Unerreichbar

„Ach Marko, bitte! Jetzt lass es doch einfach mal klingeln!“ Genervt sah Lisa, wie ihr Freund schon wieder das Handy aus der Tasche fingerte und hektisch telefonierte. Es war mindestens das fünfte Mal heute und auch gestern schon hatte er mehr mit seinen Kollegen als mit ihr gesprochen.

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„Verkaufen, verkaufen!“, kreischte Lisa und äffte dabei Markos wichtigen Gesichtsausdruck nach. Der drehte ihr verärgert den Rücken zu und sprach noch etwas lauter als zuvor. Er wirkte angespannt und ruderte sinnlos mit den Armen. Lisa verstand die ganze Aufregung nicht. Es war ja nicht so, dass es in Markos Job um Leben und Tod ging: Er war Steuerberater, doch die ganz großen Fische waren bislang an seinem Netz vorbei geschwommen. Auch war nicht die Zeit für den Jahresabschluss.

„Was soll denn das?“, maulte Marko seine Freundin an, als er endlich fertig war. „Warum machst du dich über mich lustig?“ Lisa hatte eher eine Entschuldigung von ihm erwartet, ganz bestimmt aber keine Vorwürfe.

„Da fragst du noch? Ich hatte mich so auf diese Woche gefreut. Aber zuerst kommen wir einen ganzen Tag später los und jetzt telefonierst du alle Nase lang. So habe ich mir das nicht vorgestellt mit unserem ersten gemeinsamen Urlaub.“

Marko stöhnte. „Ach Lisa, bitte, jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt. in meinem Job ist es wichtig, immer verfügbar zu sein.“

Lisa rollte die Augen. „Jetzt mach dich doch nicht lächerlich, Marko. Du tust ja gerade so, als ginge es bei dir um die Rettung des Weltfriedens und nicht um die Buchhaltung der Bäckerei Biesemann!“

Marko wirkte gekränkt. „Das verstehst du nicht“, meinte er. „Ich kann in meinem Job nicht einfach zum Feierabend alles fallen lassen, bei mir geht es im Kopf immer weiter.“

Lisa grinste sarkastisch. „Das ist dann aber ein Problem deines Kopfes, nicht deines Jobs. Vielleicht sollte ich da mal Hand anlegen?“ Lisa war Gehirnchirurgin.

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Marko trottete beleidigt neben ihr her. Venedig schien für ihn heute nur aus Buchhaltung und Taubenscheiße zu bestehen – das sagte zumindest sein Gesichtsausdruck.

Lisa versuchte es nochmal: „Bitte, Marko, versteh mich doch. Meine Arbeit ist auch anstrengend und es ist für mich auch nicht leicht, frei zu bekommen. Ich möchte diese kostbare Zeit nutzen, um mich zu erholen und Zeit mit dir zu verbringen.“

Marko sah sie verbittert an. „Jaja, du willst dich erholen. Dann erhole dich doch. Du willst Zeit mit mir – bitte, hier bin ich. Du wolltest nach Venedig – ja, schön, hier sind wir. Guck dich um, überall Venedig. Was willst du denn noch?“

„Ein bisschen Spaß vielleicht? Gute Gespräche, ein paar nette Worte vielleicht sogar, ein bisschen Kultur? Vielleicht sogar hemmungslosen Sex?“

Marko stöhnte. „Jetzt hör mir doch auf mit Sex! Glaubst du, ich kann mit dir schlafen, wenn in der Firma gerade die Wagner an mir vorbeizieht?“

Lisa nickte. Sowas hatte sie sich fast gedacht. „soso, die Andrea Wagner also. Kriegt sie gerade die besseren Mandanten ab? Ist das der Grund, warum du dich so unsäglich aufführst? Konkurrenz, und dann noch von einer Frau?“

Marko sah aus, als wollte er Lisa in den Canale Grande schubsen. „Ach, was weißt du schon!“ Sein Handy klingelte.

„Wenn du rangehst, ist es aus mit uns“, sagte Lisa leise.

„Tschüss!“, fauchte Marko und drehte sich um.

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Sechs Stunden später saß Lisa auf der Terrasse des Hotels, in dem sie sich eingemietet hatte. Sie sah es gar nicht ein, den lag ersehnten Urlaub jetzt abzubrechen. Venedig konnte sie auch allein erobern. Und sie fühlte sich wohl in ihrer Haut. Sie hatte sehr gut gegessen und trank gerade das zweite Glas Rotwein. Noch war der Gedanke, plötzlich Single zu sein, ein bisschen unwirklich. Doch es fühlte sich gut an. „Besser allein, als schlecht begleitet“, hatte ihr Großvater immer gesagt.

