Zum 1. Mai

Ich war in meinem Erwachsenenleben nie eine großer Demonstrationsgängerin. In den 80er Jahren war ich bei einigen Friedensdemos dabei und nahm an einem Friedenscamp teil, doch später wurde ich faul. Eigentlich ist das nicht gut, denn man sollte für das aufstehen, was einem wichtig ist. Es wurde so viel erreicht in den letzten hundert Jahren. Doch nichts ist selbstverständlich. Das sollte uns bewusst bleiben.

Demonstration 1. Mai, Düsseldorf, Anfang 50er Jahre

Demonstration 1. Mai, Düsseldorf, Anfang 50er Jahre

Das Bild hat mein Vater aufgenommen, der als junger Mann ein paar Jahre in Düsseldorf lebte. Er hatte der Arbeit hinterherziehen müssen. Wann genau er das Foto aufgenommen hat, weiß ich gar nicht. Einige Themen sind noch immer die gleichen – zum Beispiel die Sicherheit im Alter. Andere, wie die 40-Stunden-Woche und die Lohnfortzahlung – sind uns inzwischen selbstverständlich geworden.

Interessant finde ich übrigens auch, wie fremd diese Menschenmenge für mich aussieht. Fast nur Männer, viele von ihnen würdevoll in Hut und Mantel. Die wenigen Frauen muss man geradezu suchen. Wahrscheinlich haben die zuhause auf die Kinder aufgepasst oder den demonstrierenden Gatten ein gutes Feiertagsessen gerichtet.

Der Doppelgänger

Lachender Mann mit Pfeife

Mein Papa in unserer Küche, etwa 1994

Im Biologieunterricht habe ich gelernt, dass es für Organismen „Genotypen“ und „Phänotypen“ gibt. Ersteres beschreibt, wie ein Organismus genetisch zusammengebaut ist, und es gibt natürlich unglaublich viele Kombinationsmöglichkeiten. Der Phänotyp beschreibt das Erscheinungsbild – also wie etwas aussieht. Und dieses Etwas ist natürlich sehr oft auch ein Mensch.

Obwohl es auch bei den Menschen schier unendlich viele Möglichkeiten des äußeren Erscheinungsbildes gibt, kommt es immer wieder zu starken Ähnlichkeiten. Anscheinend ist die Natur damit überfordert, über 8 Milliarden komplett unterschiedlich aussehende Menschen zusammenzupuzzlen. Das macht auch nichts, solange in meinem Umfeld nicht alle gleich aussehen und ich meine Pappenheimer auseinanderhalten kann.

Allerdings wunderte ich mich sehr über einen Kollegen, den ich nicht persönlich kannte, der mich aber immer mit einem breiten, sonnigen Lächeln begrüßte. Irgendwann klärte er mich darüber auf, dass ich seiner Schwester Almuth zum Verwechseln ähnlich sähe – aha! Anscheinend mag er Almuth, so nett wie er mich immer begrüßt.

Außerdem haben wir eine falsche Roswitha in der Firma. Die habe ich schon zwei Mal durch ein aufgeregtes und wahrscheinlich etwas albern wirkendes Winken begrüßt, weil ich dachte, dass meine gute Rosa aus dem fernen Hamburg zu Besuch sei. Nein, es war die Falsche, und wenn sie näher rankommt, sieht man das auch. Aber so auf die Ferne führt die Frau mich regelmäßig in die Irre.

Obwohl ich um diese Doppelgängerei weiß, warf mich die Begegnung mit einem älteren Mann kürzlich auf Norderney völlig aus der Bahn. Dieser alte Herr sah nämlich aus wie mein alter Herr – also mein Papa. Mein Vater verstarb 2002 mit Anfang 70, ich denke aber, wäre er nicht krank geworden, sondern einfach nur weiter vor sich hin gealtert, würde er jetzt in etwa aussehen wie dieser mir unbekannte Mann, der mir in einem Hotelrestaurant schräg gegenübersaß. Nachdem ich mich von meiner Verblüffung erholt hatte, starrte ich ihn an – zunächst geschockt, dann zunehmend fasziniert. Denn der alte Knabe in Karohemd und Strickjacke sah nicht nur aus wie mein Vater, er bewegte sich auch so. Natürlich etwas langsamer, etwas gebeugter, aber ich schätzte ihn auf gut über 80. Aber die Art, wie er aß und wie er etwas desorientiert auf dem vollen Tisch herumsortierte – das hatte ich schon tausende von Malen beobachtet. Und wie er sich am Buffet Nachschub holte, dabei offensichtlich versuchte, alles zumindest zu probieren und dann futterte, bis er fast platzte: Diese Macke hatte mein Vater an Buffets auch immer, nur nuchts umkommen lassen. Trotzdem holte er noch Nachtisch – Eis passt ja immer rein und außerdem haben solche Männer einen extra Nachtischmagen. So habe ich das als Kind gelernt.

