Der Hühnergott

Es gibt Dinge im Leben, die sind ganz einfach und könnten beinahe unbemerkt bleiben. Und doch entfalten sie eine unheimliche Wirkung, so wie ein Sandkorn im Getriebe oder ein Stein im Schuh. Etwas, über das man nicht hinwegsehen kann, auch wenn man es eigentlich gerne möchte. Weil es bequemer wäre, weniger peinlich, weniger schmerzhaft. Doch es hilft nicht: Mit einem Stein im Schuh kann man nicht gehen, und mit einem Dorn im Herzen auch nicht. Man muss etwas ändern, sonst geht man zugrunde.

Der Tag, an dem Rebekka den hellgelben Hühnergott fand, war ein Sonntag. Sie hatte sich mit Luis am alten Leuchtturm getroffen. Gemeinsam waren sie den Bohlenweg zum Strand hinunter gegangen, Hand in Hand, so als wären sie beide gerne hier am Strand und freuten sich, gemeinsam hier zu sein. Dabei hatte Rebekka doch da schon geahnt, dass Luis keinen Hang zum Meer hatte. Er war ein Stadtmensch, durch und durch, der ihr zuliebe ab und zu mit in die Natur kam, ohne dies jedoch zu genießen. Er konnte sich nicht gut entspannen, war in Gedanken immer bei seiner Arbeit und stand ständig unter Strom. Rebekka war auch fleißig, brauchte aber ihre Auszeiten und viel frische Luft. Und sie brauchte das Meer. Sie liebte das Meer. Auf Dauer konnte sie nicht ohne sein.

Und so war Rebekka für ein langes Wochenende zu ihrer Tante Margot gefahren, die nur wenige Meter von der Nordseeküste entfernt wohnte. Luis kam am Sonntag dazu, um sie abzuholen und zuvor noch ein Stündchen mit ihr spazieren zu gehen. „Aber bitte nicht zu lange, Liebling, der Wochenendverkehr ist immer die Hölle“, bat er und sie nickte. Jaja, sie wusste, dass es ihn heimzog. Sie lächelte das ungute Gefühl weg und zog ihn an der Hand weiter zum Wasser, wo sie direkt am leicht schäumenden Brandungssaum ein Stück weit liefen, ohne viel zu reden. Luis sah auf die Schiffe am Horizont und Rebekka blickte immer abwechselnd in die Ferne und auf den Sand zu ihren Füßen. Und dann sah sie ihn – den Hühnergott. Einen gelb-braun geäderten, etwas pflaumengroßen Stein mit einem unregelmäßigen Loch darin. Sie konnte es kaum glauben: Immer wieder hatte sie als Kinder nach so etwas gesucht und nie einen gefunden. Und nun lag er hier und sprang sie beinahe an.

Sogenannter Hühnergott: Ein Stein mit einem Loch darin, ähnlich geformt wie ein Fischkopf

Ehrfürchtig hob sie ihn auf und zeigte ihn Luis. Der nickte. „Schön.“ Rebekka verstand. Ihm sagte dieser Stein nichts. Und so erklärte sie ihm, was es mit diesem Stein auf sich hatte: ein Glücksbringer, ganz selten und voller Magie. Ihre Freude sprudelte aus ihr heraus, sie lachte und betrachtete ihren Fund von allen Seiten. „Den muss ich Tante Margot zeigen!“, rief sie und hüpfte fröhlich durch das flache Wasser. Luis schüttelte energisch den Kopf. „Aber nicht mehr heute. Ich bitte dich, Liebes, wir müssen los. Ich muss morgen eine Präsentation halten, darauf will ich mich heute Abend noch ein bisschen vorbereiten.“ Rebekkas Freude erlosch. „Nur ganz kurz“, bat sie. „Tante Margot hat früher in allen Ferien mit uns nach Schätzen gesucht. Wenn ich schon mal etwas gefunden habe, möchte ich es ihr gerne zeigen.“ Doch Luis schüttelte den Kopf. „Sorry, heute nicht mehr. Ich will jetzt wirklich los. Du kannst Margot ja ein Foto von dem Ding schicken.“

Eine Viertelstunde später hatten sie im Auto gesessen und waren Richtung Hannover gefahren. Luis, der am Strand unruhig, aber wortkarg gewesen war, blühte jetzt so richtig auf, erzählte Rebekka von seiner Arbeit, den Kollegen und der Wohnung, die er für sie beide zu kaufen gedachte. Neubau, am Stadtrand, aber nicht so weit ab vom Schuss wie das, wo sie jetzt wohnten. Dritter Stock mit Balkon, sehr nette Nachbarschaft. Und Rebekka saß, hörte ihm zu und wusste nichts dazu zu sagen.

Zwei Wochen später fuhr sie wieder an die Küste. Sie sprach lange mit ihrer Tante, tauschte sich mit ihr aus. Ihre Schwester kam dazu, mit ihr teilte sie ihre Sorgen und Bedenken. Sie saßen auf der Bank am alten Leuchtturm, tranken Sekt aus kleinen Flaschen, Rebekka weinte ein bisschen und ihre Schwester tröstete sie. Als sie nachts zurückkamen in das Haus der Tante, lag auf Rebekkas Bett der Hühnergott, den die Tante sich nachmittags ausgeliehen hatte. Sie hatte eine wunderschöne Kordel geflochten, an der sie den hübschen Stein befestigt hatte. Rebekka musste lächeln, als sie das Schmuckstück auf dem Kissen liegen sah. Ja, so ging es auch. Sie streifte die Kordel mit dem Glücksbringer über den Kopf und zog ihren Verlobungsring vom Finger. Mit einem warmen Gefühl der Erleichterung ließ sie sich vom Geräusch der Wellen in den Schlaf wiegen.

