Merkwürdige Dinge: Nesteldecke und Nestelstulpen

Vor einer Weile kam über die Facebook-Gruppe, mit der ich für Charity-Projekte stricke, eine merkwürdige Anfrage rein: Ob wohl jemand ein paar Nestelstulpen, auch Nestelmuffs genannt, stricken könnte? Oder auch Nesteldecken? Ich war ratlos: Nestel-was? Wieso, weshalb, warum?

Die Auflösung ist einfach, einleuchtend und irgendwie traurig: Die Anfrage kam von einer Dame, die eine Demenzstation leitet. Dort gibt es Menschen, die unruhige Hände haben und die ganze Zeit herumsuchen und -fummeln. Einige kratzen und kneifen sich auch. Ihnen hilft es, wenn die nervösen Finger auch etwas zum Fummeln finden, also Knöpfe, Ösen oder sonstiges Kleinzeug, an dem sich herumspielen lässt. Auch unterschiedliche Strukturen beschäftigen sie. Deshalb gibt es spezielle Decken und Tücher, die kleine Elemente enthalten, an denen man herumgreifen kann. Die kann man für viel Geld kaufen oder auch selber machen. Eine schöne Sache, auch um Wollreste und Mutters alte Knopfbestände zu verarbeiten. Nachdem ich einen Haufen helle Wolle, für die ich bislang keine bessere Idee gehabt hatte, zu Rollstuhl- und Nesteldecken verarbeitet hatte, widmete ich mich also diesen ominösen Stulpen.

Mit meinen großen Beständen an Sockenwollresten, Knöpfen und Bastelkram zum Annähen wurde die Sache ein Selbstläufer – es macht wirklich Spaß, diese Dinger herzustellen. Damit sie auf jeden Arm passen, nehme ich 64 Maschen. Ich ziehe irgendwo ein Bändchen ein, an dem man herumspielen kann, mit dem sich die „Armsocke“ aber auch etwas enger machen lässt, damit sie zierlichen Personen nicht dauernd herunterfällt. Perlchen werden gleich mit eingestrickt, aber nur auf der Oberseite – es soll ja nicht unangenehm sein, wenn der Arm irgendwo aufliegt.

Alles in allem denke ich beim Stricken der Stulpen recht viel nach. Viele Leute, die heutzutage alt sind, haben noch Arbeitskleidung getragen – also kommen Papas alte Uniformknöpfe (von der Bahn) mit zum Einsatz. Etwa ein Drittel der heutigen Demenzpatienten sind Männer – und die tragen vielleicht lieber gedecktere Farben. Und die Stulpen sollen irgendwie symmetrisch sein. Das ist allerdings mein eigener Geschmack – MICH würde es stören, wenn die Elemente willkürlich angeordnet wirken. So bekommt also auch mein Kopf etwas zu tun, wenn ich mich dieser wirklich befriedigen Art der Resteverwertung widme. Die Wertschätzung, die dafür von der Projektorganisatorin zurückkam, tut da noch ein Übriges.

 

Ist das schon Demenz?

An manchen Tagen bin ich unaufmerksam und abgelenkt. Dann werkle ich vor mich hin und merke irgendwann, dass ich komische Sachen mache: Zum Beispiel an dem Tag, an dem ich aufgeräumt habe und einige Silberkettchen fand, die schwarz angelaufen waren und dringend mal ins Silberbad mussten. Ich legte sie dort hinein und werkelte weiter. Wenig später fand ich noch einen Anhänger, den ich gleich mitreinigen wollte. Ich trug ihn ins Wohnzimmer, schmiss ihn in meine Kaffeetasse und hörte schon bei seinem Untergang an dem eigenartigen Pingeln, dass irgendwas anders war als bei den Ketten, die in der Küche im Plastikbehälter mit dem Silberbad lagen. Während ich den Anhänger wieder heraus fischte, überlegte ich, ob das schon ein erstes Anzeichen für eine beginnende Demenz sein könnte. Auch als ich die Feinstrumpfhosen im Kühlschrank wiederfand, sauber eingestapelt im Verein mit Wurst und Käse, dachte ich ein wenig über meine geistige Gesundheit nach.