Die erste Begegnung mit diesem Hotelgast warf mich zugegebenermaßen etwas aus der Bahn. Beim dritten Essen mit Blick auf dieses Gegenüber hatte ich mich etwas daran gewöhnt, aber nicht so richtig. Vielleicht muss ich ihn doch noch fragen, ob er mit Opa Carl verwandt ist – denn der hat seine Gene bei uns in der Familie ja so durchschlagend weitergegeben.

 

Nachtrag: Ich hatte Gelegenheit, den alten Mann ungefähr eine Woche lang zu beobachten. Er sieht aus wie mein Vater, ist aber offensichtlich doch anders: Denn er ist eher ein ruhiger Vertreter. Mein Vater war recht laut. Irgendwie beruhigt es mich, dass es doch offensichtliche Unterschiede gibt.

Schön ausgedrückt – geschlechtliche Inkonsistenzen 3: Kinder und umzu

Familie

Dieses kleinen Familienbild hängt im Museumsdorf Cloppenburg

Im letzten Teil meiner Betrachtungen über die sprachlichen Besonderheiten der Geschlechter will ich mich den Kindern widmen – und derer, die sie hervorbringen. Das ist zunächst mal einfach: Ein Kind hat einen Vater und eine Mutter – und evtl. diverse Patchworkeltern, die ich hier mal außen vor lasse. Diese Leute – Vater und Mutter – sind etwas Besonderes, ihre Rolle wird immer wieder hervorgehoben, zum Beispiel in den Nachrichten: „Es ereignete sich ein Unfall. Im Wagen befand sich eine 35-jährige Mutter …“ Aha, eine Mutter also, eine Frau mit Kind. Das ist offenbar wichtig, denn eigentlich befand sich in dem Wagen schlicht eine Frau. Noch wichtiger wäre aber ein Mann in diesem Wagen gewesen: „Verletzt wurde ein 35-jähriger Familienvater …“ So wird es immer genannt, nicht einfach Vater, sondern Familienvater. Dieser Mann kümmert sich nicht nur um ein oder mehrere Kinder, sondern steht einer ganzen Familie vor – inklusive Mutter. Das klingt veraltet, ist aber üblicher Sprachgebrauch. Eine Familienmutter gibt es hingegen nicht, obwohl in vielen Familien inzwischen eindeutig die Frau die Hosen anhat. Und auch nicht, wenn der Vater abhanden kam.

Auch ist von der Sprache her definiert, von welchem Elternteil das Kind welches Kulturgut erhält: Vom Vater gibt es das Land, in dem gelebt wird. Es bezeichnet nicht nur den heimischen Acker, der früher in männlicher Linie weitervererbt wurde, sondern das große Ganze: die Heimat, das Zugehörigkeitsgefühl, Sitten und Gebräuche. Von der Mutter gibt es die Sprache, die die Verständigung untereinander erst möglich macht.

Aber kommen wir zu den Kindern an sich: Dass der Junge ein sprachliches Geschlecht hat, das Mädchen aber nicht, ist inzwischen hinlänglich bekannt. Gleiches gilt für die eher süddeutschen Knaben, Buben und Burschen, auch hier sind die Mädel neutral. Die arme, veraltete Maid hatte ein Geschlecht, befindet sich aber nicht mehr im täglichen Sprachgebrauch.

Spannender wird es, wenn man dem Volk ein wenig auf’s Maul schaut und sich anhört, wie Eltern oder andere mit der Erziehung von Kindern betraute Personen über die Kinder sprechen: Jungen sind oft „der kleine Mann“, man sieht in ihnen den ganzen Kerl, der aus ihnen einmal werden soll. Auch der „Sohnemann“ ist oft zu hören. Noch nie habe ich gehört, dass jemand die Tochter „die kleine Frau“ nannte, und „Tochterfrau“ klingt richtig seltsam. Eher heißt es da „die junge Dame“ oder „das kleine Fräulein“, und das ist oft nicht besonders nett gemeint. Man beschreibt damit gerne kleine Zicken, die unerwünschtes Verhalten zeigten.