Wolfsgedanken

Wieder einmal eine Miniatur aus dem Schreibkurs: 12 Minuten waren Zeit und es gab ein Bild, das Wölfe im Bayrischen Wald zeigte. Man hört und liest ja des öfteren, was Menschen denken, wenn sie Wölfe sehen, aber ich habe mich gefragt, was diese Wölfe wohl denken, wenn sie Menschen sehen.

drei Wölfe

Wolfsgedanken

Die Menschen dort sind harmlos. Sie gehören zu denen, die einfach nur herumlaufen, scheinbar ohne Ziel. Sie sind aufgeregt, wenn sie uns sehen, aber nicht aggressiv. Eher neugierig und ein bisschen ängstlich. Die meisten sind froh, wenn wir sie in Ruhe lassen, so wie wir froh sind, wenn sie uns in Ruhe lassen. Wir ziehen es vor, sie zu meiden, auch wenn wir uns ab und zu in ihrer Nähe unsere Beute greifen.

Das Beute machen ist leichter geworden, seit ich nicht mehr allein bin. Meine Partnerin ist eine gute Jägerin, und auch die junge Wölfin, die mit uns läuft, hat gute Anlagen. Ich spüre sie in meiner Nähe, sie atmet leicht unruhig und scheint nicht so recht zu wissen, was sie von den Menschen zu halten hat. Ich knurre beruhigend, nur keine Angst, es besteht keine Gefahr. Die mit den klackernden Stöcken sind merkwürdig, sie gehen zügig zwischen zwei Stäben und wenn es Weibchen sind, reden und reden und reden sie dabei. Ein komisches Verhalten, keiner weiß, was das soll. Auf Beute sind sie nicht aus, dafür wären sie auch viel zu laut.

Es ist gutes Wetter heute, da kommen immer viele Menschen in den Wald. Sie scheinen trockenen Boden lieber zu mögen als feuchten. Dabei riecht es hier viel besser, wenn es nicht ganz so trocken ist. Zu nass ist natürlich auch nichts, ich schlafe gerne trocken. Wir haben eine schöne Höhle hier gefunden, sie wird uns eine ganze Weile reichen, auch wenn wir bald mehr sein werden. Denn wir werden mehr, ich spüre es. Meine Partnerin ist nicht mehr ganz so leichtfüßig wie zuvor, ihr Atem geht oft schwer und sie hat sich gerundet. Nun ja, das war zu erwarten. Bald wird es einige kleine Mäuler mehr zu stopfen geben. Ich freue mich darauf, auch wenn es viel Arbeit bedeuten wird. Der Wald hier ist ein guter Fleck zum Leben, er ist weitläufig und dicht, und da, wo die Menschen nicht herumlaufen, gibt es eine Menge Beute. Bald beginnt die Zeit der Jungtiere. Einige von ihnen werden ihr Leben lassen müssen, damit unsere Kleinen erwachsen werden können. Ein komischer Gedanke, aber so ist es halt, das Leben.

Die Guten kommen wieder

Noch einmal etwas Märchenhaftes. Irgendwie habe ich es ja immer mit dem Tod. Dieses Mal begegnet er uns in Gestalt einer jungen Frau – denn wer sagt, dass Tode immer große, gruselige Kuttenträger sein müssen?

Die Guten kommen wieder

Es war einmal eine alte Frau mit Namen Elise. Die hatte vor fünf Jahren ihren Mann verloren und trauerte noch immer. Jeden Tag ging sie zum Friedhof und setzte sich auf die kleine Bank gegenüber dem Grab, um ihm nah zu sein. Eines Tages setzte sich eine junge Frau zu ihr. „Ich hoffe, ich störe Sie nicht?“, fragte sie und Elise schüttelte den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht. Ich bin nur hier, weil ich sonst nichts zu tun habe und auf diese Weise meinem Hans nah sein kann.“ Die Frau nickte verständnisvoll. „Ja, das kann ich gut nachvollziehen, Ich finde auch, dass Friedhöfe etwas besonders Magisches haben. Eine Kraft, die einen auftanken lässt. Es gibt eigentlich nur einen Ort, der noch stärkere Kräfte hat, und das sind Spielplätze.“ Elise lächelte, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf. „Spielplätze? Da war ich nur sehr selten mal. Mein Mann und ich hatten leider keine Kinder.“ Die junge Frau berührte die Ältere ganz kurz am Arm. „Ich weiß“, sagte sie, „ich kenne Ihre Geschichte.“ Überrascht sah Elise sie an. „Sie wissen Bescheid über uns? Wie denn das?“ Die junge Frau zuckte leicht die Achseln. „Nur das, was sich herumspricht. Dass Sie Ihren Johannes schon als Kind kennengelernt haben, Sie einander liebten, aber aus familiären Gründen nicht heiraten durften, beide zuerst unglückliche Ehen mit anderen Partner hatten und sich dann wieder getroffen haben. Ich finde es so wunderschön, dass Sie ihr Glück doch noch gefunden haben.“ Elise sah versonnen vor sich hin. „Ja, das stimmt alles. Erstaunlich, was die Leute so über einen wissen. Man kann sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen, wie sehr die Familien uns damals unter Druck gesetzt haben, die Finger voneinander zu lassen. Zuerst waren wir nicht stark genug. Aber dann, nach diesem ungeheuren Zufall, der uns wieder zusammenbrachte, konnte uns nichts mehr trennen. Bis auf der Tod, natürlich.“ Beide schwiegen eine Weile.