Als ihr Handy klingelte und Markos Name auf dem Display erschien, ging sie nicht ran.

Komische Gewohnheiten – jede unpassende Gelegenheit nutzen

Toilettentür DamenEines vorab, damit meine Leser die Situation richtig einschätzen können: Im wahren Leben bin ich Arbeitnehmerin, zwar in Vollzeit, aber ohne besondere gehobene Stellung. Ich bin ein ganz normaler, durchschnittlicher Mensch mit einem Bürojob. Ob ich arbeite oder nicht, hat keine Auswirkungen darauf, ob Menschen leben oder sterben. Jeder Brotverkäufer tut mehr für das Wohl der Menschen, mit denen er zu tun hat, denn die müssen, wenn sie bei ihm waren, zumindest nicht hungrig zu Bett gehen. Soweit der Status.

Trotz meiner somit offiziell festgestellten Unwichtigkeit erlebe ich es immer wieder, dass Menschen die Lage falsch einschätzen. So wie die Kollegin, die mich nach meinem Urlaub in der Kantine traf – morgens, bevor ich überhaupt richtig angekommen war. Ich war gerade dabei, ein Käsebrötchen in eine Papiertüte zu verfrachten, trug noch meine Jacke und den Rucksack auf dem Buckel. „Noch nicht auskunftsfähig“ schrie meine gesamte Erscheinung, doch die Kollegin überhörte diesen Ruf. Sie schnatterte auf mich ein, hektisch, denn sie hatte es eilig, und ich konnte zu ihrem Problem nichts, aber wirklich gar nichts Intelligentes antworten. Ich bat um Aufschub, darum, zuerst an meinen Arbeitsplatz gehen zu dürfen, um mir die Sache zumindest einmal anzugucken, bevor ich meine Meinung dazu kundtat. Ich kann es nicht leiden, wenn andere ihre Ansichten zu irgendwelchen Dingen total unreflektiert rausrufen, ohne das Thema zu kennen – folglich darf und möchte ich das auch nicht tun.

Sie gab mir fünf Minuten. Der Laptop war noch nicht mal hochgefahren, da war sie wieder da. Ich ließ mir erklären, um was es überhaupt geht, ordnete den Vorgang als „wichtig, aber nicht dramatisch ein“ und bemühte mich um Glättung der Wogen. Öl reingießen nennt man das, glaube ich. Eigentlich hätte ich danach nach Hause gehen können, denn mein gutes Werk für diesen Tag hatte ich getan.

Toilettentür HerrenWeniger duldsam war ich mit der Kollegin, die mir bis auf die Toilette hinterherlief und irgendwelche Informationen über die Trennwand bölkte. Ja, ich weiß, wenn ich im Büro bin, sollte ich ununterbrochen arbeiten, aber ab und zu muss ich mal. Und wenn ich diese Arten von Geschäften erledige, kann und will ich mich nicht auf technische Informationen in Relation zur aktuellen Rechtslage konzentrieren, geschweige denn irgendwelche Entscheidungen treffen. So wichtig bin ich einfach nicht, dass das nicht mal fünf Minuten – und länger brauche ich normalerweise nicht – warten könnte. Ich reagierte also ungehalten und scheuchte die Kollegin aus dem Waschraum. Himmel nochmal, kann man denn nicht mal in Ruhe pieseln? Ich muss mich konzentrieren!

Insgesamt beobachte ich eine Verschiebung der Wahrnehmung, was die Wichtigkeit von Dingen angeht. „Das muss aber heute unbedingt raus!“, höre ich oft, auch wenn das, was raus soll, noch gar nicht fertig ist und, wenn wir mal ehrlich sind, auch niemand begierig darauf wartet. Gerne stelle ich dann eine ganz einfache Frage: „Warum? Was passiert denn, wenn das heute nicht rausgeht?“ Zumeist ist der Rest dann Schweigen. Es muss raus, weil irgendjemand das vor drei Monaten in Unkenntnis der Sachlage in irgendeinen Projektplan geschrieben hat, und nun muss der arme Junior-Projektmanager das auf Teufel komm raus umsetzen, auch wenn das Projekt insgesamt eh schon um drei Wochen verzögert ist. Ob das wirklich vernünftig ist, wird dann, wenn die Panik schon Wellen schlägt, oft zum ersten Mal durchdacht.