Liebevoller klingt es, wenn Väter von ihrer kleinen Prinzessin sprechen. Man wundert sich dann allerdings nicht mehr darüber, dass kleine Mädchen fast alle irgendwann die monströse Rosa-Glitzerprinzessinnen-Phase haben. Kleine Prinzen gibt es auch, aber in diesem Fall scheint das eher unerwünscht zu sein, klingt es doch sonst arg nach einem verzogenen Kind.

Auch assoziiert man mit jungenhaftem oder mädchenhaftem Verhalten stets etwas ganz Bestimmtes: Jungenhaft bedeutet auf charmante Weise lausbübisch, auf Abenteuer aus und ein wenig waghalsig – so wie Huck Finn auf seinem Floß. Mädchenhaft ist deutlich sanfter, vorsichtiger und fürsorglicher. Ein Mädchen mit jungenhaftem Verhalten ist eine kleine Wildkatze, ein Junge mit mädchenhaftem Verhalten ist leider oft noch immer ein wenig verdächtig.

Und damit will ich es gut sein lassen mit meinem Gerede über die Geschlechter in unserer Sprache. Wem noch etwas einfällt, der schreibe es gerne in die Kommentare, denn bestimmt habe ich reichlich vergessen, und genauso sicher habe ich nicht überall Recht.

Es wird heiß!

Gerade habe ich den Wetterbericht gehört: Es soll heiß werden in Frankfurt, und dazu natürlich drückend und schwül wie immer. Durch diese Aussicht fiel mir dieses kleine Geschichtchen wieder ein.

Hitze – und sonst nichts Besonderes

Das Gewitter kam an einem Freitagabend. Es war einer dieser Freitage, an denen ich es nicht erwarten kann, endlich den Schreibtisch aufräumen und das Wochenende einläuten zu können. Noch war gutes Wetter, aber Regen war angekündigt. Würde die Zeit noch für einen Kurzbesuch im Schwimmbad reichen, oder zumindest für ein Kaffeestündchen auf dem Balkon? Ich hatte es eilig!

Die Straßenbahnfahrt quer durch die Stadt erschien mir endlos. Frankfurt ist schön, aber im Sommer glühen die Straßen und kein Luftzug erreicht die Innenstadt. Nach der kühlen, klimatisierten Luft im Büro kommt es mir dann oft so vor, als sei ich draußen von einer warmen, nassen Wolke umgeben. Mehr als einmal habe ich mich schon dabei ertappt, wie ich mit den Armen so etwas wie Schwimmbewegungen mache, um dieser Substanz zu entrinnen. Natürlich ist der einzige Effekt dieser Übung dann jedes Mal, dass die Leute auf der Straße mich befremdet anblicken. Dieser Freitag war also ein solcher Tag und als ich meine Wohnung erreichte, klebte mir das Kleid am Körper, die Zunge am Gaumen. Dazu, mich in dieser Gluthitze noch einmal hinauszuwagen, und sei es in Richtung Schwimmbad, fehlte mir einfach die Lust.

Ich entschied mich also dazu, den Rest des Nachmittags lesend auf dem Balkon zu verbringen. Ein gutes Buch, Saft, Kekse – ich trage gerne meinen halben Hausstand hinaus auf den Balkon. Auch MP3-Player gehört dazu, denn schließlich möchte ich meine Ruhe haben und die Geräusche der Nachbarn möglichst gar nicht wahrnehmen. Nicht ausblenden kann ich freilich den Lärm der aufsteigenden Flugzeuge, die an einigen Tagen so tief über mir dahinziehen, dass ich sie fast am Bauch kraulen möchte. Aber an diese Störungen habe ich mich inzwischen gewöhnt und nehme sie als unvermeidliches Übel hin.

An diesem Tag war es jedoch angenehm ruhig, wenn auch drückend heiß. Ich verbrachte zwei anregende Stunden in der Gesellschaft von John Irving und Brian Ferry – eine wunderbare Mischung. Und noch etwas erschien mir wunderbar: Einer meiner Nachbarn hatte wohl Kuchen gebacken, der Duft zog in warmen, süßen Strömen in meine Nase und ließ mich lächeln. Ich bin keine große Bäckerin, aber daheim hatte es früher oft so gerochen, wenn wir Kinder aus der Schule oder vom Spielen heimkamen. Ja, so roch zuhause. Genussvoll schnüffelnd blickte ich von meinem Buch auf.