Friedhof

„Wie war er denn?“ fragte die junge Frau schließlich und Elises Lächeln machte ihr altes, faltiges Gesicht jung und wunderschön. „Er war einzigartig. Warmherzig und zuverlässig, außerdem ein echter Schlingel, auch im Alter noch. Sein spitzbübisches Grinsen hat sich nie verändert. Er hatte noch so viel von dem Schulbuben an sich, der mich getröstet hat, als ich an meinem ersten Schultag Angst hatte und weinte. Er war ja sechs Jahre älter als ich. Trotzdem bemutterte er mich ein bisschen, auch wenn die anderen Jungen über ihn lachten und ihn eine Glucke nannten. Er hatte einfach ein gutes Herz.“ „Das klingt schön, wie Sie über ihn sprechen“, sagte die junge Frau. „Trotzdem denke ich, dass Sie den Tipp mit dem Spielplatz einmal versuchen sollten. Er ist gleich bei Ihnen in der Nähe, wenn Sie durch den kleinen Park laufen.“ Elise versprach, es sich zu überlegen. Sie saßen noch ein wenig beieinander, bevor die junge Frau sich verabschiedete und irgendwo zwischen den blühend bepflanzten Gräbern verschwand.

Der nächste Tag brachte strahlendes Frühsommerwetter. Elise war früh fertig mit ihrer Hausarbeit und beschloss, von dem Gang zum Friedhof tatsächlich einmal durch den Park zu schlendern und nach dem Spielplatz zu sehen. Als sie sich ihm näherte, sah sie die junge Frau auf einer Bank sitzen und den Kindern beim Spielen zusehen. Aus einer Laune heraus kaufte sie am Kiosk zwei Eis am Stiel und ging auf die Bank zu. „Da sind Sie ja wieder“, rief die junge Frau erfreut und bedankte sich für das Eis. „Das ist ja nett von Ihnen!“ Gemeinsam aßen sie und beobachteten das Gewimmel auf dem Spielplatz. Es waren mindestens ein Dutzend Kinder, stellte Elise fest, und gemeinsam lachten sie ein paar Mal laut auf, wenn eines der ganz Kleinen drollig über den Rasen kugelte. Als ein kleiner Junge sich nicht die Rutsche hinunter traute und ein etwas Größerer ihm gut zuredete, jubelten sie beide laut, als der Kleine sich irgendwann mutig abstieß und unten in der Sandgrube landete. „Das hätte mein Hans auch gemacht“, bemerkte Elise mit Blick auf den größeren Jungen, der etwa fünf Jahre alt war und mit den anderen Kindern friedlich spielte. Ab und zu lachte er laut oder warf den auf der Bank sitzenden Frauen ein spitzbübisches Lächeln zu. „Er ist wie Hans“, durchfuhr es sie und sie sah zur Seite zu ihrer Bekannten. Die nickte nur. „Ja“, sagte sie. „So funktioniert das. Die Guten kommen wieder.“ Elise war so erschüttert, dass sie nur noch Augen für den Jungen hatte. Sie bemerkte nicht einmal, dass die Frau neben ihr einfach verschwand.

Elise ging von nun an fast jeden Tag auf den Spielplatz. Sie erfuhr, dass der kleine Junge Johannes hieß und ein echter Lausbub war – manchmal frech, aber nie böse. Er half den Kleineren und schützte einen Igel vor den Angriffen eines Pudels. Und wenn er lächelte, sah Elise ein anderes, älteres Gesicht vor sich: faltig, aber doch jungenhaft.

Als der nächste Frühling kam, fühlte Elise, dass ihre Kräfte rapide schwanden. Sie war müde und antriebslos. Eines Tages kam sie morgens kaum aus dem Bett. „Was ist das denn?“, wunderte sie sich und dachte „Geht so Sterben?“ Sie wehrte sich nicht groß gegen den Gedanken, denn mit 85 Jahren zu sterben fand sie nicht schlimm. Und so erledigte sie mühsam alles, was noch zu tun war, leerte ein letztes Mal die Mülleimer, fegte raus und wischte kurz durch die Waschbecken. Dann zog sie sich etwas Bequemes an und legte sich auf das Sofa. Im Sessel neben ihr saß die junge Frau, die sie schon kannte. „Da sind Sie ja wieder“, sagte dieses Mal Elise und die Frau zwinkerte ihr zu. „Ja, da bin ich. Und dieses Mal habe ich Ihnen etwas mitgebracht.“ Sie zog eine große Glaskugel hervor und hielt sie Elise direkt vor das Gesicht. Die sah hinein. Man sah ein junges Paar über einen Parkplatz laufen, er mit schnellen, aufgeregten Trippelschritten, sie mühsam und gebückt, die Hände an den Bauch gepresst. „Die Guten kommen wieder“, sagte die junge Frau und nickte Elise aufmunternd zu. „Ein paar Stunden wird es wohl noch dauern, aber sehr schwer wird diese junge Mutter es nicht haben.“ Beruhigt legte Elise sich in ihr Kissen, zog die Wolldecke hoch bis zum Kinn und entspannte sich. Atmen, immer nur Atmen, mehr gab es nicht zu tun. Und irgendwann brauchte es auch das nicht mehr.

„Atmen, atmen, Sie schaffen das!“ Und ja, mit einer letzten Kraftanstrengung der jungen Schwangeren war es endlich geschafft. Noch war sie erschöpft, und ihr Mann war der Ohnmacht näher, als er es sich je hatte träumen lassen. Doch dann blickten sie gemeinsam glücklich auf ihre lang ersehnte Tochter, die klein, warm und verschrumpelt auf den Bauch der Mutter gelegt worden war. Sie nannten sie Ella.

