Der nickte. „Schön.“ Rebekka verstand. Ihm sagte dieser Stein nichts. Und so erklärte sie ihm, was es mit diesem Stein auf sich hatte: ein Glücksbringer, ganz selten und voller Magie. Ihre Freude sprudelte aus ihr heraus, sie lachte und betrachtete ihren Fund von allen Seiten. „Den muss ich Tante Margot zeigen!“, rief sie und hüpfte fröhlich durch das flache Wasser. Luis schüttelte energisch den Kopf. „Aber nicht mehr heute. Ich bitte dich, Liebes, wir müssen los. Ich muss morgen eine Präsentation halten, darauf will ich mich heute Abend noch ein bisschen vorbereiten.“ Rebekkas Freude erlosch. „Nur ganz kurz“, bat sie. „Tante Margot hat früher in allen Ferien mit uns nach Schätzen gesucht. Wenn ich schon mal etwas gefunden habe, möchte ich es ihr gerne zeigen.“ Doch Luis schüttelte den Kopf. „Sorry, heute nicht mehr. Ich will jetzt wirklich los. Du kannst Margot ja ein Foto von dem Ding schicken.“
Eine Viertelstunde später hatten sie im Auto gesessen und waren Richtung Hannover gefahren. Luis, der am Strand unruhig, aber wortkarg gewesen war, blühte jetzt so richtig auf, erzählte Rebekka von seiner Arbeit, den Kollegen und der Wohnung, die er für sie beide zu kaufen gedachte. Neubau, am Stadtrand, aber nicht so weit ab vom Schuss wie das, wo sie jetzt wohnten. Dritter Stock mit Balkon, sehr nette Nachbarschaft. Und Rebekka saß, hörte ihm zu und wusste nichts dazu zu sagen.
Zwei Wochen später fuhr sie wieder an die Küste. Sie sprach lange mit ihrer Tante, tauschte sich mit ihr aus. Ihre Schwester kam dazu, mit ihr teilte sie ihre Sorgen und Bedenken. Sie saßen auf der Bank am alten Leuchtturm, tranken Sekt aus kleinen Flaschen, Rebekka weinte ein bisschen und ihre Schwester tröstete sie. Als sie nachts zurückkamen in das Haus der Tante, lag auf Rebekkas Bett der Hühnergott, den die Tante sich nachmittags ausgeliehen hatte. Sie hatte eine wunderschöne Kordel geflochten, an der sie den hübschen Stein befestigt hatte. Rebekka musste lächeln, als sie das Schmuckstück auf dem Kissen liegen sah. Ja, so ging es auch. Sie streifte die Kordel mit dem Glücksbringer über den Kopf und zog ihren Verlobungsring vom Finger. Mit einem warmen Gefühl der Erleichterung ließ sie sich vom Geräusch der Wellen in den Schlaf wiegen.
Der erste Absatz ist schon wahnsinnig stark! Und wie Luis drauf ist… Das hat Rebekka völlig richtig gemacht.
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Finde ich auch! Danke, Thomas
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