Was ich sah, ließ mich staunen: der Himmel, der vor kurzem noch von einem fast unnatürlich scheinenden Blau mit einigen Wattewölkchen gewesen war, leuchtete inzwischen in einem unwirklichen Stahlgrau. In der Ferne aber, über dem Stadtwald, ragte eine schwarze Wand auf, aus der bereits die Blitze schossen. Es sah aus, als würde da hinten die Welt untergehen. Und dabei war es doch hier, nur einige Kilometer weg von diesem Unwetter, noch gar nicht mal schlechtes Wetter. Im Gegenteil, die leichte Abkühlung empfand ich als angenehm. Und so hoffte ich, dass sich das Wetter noch ein Weilchen dort hinten austoben würde, damit ich noch sitzen bleiben und den Kuchenduft genießen konnte.

Ich beobachtete träge die Blitze. Dieses Warten auf den Regen erinnerte mich an die heißen Sommer meiner Kindheit. Wir hatten auf dem Land gewohnt, mit Spielgeräten im großen Garten, reichlich Platz zum Toben und einer ganzen Meute von Kindern in der Nachbarschaft, die alle in etwa im gleichen Alter waren wie meine große Schwester und ich. Im Sommer hatten wir fast nur draußen gespielt, mal alle zusammen, dann wieder in kleineren Grüppchen. Wir tobten und rannten, die Wärme machte uns wenig aus. Ab und zu aber liefen wir ins Haus, um durstig Wasser und Saft in uns hineinzuschütten. Und natürlich bettelten wir um Eis, das wir manchmal sogar bekamen – selbstgemachtes Fruchteis, das in kleinen Plastiktöpfchen steckte und dessen Stil beim Ablutschen etwas sonderbar roch. Damit und mit dem Wasser, dass in einer großen alten Zinkwanne für uns draußen stand, kühlten wir uns ab. Und an vielen Abenden erwarteten wir fast ungeduldig eines der Sommergewitter, das uns Erfrischung bringen und den Staub aus der Luft waschen würde. Wir spielten dann wie in Wartestellung: Federballsets und Bälle waren schon in den Schuppen, Puppen und Wolldecken ins Haus gebracht worden. Wir Kinder saßen dann oft nur träge herum und schwatzten ein wenig, oder aber wir holten, sehr zum Unmut unseres Vaters, diverse Dinge aus dem Schuppen wieder heraus. Manchmal vergnügten wir uns an solchen Abenden auch auf der Wippe, zwei Kinder auf jedem Sitz, eines balancierend auf der schwankenden Mitte. Aber ganz gleich, was wir taten, in erster Linie warteten wir ab.

Wenn das Gewitter dann tatsächlich losbrach, gab es für uns nichts Spannenderes, als es genau zu beobachten: Wer sah den ersten Blitz? Und wie lange dauerte es, bis der Donner folgte? Einundzwanzig, zweiundzwanzig – unsere Aufregung war groß, wenn beides, Blitz und Donner, unmittelbar aufeinander folgten und sich draußen wahre Sturzbäche ergossen. „Jetzt sind wir mittendrin!“, kreischte dann immer jemand und wir starrten wie gebannt aus dem Fenster. Und dabei hofften wir schon, dass es nicht mehr zu lange dauern würde mit Blitz und Donner und dass es danach noch ein Weilchen kräftig schütten würde. Denn dann, wenn die Gefahr, vom Blitz erschlagen zu werden, vorbei war, durften wir hinaus in den warmen und doch so angenehm kalten Regen. Nur mit T-Shirt und Unterhose bekleidet hopsten wir herum wie kleine Kobolde, kichernd auf dem Rasen schlitternd. Das ging so lange, bis die Mutter uns hereinrief: „Zeit fürs Bett!“ Natürlich waren wir müde, aber trotzdem wurden jedes Mal noch ein paar Minuten herausgeschunden – so, wie ich heute nicht aus dem Bett hinaus will, wollte ich damals nicht hinein. Schon gar nicht, wenn es nach einem heißen Tag endlich Abkühlung gab.