Die Überraschung

Manchmal macht es Spaß, aus einem Set von fünf vorgegebenen Worten eine Geschichte zu schreiben. Unsere Grundlage lautete: Fenster, Stolz, Gold, Kellner, unbeeindruckt

Die Überraschung

Unbeeindruckt vom Schneegestöber sah Ulrike mit leerem Blick aus dem Fenster. Sie hätte genauso gut eine Betonwand oder eine Vogelspinne anstarren können, so weit weg war sie mit ihren Gedanken. In ihrem Kopf kreisten immer noch die Geschehnisse des gestrigen Abends: Das schöne Restaurant, die festliche Kleidung, der Kellner, der ihr galant den Mantel abgenommen hatte. Und natürlich Peter, der ihr ganz gentlemanlike den Arm geboten und sie zu ihrem Tisch geführt hatte. Dabei hatte er sie angesehen mit diesem besonderen Blick, einer Mischung aus Stolz und Liebe. Wenn dieser Blick sie traf, fühlte sie sich immer als etwas ganz Besonderes.

Sie war aufgeregt gewesen. Etwas Wichtiges lag in der Luft, das spürte sie. Ob er sie endlich fragen würde, ob sie ihn heiraten wollte? Schließlich wohnten sie jetzt schon drei Jahre zusammen. Die Art, wie er sie ansah, verhieß etwas Gutes, so schaute er immer, wenn er eine Überraschung für sie hatte. Oder wenn er etwas ausgefressen hat, flüsterte der ewige Zweifler in ihrem Ohr. Doch sie schob ihn beiseite – heute nicht. Heute würde es passieren, das spürte sie. Ob er dabei auf die Knie gehen würde? Fast schon spürte sie einen imaginären Ring aus kühlem Gold an ihrem Finger – Weißgold mit einem glitzernden Stein.

„Ich habe es getan, Ulli“, hörte sie ihren Freund da sagen. „Ich habe uns was gekauft!“ „Ringe?“, platzte es aus Ulrike heraus und er wirkte verblüfft. „Ringe? Ääähh, ne, keine Ringe. Möchtest du einen? Dann schenke ich dir einen zu Weihnachten, dann weiß ich schon mal was. Aber heute habe ich uns was Besseres gekauft!“ Er hob sein Glas und strahlte sie an. „Was Besseres?“, fragte Ulrike zögernd. „Was denn?“ „Einen Hühnerstall!“, verkündete Peter voller Stolz und so laut, dass einige der anderen Gäste sich nach ihm umdrehten. „Einen Stall mit fünf Hennen. Sowas wollte ich schon immer mal haben. Nach Weihnachten wird er geliefert.“ Ulrike nahm es zur Kenntnis.

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Der Schatz in der Pflanze

Diese kleine Geschichte ist in Teilen basiert auf einer Aufgabe im Workshop (Ihr findet einen Schatz in eurer Topfpflanze), der andere Teil ist autobiographisch. Ich habe nämlich mal versucht, Sukkulenten zu züchten – mit den unten beschriebenen Erfolgen.

Der Schatz in der Pflanze

Die blöde Sukkulente will schon wieder eingehen. Seit zwei Jahren bemühe ich mich darum, Sukkulenten zu züchten. Heraus kommt immer nur ein tabakähnlicher Bröselkram. Doch immer, wenn ich mich gerade dazu durchgerungen habe, das Elend zu entsorgen, kommen wieder einige grüne Triebe und ich gebe der Sache nochmal eine Chance. Es ist doch verrückt: Diese Dinger wachsen auf Steinen und in Wüsten, wuchern in Gärten und Kübeln. Nur bei mir passt ihnen irgendetwas nicht und sie verweigern die Zusammenarbeit. Aber jetzt ist Schluss! Ich werde das jetzt weg und kaufe mir morgen ein Alpenveilchen.

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Mit Schwung kippe ich den Inhalt meines grünen Blumentopfes in den Mülleimer. Als ich den gerade zuhauen will, sehe ich inmitten der brauen Erde etwas glitzern. Ich tauche hinab ins Universum meines Hausmülls – wie gut, dass ich das nicht in die Biotonne geschmissen habe. Meine Finger finden in all dem Gekrümel etwas Festes und zu meiner großen Überraschung ziehe ich einen goldenen Ring mit allerhand Blingbling daran aus dem Müll. So ein richtig dickes Teil wie aus den Kronjuwelen der Lisbeth Battenberg, nur in dreckig.

Fassungslos betrachte ich meinen Fund. Ist das der Grund, warum meine Sukkulentenzucht gescheitert ist? Und noch viel wichtiger, wie kommt der Ring in meinen Blumentopf? Will mir jemand etwas sagen? Hat etwa der komische Vogel, den ich vor zwei Jahren aus einer Jazzbar abgeschleppt habe, irgendwelche ernst-romantischen Absichten mir gegenüber gehabt? Zeitlich käme das mit der Sukkulentenpflanzung in etwa hin. Aber nein, der Typ hatte nie im Leben einen Ring in der Tasche, der war total pleite und so romantisch wie eine Salatgurke gewesen.

Was dann? Lebte auf meiner Fensterbank ein Zwerg, der aus mir Aschenputtel unbedingt eine Prinzessin machen wollte? Hatte der mit seiner winzigen Schaufel … Nein, den weiteren Gedanken verbiete ich mir. Ich bin zweifellos eine schlechte Gärtnerin, aber deshalb doch nicht völlig verblödet.