Insofern bin ich vielleicht doch nicht ganz so unwichtig: Wenn mich mal wieder jemand im unpassendsten Moment ganz hektisch mit Projektdetails bombardiert, frage ich gerne nach dem „Warum“ oder sage so etwas Pomadiges wie „Das ist doch gerade überhaupt nicht wichtig“. Wahrscheinlich braucht es sowas manchmal. Aber bitte, liebe Kolleginnen, bitte nicht auf der Toilette.

Die Eilmeldung

eilig, eilt sehr

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Wie viele Menschen lese ich meine Nachrichten inzwischen hauptsächlich am Handy. Gerne schaue ich zum Beispiel während der Straßenbahnfahrt nach Hause mal in Spiegel Online oder die FAZ-App rein und informiere mich darüber, was der Tag so gebracht hat. Auch die Gala-App fand ihren Weg auf mein Handy, genau wie CNN und der Focus. Es gibt also genug zu lesen. Was mich jedoch zunehmend befremdet sind die „Eilmeldungen“, die mir auf das Handy geschickt werden.

Eilmeldungen – was sind das eigentlich? In meinem Verständnis sind das Dinge, die unbedingt ganz schnell gelesen werden sollten. Aber welches Thema verdient es, zur Eilmeldung zu werden? Sind das nur politisch hochwichtige Themen, Unglücksmeldungen oder Nachrichten von großer nationaler oder internationaler Tragweite?

Ich gebe zu, dass ich das immer so verstanden hätte. Eilmeldungen, das sind wichtige Nachrichten, die Wellen schlagen und Reaktionen hervorrufen. Wenn früher eine Eilmeldung auf mein Handy kam, wappnete ich mich und war auf das Schlimmste gefasst, wenn ich sie geöffnet und gelesen habe. Was würde ich dort zum Beispiel erwarten? Passend wäre für mich so etwas wie: Angela Merkel tritt zurück. Oder: Die USA treten der Eurozone bei. Oder: Zug bei Wuppertal entgleist. Oder: die Katze erhält den Literatur-Nobelpreis. Es gibt viele Dinge, die ich mir als Eilmeldung vorstellen kann.

Andere Nachrichten empfinde ich hingegen als unpassend, wenn sie als Eilmeldung daherkommt. Zum Beispiel Todesmeldungen: So ärgerlich der Tod auch für den Verblichenen ist, er hat es nicht mehr eilig und ist auch morgen noch tot. Was soll also diese blinde Hast? Auch Klatsch und Tratsch hat meines Erachtens nichts in den Eilmeldungen zu suchen, und da ist es mir ganz egal, welches prominente Pärchen sich gerade getrennt oder die lang ersehnte Schwangerschaft verkündet hat. Unfallmeldungen aus weit entfernten Ländern brauche ich ebenfalls nicht sofort, denn sie haben mit meinem Leben erst mal nichts zu tun. Das soll nicht heißen, dass mir z. B. in Honduras umgekommene Businsassen egal sind, aber ich kann mich nicht um alles kümmern und nicht jede Information im Eiltempo verarbeiten.

Zu viele Eilmeldungen über zu beliebige Themen entwerten meiner Ansicht nach die wirklich wichtigen Nachrichten. Wir werden ohnehin schon mit Informationen und Neuigkeiten überflutet. Da reicht es mir völlig aus, wenn nur die wirklich wichtigen Dinge als eilig gekennzeichnet werden. Natürlich ist es immer ein wenig Ansichtssache, was nun wichtig ist oder nicht, aber einige Themen kann man ganz gewiss aus diesem Kreis der potentiell eiligen Nachrichten herausnehmen. Und um der Flut Herr zu werden, habe ich alle Eilmeldungen inzwischen deaktiviert – man wird ja sonst ganz dusselig dabeei.

Genauso ist es übrigens mit als „Wichtig!“ gekennzeichneten E-Mails: Findet man heraus, dass ein Kollege grundsätzlich seine Mails mit rotem Ausrufezeichen versendet, ist es ganz normal, dass dessen Nachrichten ungelesen nach unten sacken. Sollte tatsächlich einmal etwas Wichtiges dabei sein, wird es durch das zu häufig verwendete Ausrufezeichen entwertet und nicht mehr beachtet – selber schuld.