Auch an diesem Freitag sehnte ich mich nach einer Erfrischung. Gierig reckte ich meinen Körper jeder Windbö entgegen, immer auf der Suche nach Kühle. Der Wind jedoch war warm, fast tropisch, und half mir nicht aus dem Schwitzen heraus. So war es früher natürlich auch manchmal gewesen: Das Gewitter zog weiter, die ersehnte Abkühlung blieb aus. An diesen Tagen half nur der Gartenschlauch.

Meine Eltern waren eigentlich strikte Gegner der deutschen Eigenart, an jedem Abend den Garten unter kostbares Leitungswasser zu setzen. Dennoch besaßen wir einen Wasserschlauch, der jedoch hauptsächlich dazu verwendet wurde, Kinder und Väter zu unterhalten. Dazu wurde der Sprenger nicht auf Dauerbetrieb gestellt, sondern es wurde vorne eine Düse aufgeschraubt, die wohl eigentlich zum Blumen gießen gedacht war. Mit ihr konnte man zielgenau spritzen, mit kaltem, kräftigen Strahl traf das Wasser auf erhitzte Körper. Das brachte deutlich mehr als das Schießen mit einer altmodischen Wasserpistole! Die Spritzerei übernahm am Anfang entweder mein Vater oder der Nachbar. Sie jagten uns hin und her durch den Garten und wir liefen aufgeregt herum, lachend und schubsend. Wir fühlten uns sehr mutig, wenn wir direkt vor dem jeweiligen Spritzmeister herumturnten und Faxen machten. Irgendwann tauschten wir dann immer die Rollen, jeder durfte mal sprengen. Und auch die Väter schienen das immergleiche Spiel zu genießen, viele Sommer lang. So lange, bis wir eines Tages zu groß dafür wurden – oder zumindest glaubten, es zu sein. Denn auch an diesem Abend, an dem ich in feuchtheißer Schwüle auf meinem Frankfurter Balkon saß und zusah, wie es andernorts regnete, wünschte ich mir jemanden mit einer Wasserspritze. Jemanden, der Spaß daran hätte, hemmungslos herumzualbern, Grasflecken auf die Hose und vor Lachen einen Schluckauf zu kriegen. Natürlich, fiel mir ein, hätte dieser jemand außer dem Rasensprenger auch einen dazu passenden Rasen haben müssen.

An diesem Abend kam leider niemand mit einer Wasserspritze. Ich saß weiter auf meinem Balkon, schnüffelte nach dem Kuchenduft, der langsam verflog, hörte Jazz und beneidete die Leute hinter dem Stadtwald um ihren Regen. Denn bei uns blieb es, wie es war: feucht-heiß. Und dabei hätte ich es an diesem Abend mal wieder tun mögen: einfach hinauslaufen, durch Pfützen patschen, Tropfen mit der Zunge fangen. Sicherlich nicht in Unterhosen, aber ein paar meiner alten Sommerkleider erscheinen mir wie geschaffen für solche Spiele. Und wer weiß, vielleicht hätte ich da draußen ja jemanden getroffen, der die gleiche Idee hatte wie ich und der gemeinsam mit mir durch die nassglänzenden Straßen gelaufen wäre. Aber ohne Regen, das war mir klar, würde ich einen solchen Gefährten heute nicht finden.

Ich blieb also auf meinem Balkon sitzen, mit John Irving und leiser Musik, und es geschah nichts. Außer vielleicht einer Kleinigkeit: Mir wurde plötzlich bewusst, was für ein Wunder mir soeben passiert war: Auf einer dünnen, duftenden Kuchenspur war ich für eine Weile in die Vergangenheit geflogen, war über dreißig Jahre zurückgereist in meine Kindheit. Ich hatte den Regen gespürt, die feuchte Erde gerochen, das Lachen der anderen gehört. Vaters dröhnenden Bass, Mutters Kopfschütteln, ihre Stimme: „Ihr seid ja verrückt, alle miteinander!“. Ich hatte sogar ihre Hände gespürt, die mich mit einem Frotteehandtuch trocken rubbelten. Das alles war an diesem Freitagabend plötzlich wieder da, obwohl eigentlich nichts Besonderes passiert war – weder damals, in den Sommern der siebziger Jahre, noch an jenem Freitag, auf meinem Balkon in Frankfurt.