Ich wasche das Schmuckstück in meiner Spüle. Vorsichtig löse ich den Dreck aus den Fassungen der Edelsteine. In meinen Ohren höre ich die Stimme der Expertin von „Bares für Rares“ – die mit dem komischen Namen. „Müsste dringend gereinigt werden.“ Ach ne, nicht möglich, darauf wäre ich gar nicht gekommen. Ich schiebe meine Gleitsichtbrille zurecht und schalte das Licht über dem Herd ein, um das Schmuckstück genauer zu untersuchen. Ein dicker blauer Glitzerstein in der Mitte, kleinere helle Steinchen drumherum. „Hoch aufgebaut“, tönt die Expertin in meinem Kopf. Ich suche nach einer Punze und finde stattdessen eine Gravur: Ilona und Wilfried. Na toll, von mir steht da mal wieder nichts. Ohne Zweifel, irgendwer, wahrscheinlich diese Ilona, hat diesen Ring verloren. Wie er in meine Blumenerde gekommen ist, erschließt sich mir zwar nicht, aber das geht mich auch nichts an.

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Nach ein wenig Grübelei entschließe ich mich zur Ehrlichkeit. Der Ring gehört mir nicht und Ilona vermisst ihn vielleicht. Ich mache Fotos für Social Media – wer vermisst diesen Ring? Bitte teilen, teilen, teilen! Dann bringe ich ihn zum Fundamt. Wenn Ilona oder Wilfried sich melden, sollen sie ihn sich dort abholen. Und wenn sich keiner meldet, gehört er ganz offiziell mir. Dann gehe ich damit zu „Bares für Rares“ und erzähle dort von meinem Unglück mit den Sukkulenten. Wer weiß, vielleicht hat da ja jemand einen Tipp für mich.

Späte Gerechtigkeit

Der alte Klamottenladen hat geschlossen. Endlich, denkt Tanja, als sie die Straße ihres Heimatortes entlangläuft. In diesem Geschäft hat es schon seit mindestens 10 Jahren nichts Modernes mehr gegeben, es hat sie immer gewundert, wie dieser Saftladen überleben konnte.

Sie lässt ihren Blick über die heruntergekommene Fassade des Hauses schweifen, bemerkt das verblichene alte Schild und die dreckigen Fenster. Armselig sieht das aus, schmuddelig und aus der Zeit gefallen.

Wäre es ein anderes Geschäft, würde es Tanja vielleicht ein wenig leid darum tun. Eigentlich mag sie kleine Läden und sie läuft auch nicht jeder Mode hinterher. Auch hängt sie an ihrem alten Dorf und möchte eigentlich keinen Leerstand direkt hier am Marktplatz. Doch dieses alte Textilgeschäft mochte sie noch nie. Auch nicht, als es noch gut lief und das erste Haus am Platze war. Denn der Inhaber war schon immer unglaublich arrogant gewesen. Er hatte geglaubt, dass dieser kleine Dorfladen ihn über den Rest der Einheimischen erhob und ihn zum Patriarchen des Dorfes machte.

„Ich weiß nicht, ob wir hier etwas für Sie haben“, hatte er zu Tanjas Mutter gesagt, die mit ihr an der Hand den Laden betreten hatte. „Wir haben hier eher hochwertige Ware.“ Und die Mutter hatte diese Unverschämtheit hingenommen, geschluckt und den Laden wieder verlassen. Denn Teures konnten sie sich selten leisten, sie gehörten zu den kleinen Leuten. Das hatte Tanjas Mutter ihr damals erklärt, und die hatte ihre Jugend damit verbracht, diesen Laden zu hassen und dem Inhaber nachts Müll in den Garten zu schmeißen. Das hatte er sich redlich verdient, genau wie den langsamen Niedergang seines Geschäftes in den letzten Jahren.

Tanja wirft einen letzten Blick auf das „zu vermieten“-Schild in der Tür und lächelte. Sie ist zufrieden.

Kraft

Ich habe vor einer Weile einen kleinen Workshop gemacht, in dem es um Tiere ging. Sicht auf das Tier, Sicht des Tieres auf den Menschen – solche Perspektivwechsel machen immer viel Spaß. Die Schreibaufgabe, die wir dieses Mal in Blitzgeschwindigkeit – ich glaube, es waren 20 Minuten – bearbeiten sollten, hatte mit den Bildern in der berühmten Höhle von Lascaux zu tun: Welchen Blick hatte wohl der Maler, der vor vielen Jahren die Tiere auf den Stein malte? Was hat er gedacht, während er dort malte?

Vorbemerkung: Ich habe keine Ahnung von Höhlenmalerei oder den Menschen, die in dieser Zeit lebten. Kann sein, dass dieser Gedankengang völliger Käse ist. Dann sei es so.

Kraft!

Kraft. Was ich ausdrücken muss, ist pure Kraft. Wie mache ich das sichtbar? Schwarz ist zu dunkel, Ocker zu hell. Ihre Kraft muss leuchten.

Wikipedia Commons-Prof saxx-gemeinfrei

Bild aus den Wikipedia Commons, Prof saxx, gemeinfrei

Sie sind so viel stärker als wir. Schon ein halb ausgewachsenes Tier rennt unsereinen einfach so über den Haufen, einer von uns alleine kann es mit keinem von ihnen aufnehmen. Eigentlich ist es eine Schande, dass wir sie töten. Aber wir können nicht anders. Denn wir sind schwach und brauchen ihre Kraft.

Wenn sie in der Herde laufen, bebt der Boden und der Staub über der Steppe verfinstert den Himmel. Ich weiß noch, wie viel Angst ich als Kind hatte, als ich das erste Mal eine Herde rennender Büffel sah und hörte. Meine Mutter nahm mich hoch, damit ich mich sicher fühlen und besser sehen konnte. Sie erklärte mir, dass wir nur durch die Kraft dieser Tiere leben würden, denn ihr Fleisch hält uns am Leben und ihre Haut schützt uns und hält uns warm. Kein Jäger kann so viele kleine Tiere fangen, dass es die Büffel ersetzt. In dem Jahr nach dem großen Steinschlag, nachdem die Herde ausblieb, haben viele von uns den Winter nicht überlebt und wir mussten uns eine neue Höhle suchen. Diese Höhle. Hier haben wir es bislang gut gehabt, es gibt Wasser, die Frauen finden Beeren, die Kinder sind sicher und es gibt genug, was wir jagen können. Kleine Tiere und große Tiere. Und genügend Büffel ziehen auf ihrer Wanderung an uns vorbei. Wohin sie wohl gehen?