Großvater, Opa

Mein Opa irgendwann in den 70er Jahren: wie immer korrekt gekleidet und wie so oft mit Zigarre.

Als ich Teenagerin war, erlebte ich bei meinem Großvater den plötzlichen, rapiden geistigen Verfall mit. War er in seinen späten Siebzigern noch ein geistig reger, hochintelligenter Mensch, der gerne Schach und Skat spielte und auch weit über das Rentenalter hinaus noch als Buchhalter arbeitete, verließen ihn seine geistigen Kräfte plötzlich sehr schnell und so dramatisch, dass er schon bald immer jemanden brauchte, der auf ihn auspasste. Das übernahm ich oft, denn auch als er sich schon völlig in seine Parallelwelt zurückgezogen hatten, verstanden wir uns gut. Wenn es mir gelang, seine Gedanken in die Vergangenheit zu lenken, konnten wir noch interessante Gespräche führen, und wenn er fantasierte, ging ich mit ihm auf die Reise und machte mit. Das konnte ich besser als meine Oma, die sich an ihren völlig veränderten Mann aus gutem Grund nicht gewöhnen konnte. Obwohl ich damals recht gut mit der veränderten Situation zurecht kam, habe ich seitdem doch immer ein wenig Angst davor, dass es mir irgendwann genauso ergehen und ich mich verlieren könnte.

Noch aber komme ich immer wieder zu dem Schluss, dass meine hin und wieder auftretende Verwirrtheit eher das Ergebnis davon ist, dass ich zu viel um die Ohren habe, zu viel auf einmal machen will und daher einfach nicht aufpasse. So lässt es sich erklären, dass ich mir einen Kaffee aus der Nespresso-Maschine zapfen will, mir gleichzeitig die Brötchen schmiere und irgendwann feststelle, dass das Plätschern aus der Kaffeemaschine so komisch klingt – fast so als stünde keine Tasse darunter. Ja, irgendwann ist halt auch die größte Tropfschale mal voll, und dann gibt es Schweinerei.

Meine manchmal auftretende Gesichtsblindheit schiebe ich darauf, dass ich manchmal vor Fremden irgendetwas präsentieren muss und mir die vielen Gesichter dann nicht merken kann, diese Leute mich aber die ganze Zeit anstarren können. Auffällig ist allerdings, dass ich manchmal auch mir bekannte Personen irritiert anstarre und nur denke ‚Den da kenne ich – aber ich weiß nicht, wer das ist‘. Das passiert immer, wenn ich denjenigen an der Stelle nicht erwarte. Oft reagiere ich dann gar nicht, selbst dann nicht, wenn der Betreffende winkt und herumhampelt, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. So ging es mir mit dem Kollegen, den ich vor der Kantine treffen wollte: Als der mir völlig überraschend schon im fünften Stock entgegen lief, habe ich glasig an ihm vorbeigeguckt. Der gehörte da nicht hin, der sollte gefälligst vor der Kantine stehen. Meine festgefahrene Erwartungshaltung führte zur Ignoranz gegenüber der Realität. Das ist wahrscheinlich auch nicht ungewöhnlich.

Was mich letztendlich immer wieder erleichtert und mich in der Annahme bestärkt, dass wohl doch alles mit mir in Ordnung ist, ist die Tatsache, dass derartige Minderleistungen gelegentlich auch anderen passieren. So hat auch Dr. K. kürzlich der Tropfschale einen Kaffee spendiert, und meine Kollegin Claudia schmiss ihren Früchteteebeutel in eine gefüllte Kaffeetasse, wo er leise seufzend im Milchschaum versank. Ob diese Kombination schmeckt, konnte ich leider nicht herausfinden, denn sie hat das Gebräu entsorgt.