Sibylle Teil 4

Die letzte Aufgabe, die wir zu dieser Figur lösen sollten, war noch ein Perspektivwechsel: Wir sollten einmal den allwissenden (auktorialen) Erzähler wählen und noch ein wenig mehr von dem aufdecken, was in unserer Figur vorgeht und was sie antreibt. Und wer wüsste besser, was mit Sibylle eigentlich los ist, als der heiß umkämpfte …

Robert

Der Mann mit dem offenen Mantel ist so in seine Gedanken versunken, dass er die Frau, die das kleine Bistro im Laufschritt verlässt, überhaupt nicht wahrnahm. Er sieht auf seine Fußspitzen, läuft mechanisch, den Kopf gesenkt. Seine Gedanken sind bei Christa – und bei Sibylle. Immer das gleiche Dilemma: Sibylle und Christa, Christa und Sibylle. Er ist kein Hallodri, war nie wankelmütig, was Frauen anging. Viele Jahre lang war er seiner Frau treu, auch als es schwierig war. Durch Höhen und Tiefen, in guten wie in schlechten Zeiten. Gemeinsam Kinder bekommen, sie großziehen, Verantwortung tragen, das war für ihn immer selbstverständlich.

Er hat gearbeitet, das Geld nach Hause gebracht und sich nebenbei Gedanken um seine Frau gemacht. Sibylle, deren Stimmung schwankte wie ein Zweiglein im Wind. Erst Jahre der Euphorie, Hochzeit, das erste Kind. Gleich danach die ersten Depressionen. „Es hängt mit dem Kind zusammen“, erklärte man ihm und er war geduldig, half ihr, bis es besser und ihre Welt wieder heller wurde. Dann das zweite Kind. Zwei Jahre hielt die Dunkelheit an, und wenn er ehrlich ist, war es seitdem nie wieder richtig hell um sie beide geworden. Er hatte gekämpft, für seine Frau und um seine Ehe, hatte sie überzeugt, sich behandeln zu lassen. Schwer genug war das gewesen, sie wollte nicht von zuhause fort, machte ihm Szenen und weinte viel. Doch er hatte sich durchgesetzt und es hatte geholfen. Zwei gute Jahre hatten sie danach gehabt, Jahre, in denen sie auch mal abends ausgegangen waren, mit den Kindern in den Zoo oder ins Schwimmbad, so wie eine ganz normale Familie. Sie hatten einander wieder mit Liebe angesehen, waren ab und zu zärtlich zueinander gewesen. Und Sibylle wollte unbedingt ein drittes Kind. Sie war über 40, er fast 50.

Robert erinnert sich mit Schaudern an diese Zeit: Die Monate, in denen sie jeden Monat gebangt und gewartet hatte und ihre Tränen, wenn sie nicht schwanger gewesen war. Und dann die Euphorie, als es geklappt hatte. Sein eigenes unbehagliches Gefühl deswegen und das schlechte Gewissen darüber, sich nicht auf dieses späte Kind freuen zu können. Fast war er erleichtert gewesen, als es schief gegangen war. Noch immer schämt er sich dafür. Und noch immer trauert er um dieses Kind, das nie geboren wurde.

Noch mehr aber trauerte seine Frau. Sie zog sich völlig zurück, ging fast nicht mehr aus dem Haus, wies ihn zurück, wann immer er sich ihr nähern wollte. Richtig bösartig wurde sie ihm gegenüber, und das war neu. Beschimpfungen und Wut hatte es früher nicht gegeben. Tränen ja, aber keinen Hass.

Die Kinder zogen aus, sobald es ihnen möglich war. Sie ertrugen die dunkle Stimmung im Haus nicht mehr. Und Robert lernte Christa kennen. Christa, eine Frau, die lachte, die essen ging, ins Theater oder auch einfach mal ins Kino. Christa, die ihn fast verlassen hatte, als sie von seiner Ehefrau erfuhr, und der er nie von der Tragödie erzählt hatte, die diese Ehe für sein Leben bedeutete.

Christa und Sibylle, Sibylle und Christa: Er liebt die eine, kann aber die andere nicht verlassen. Das hat sie nicht verdient, nicht nach so vielen Jahren. Trotz allem nicht. Er weiß, sie ist krank.

Der Mann im offenen Mantel ist längst an dem kleinen Bistro vorbeigelaufen, in dem eine attraktive Frau mit einem doppelten Scotch sitzt und versucht, das eben Erlebte zu verarbeiten. Sie fragt sich, ob sie zu hart gewesen ist, ob die andere Frau mit ihren Anschuldigungen gegen sie und ihren Mann Recht haben könnte. Und sie fragt sich, ob sie diese große Liebe aufgeben sollte – für eine Frau, die ihr zutiefst unsympathisch ist.

Robert überquert eine Fußgängerbrücke, die über einen breiten Bach führt. Von der Brücke aus kann man in einen Park sehen und er bleibt kurz stehen, um den Mantel zu schließen – ihm ist kalt. Er verweilt einige Minuten, unentschlossen, was er mit sich an diesem Nachmittag anfangen soll. Aus den Augenwinkeln sieht er, wie eine Frau von einer Bank aufsteht und weiter in den Park hineinläuft. Sie trägt einen Mantel in der Farbe, die er so mag. Er hat Sibylle vor Jahren einen ganz Ähnlichen geschenkt, den jedoch noch nie an ihr gesehen. Sie geht ja kaum aus dem Haus.

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