Niemand weiß, woher die Büffel kommen und wohin sie ziehen. Niemand, der ihnen folgte, kam jemals zurück. Sie verschwanden, so wie der weiße Büffel, den unser Urahn einst sah, im Nebel verschwand und nie mehr gesehen wurde. Vielleicht sind sie gestorben, die jungen Männer, die auszogen, um zu sehen, wohin die Büffel gehen. Oder sie haben andere Orte gefunden, an denen sie leben wollten, so wir auch wir nach unserer langen Wanderung diesen Ort gefunden haben. Es soll viele Menschen geben hier auf der Erde, vielleicht so viele wie die Fische im Teich oder Büffel in einer Herde. Man weiß nicht, wie viele es sind. Niemand kann sie zählen, auch wenn man weiß, dass sie da sind. Wir haben auf unserer Wanderung ihre Spuren gesehen und ein paar von ihnen getroffen. Es ist gut, Menschen zu treffen, aber es ist nicht gut, wenn zu viele an einem Ort leben.

Wir haben es gut hier, wo wir jetzt sind. Das verdanken wir den Büffeln. Sie geben uns die Kraft zum Leben und ihr Fernbleiben, damals in diesem schicksalhaften Jahr, zeigte uns, dass wir uns bewegen mussten. Fort von dort, wo unsere Kinder hungerten, hin zu einem besseren Ort. Unser Stamm ist gewachsen in den letzten Jahren. Die Kinder sind gesund und andere Stämme verbinden sich gerne mit uns. Zwei junge Frauen sind im letzten Jahr zu uns gekommen, und eine unserer Töchter fand einen guten Mann, dem sie in seine Höhle folgte. Bald werden neue Kinder geboren werden. Die Büffel werden über sie wachen, auch meine Büffel, die ich hier an die Wände bringe. Meine Farben spiegeln ihre Kraft, ihre Wärme, all das, was sie für uns sind. Sie sind unser Totem, denn wir sind der Stamm des Büffels.

Ihr größter Wunsch

Ein Märchen sollten wir schreiben im Schreibworkshop. Darin sollte einer unserer eigenen Glücksmomente vorkommen. Nun denn – ist klar, dass meine Prinzessin nicht ganz dürre ist, oder?

Ihr größter Wunsch

Es war einmal eine pummelige Prinzessin, die lebte in einem wohlgeordneten Land. Dort war alles gut für sie und sie hatte nicht zu klagen. Sie wohnte in einem Schloss mit Garten, hatte edle Speisen und schöne Kleider. Ein Dutzend Hofdamen waren um sie herum und gaben acht, dass sie sich nicht langweilte. Sie gingen mit ihr spazieren, lasen ihr vor, spielten heitere Spiele mit ihr oder sangen. Ihr heiteres Geplaudere ließ die Tage wie im Flug vergehen.

War die Prinzessin müde, brachte man sie in ihre Kemenate, wo eine Zofe ihr die Kleider abnahm, eine andere ihr den vorgewärmten Schlafanzug brachte und eine dritte ihr die Haare kämmte und unter die Nachmütze schob. Dann sangen die drei Mädchen mit ihren engelsgleichen Stimmen so lange, bis die Prinzessin eingeschlafen war. Der gleiche Gesang war es, der sie morgens weckte.

Die heitere Schar der Hofdamen

An einem Tag im Mai, als die Prinzessin gerade von ihren Damen mit Blumen bekränzt wurde, kam ein altes Weiblein des Weges. Es ging gebeugt und hatte sichtlich zu kämpfen, um einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Prinzessin, die von guter Art war, erhob sich von ihrem Thron und ging zu der alten Frau.

„Kommt mit mir, gute Frau, und ruht euch ein wenig aus“, sagte sie und stützte die Greisin mit ihrem rosigen Arm. Die Hofdamen waren entsetzt: „Aber Prinzessin, lasst doch die Alte. Seht ihr nicht, wie schmutzig sie ist?“ Und sie hat hier in den königlichen Gärten doch gar nichts zu suchen!“

Die freundliche Prinzessin aber hörte nicht auf sie, half der Alten auf ihren eigenen Lehnstuhl und labte sie mit Früchten und Käsewürfeln. Auch einen Kelch mit Zitronenbrause bekam die alte Frau serviert, und weil sie in ihrem fadenscheinigen Gewand fror, legte die Prinzessin ihr ihre eigene rosa Stola um die mageren Schultern.

„Ich danke dir, mein Kind. Du bist ein gutes Mädchen.“ Die Prinzessin lächelte nur und bot der Alten ein warmes Lager für die Nacht an. Das lehnte diese aber ab. „Hab Dank, mein Kind, das ist lieb gemeint. Ich habe aber noch Hund, Katz und Esel in meiner Hütte, um die ich mich kümmern muss. Deshalb will ich gleich weitergehen. Du aber nimm dieses Fläschchen von mir. Es enthält einem Kräutertrank. Wenn du den trinkst, wird dein größter Wunsch in Erfüllung gehen.“ Mit diesen Worten erhob die Greisin sich ächzend, nickte den Umstehenden zu und ging langsam, aber stetig über den königlichen Rasen. Obwohl die Prinzessin ihr mit den Augen folgte, hätte sie nicht sagen können, wohin sie schließlich verschwand.

„Die war ja merkwürdig“, fand eine der Hofdamen und eine andere meinte, dass es ja wohl unmöglich sei, dass so eine alte, schmutzige und stinkende Frau Wünsche erfüllen könnte. „Gießt das Gift lieber weg“, empfahlen sie der Prinzessin und ein Diener kam, um ihr das Fläschchen abzunehmen. Die Prinzessin hielt es jedoch fest in ihrer kleinen Hand. Sie war sehr nachdenklich.

„Wisst ihr was, Mädchen? Ich weiß gar nicht genau, was ich mir wünsche. Ich habe doch alles.“ Da wurden die Hofdamen munter und machten eine Menge Vorschläge: „Ein rosa Kleid!“, rief eine und die nächste „ein großes Diadem mit Brillanten, so groß wie Enteneier“. „Einen Prinzen hoch zu Pferde“, schlug eine vor“, ein andere rief „eine bessere Figur“, und die jüngste zwitscherte „rote Haare wären doch toll!“

Ihr größter Wunsch

Die Prinzessin saß da und betrachtete das Fläschchen. Ihre Hofdamen standen um sie herum und auch die Zofen und Diener liefen herbei, um zu helfen. Alle wollten wie sie beraten und redeten deshalb auf sie ein. Das Fläschchen, klein und unschuldig, schien zu lächeln und die Prinzessin dachte plötzlich: Es wird wissen, was mein größter Wunsch ist.

Sie zog den Stöpsel aus der Flasche, schnupperte kurz und trank dann vertrauensvoll die aromatische Essenz, die nach Kräutern, Mineralien und Beeren schmeckte. Der Hofstaat verfolgte ihr Tun mit ängstlichem Blick. Dann machte es Poff und die Prinzessin verschwand.

Sie tauchte auf einer Düne am Strand einer Insel wieder auf. Um sie herum waren kaum Menschen, und die, die da waren, nahmen keinerlei Notiz von ihr. Es gab keine Hofdamen, keine Diener, keine Zofen. In der Ferne sah sie ein kleines reetgedecktes Häuschen und wusste, dass sie dort schlafen konnte und das Nötigste vorfinden würde.

Sie blickte aufs Meer und was sie sah, gefiel ihr. Sie war noch nie an einem Strand gewesen. Dann aber horchte sie auf – einmal, zweimal, dreimal. Die einzigen Stimmen, die sie hörte, waren die der Möwen am Himmel. Es sangen nur der Wind und das Meer. Niemand redete, es gab keine Lieder. Sie setzte sich zurecht und atmete tief aus – Stille. Das war das, was sie sich wünschte, schon immer gewünscht hatte. Heute Abend würde niemand sie bedienen, niemand würde sie in den Schlaf singen. Sie war allein mit ihren Gedanken und genoss es aus vollem Herzen.

Nicht nachgedacht

Mal wieder durfte ich mich in ein Tier verwandeln. Das Problem dieses Mal: ich hatte zu wenig Zeit, um ordentlich darüber nachzudenken, und hadere deshalb mit meiner Entscheidung. Und das aus gutem Grund!

Das Reitschulpferd

Boah, diese dumme Trulla! Sitzt auf mir wie ein Sack Kartoffeln, schwankt wie ein Fähnchen im Wind und beschwert sich noch, dass es ihr nicht geschmeidig genug geht. Ist doch nicht zu fassen – dafür bin ich nicht zum Pferd geworden!

Friesenpferd mit Reiterin

„Ein edles schwarzes Friesenpferd“, hatte ich gesagt, als die Hexe mich nach meinem Verwandlungswunsch gefragt hatte. Wie blöde kann man denn nur sein? Warum hatte ich nicht Zebra gesagt, oder Dülmener Wildpferd? Nein, ich musste mich unbedingt für ein domestiziertes Zuchttier entscheiden. Gut, dass mir nicht Milchkuh als erstes eingefallen ist, oder Legehenne. Jetzt bin ich ein Reittier in einer Reitschule, und auf mir hockt die 17-jährige, hoffnungslos untalentierte Pamela und heult rum. Ich geb‘ der gleich ‘nen Grund zum Heulen!

So, einfach mal angaloppieren. Galloppel, gallopel – und jetzt bremsen. Huch, da liegt sie – so ein Pech aber auch. Der Reitlehrer schimpft, anscheinend hat Pamela was falsch gemacht. Ja, festhalten wäre halt gut gewesen. Er scheucht sie wieder rauf – aufstehen und weitermachen ist seine Devise. Am Zaun streife ich sie ab. Eigentlich ganz lustig. Trotzdem bedaure ich, dass ich mir kein anderes Tier ausgesucht habe. Eine Forelle vielleicht, die fröhlich in einem Teich wohnt und ab und zu die umliegenden Bäche erkundet. Wäre nur doof, wenn man in blau auf irgendeinem Teller landet. Brunnenkröte wäre auch hübsch gewesen, die isst zumindest keiner. Oder ein Vogel, fröhlich flatternd im kalten Wind, da kriegt man was zu sehen. Oder – auch schön – ein Meerschweinchen. Die sind niedlich, kriegen Gurke und dürfen ununterbrochen essen. Das, was sie oben reinstopfen, kacken sie unten wieder aus. Stopfmagen nennt sich das. Das kommt mir ja eigentlich entgegen. Aber ich musste mich ja für einen Pferdemagen entscheiden. Immerhin werde ich regelmäßig gebürstet, wenngleich ich glaube, dass Pamela nach dieser Unterrichtseinheit wenig Lust darauf haben wird. Ob ich sie einmal in das Matschloch im hinteren Teil der Koppel schmeißen sollte? Man muss ja das beste draus machen, aus so einem Pferdeleben. Einfach nochmal angaloppieren … Fliiiieg, Pamela, flieg!

Visibile – alles ist möglich

Im Schreibworkshop ging es mal wieder märchenhaft zu. Die Aufgabe war etwas merkwürdig: Man sollte ein Fläschchen finden mit der Aufschrift „Visibile“, dass den Finder sichtbarer machen könne. Mir fiel dazu nichts ein, und da es wie immer sehr schnell gehen musste, modifizierte ich die enthaltene Substanz etwas und ließ sie das Gegenteil bewirken. Als Model diente mir meine Freundin Maike, die in einem Labor arbeitet und dort kürzlich einmal aufgeräumt hat. Auch sie fand abenteuerliche Altbestände, wenngleich nichts ganz so Wundersames dabei war wie in dieser kleinen Geschichte.

Visibile

Geheimnisvolles Fläschchen

Maria betrachtete das Fläschchen mit der merkwürdigen Aufschrift nachdenklich. Das Etikett war kaum lesbar, „Visibile“ meinte sie entziffern zu können. Es sah uralt aus. In einer anderen Umgebung hätte sie einfach den altmodischen Stöpsel aus der Flasche gezogen und einmal an dem Inhalt  geschnuppert, aber hier, beim Aufräumen des Chemikalienschrankes im biotechnischen Labor der Universität, schien ihr das nicht angeraten. Schon gestern war sie sich vorgekommen wie das personifizierte Giftstoffräumkommando, mehr als eine Dose oder Flasche hatte sie in einen sicheren, fest verschraubten Behälter gelegt und nach einem bürokratischen, festgelegten Verfahren zur Entsorgung gegeben. Und nur als das hier – Visibile.

Ihr Fund passte so gar nicht zu den ansonsten hier vorrätigen Stoffen. Die anderen Substanzen waren in nüchternen, rein praktischen Verpackungen. Dieses hier sah aus wie ein altmodischer Parfümflakon, war aus schwerem, facettiert geschliffenem Glas. Kurz dachte sie an die Professorin, die das Büro am Ende des Ganges hatte. Die roch immer nach einer Mischung aus Uralt-Lavendel und Mottenkugeln, vielleicht war das ihr Parfümflakon. Kurzzeitig war Maria versucht, es ihr einfach auf den Schreibtisch zu stellen – dann wäre sie das Problem los gewesen. Aber das war nicht ihre Art zu arbeiten. Sie sah in sämtlichen Datenbanken nach, blieb jedoch erfolglos. Also entschloss sie sich leise seufzend, noch einmal bei Jochen anzurufen, dem Spezialisten für merkwürdige Fälle. Er war es auch, der die Giftstoffe von ihr übernahm und sie fachmännisch entsorgte. Böse Zungen behaupteten, er würde die Flaschen einfach leertrinken. Das würde sein merkwürdiges Äußeres gewiss erklären, erschien Maria aber doch unwahrscheinlich.

Sie griff also zum Telefonhörer und schilderte Jochen ihren Fund. Zu ihrer Überraschung schien er sofort zu wissen, um was es sich handelte. „Das hatte ich schon vermisst“, erklärte er. „Warte, ich hole es ab.“ Nur wenige Minuten später stand der über zwei Meter lange Schlaks mit der Zottelfrisur und den düsteren Augenbrauen vor ihr. „Willst du wissen, was das ist?“, fragte er, und Maria nickte neugierig. „Komm, dafür müssen wir unter uns sein!“ Er zog sie ganz ungalant am Ärmel hinter sich her. Die Augen der Kolleginnen folgten ihnen amüsiert, denn so eifrig sah man den ansonsten immer etwas verlangsamt wirkenden Jochen selten. Er zog sie in eine Besenkammer. „Du, Jochen, halt mal, was soll das denn werden hier?“, protestierte Maria, aber er hielt den Finger an die Lippen. „Psssst, das ist geheim! Wir machen uns jetzt eine lustige Stunde!“ Geschwind öffnete er die Flasche und ehe Maria sich versah, tropfte er ihr eine winzige Menge der öligen Flüssigkeit mitten auf den Scheitel. Das Gleiche tat er bei sich selbst. Zu ihrer Verblüffung verschwand der große Mann in der Sekunde, in der „Visibile“ ihn berührte. „Häää, was ist das denn?“, fragte Maria verblüfft, und Jochen lachte. „Cool, oder? Eigentlich soll das Zeug einen zum Leuchten bringen, aber wenn man es mit Olivenöl, Arsen, Schwefel und Manukka-Honig mischt, dreht man die Wirkung quasi um und es macht unsichtbar. Ist ein altes Familienrezept, wir benutzen seit dreihundert Jahren diese Flasche und füllen immer nur nach. Und nun komm, lass uns etwas Schabernack machen!“ Jochen huschte durch die Labore und Büros und machte Unsinn. Hier plapperte er in ein Telefongespräch, dort füllte er einen Farbstoff in eine Versuchsanordnung, und in der Personalabteilung änderte er Marias Akte dergestalt ab, dass man ihr wohl demnächst den Titel „Heldin der Arbeit“ verleihen würde. Maria war hin- und hergerissen zwischen Fremdscham und Faszination, und irgendwann ließ sie sich hinreißen und füllte den Inhalt von Hildegards Locher in den automatischen Regenschirm von Doktor Wilmenroth, den sie danach sorgfältig wieder schloss. Niemals hätte sie gedacht, dass unsichtbar zu sein so einen Spaß machen konnte. Und während sie herumalberten, merkte Maria, wie zwischen ihr und Jochen ein erstes zartes Band wuchs. Sie waren Partners in Crime, und das schien ihr zumindest eine gute Basis für eine tiefe Freundschaft zu sein.