„Ich gehe mit meiner Latereeerne … rabimmel-rabammel-rabumm …“ Anja hörte die Stimmen der Kinder wie aus weiter Ferne, obwohl die warme, etwas klebrige Hand ihres laut mitsingenden Patenkindes sich fest an ihre klammerte. Sie selbst sang nicht, zu sehr waren ihre Gedanken mit einem Laternenumzug beschäftigt, der nun schon fast 30 Jahre zurück lag. Acht Jahre war sie damals alt gewesen und hatte schon zu „den Großen“ gehört, die damals mit einer selbst gemachten Laterne hinter Sankt Martin auf seinem großen weißen Pferd hergelaufen waren. Eigentlich war dieser Umzug für Kindergartenkinder gedacht, doch die Mutter hatte sie nicht allein zuhause lassen mögen und so musste sie mit. Natürlich war das eigentlich unter ihrer Würde gewesen, doch sie wusste, dass am Ende alle Kinder eine kleine Tüte mit Süßigkeiten ausgehändigt bekamen. Sie war nicht das einzige große Geschwisterkind gewesen, dass den Umzug mitmachte, auch ihre Schulkameradin Nicole war mit von der Partie.

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Ein Windstoß ließ die Laternen der Kinder hin und her schwingen und blies Anja die Haare ins Gesicht. Zusätzlich setzte ein leichter Sprühregen ein. So ein Sauwetter aber auch. Was hatte man sich nur dabei gedacht, diese Laternenumzüge ausgerechnet in die unwirtlichste Zeit des Jahres zu verlegen? Sie beneidete Antonia fast ein wenig um die rote Matschhose, in die das Kind eingepackt war.
„Darf ich mit Frau Löhr gehen?“, hörte sie da die helle Stimme Antonias und folgte dem ausgestreckten Zeigefinger des Kindes mit ihrem Blick. Was sie sah, ließ sie schmunzeln: Frau Löhr, die Direktorin des Kindergartens, hatte einen riesigen Schirm ausgepackt, unter dem sich einige der Kindergartenzwerge zusammendrängten. Wie sie den bei diesem Wind festhalten wollte, war Anja unklar, aber das sollte nicht ihr Problem sein. „Klar, geh nur.“ Sie ging alleine weiter.
„Hat mein illoyales Kind dich allein gelassen?“, hörte Anja kurze Zeit später die Stimme ihrer Freundin Lena, Antonias Mutter. Sie musste lachen. „Ja, der große Schirm wirkte verlockender, als neben der alten Patentante nass zu werden.“ Sie grinste, aber es wirkte etwas wehmütig. Lena deutete die Grimasse richtig. „Das ist dein erster Laternenumzug seit damals, oder?“ Ja, das war es. Anja war nie wieder in einer Novembernacht mit einem kleinen Licht herumgelaufen, und sie war nie wieder auf einem Friedhof gewesen. Seit 28 Jahren nicht. Sie mied diese Orte wie der Teufel das Weihwasser.
Damals, vor 28 Jahren, hatten sich „die Großen“ nach und nach zusammengefunden und ein eigenes Grüppchen gebildet. Zu fünft waren sie gewesen, sie und Nicole, deren 10-jähriger Bruder und zwei Jungen, die Anja aus dem Sportverein kannte. Natürlich hatten sie keine Kinderlieder gesungen, sondern waren lachend und schwatzend hinter den anderen her gebummelt. Ab und zu hatte sich einer der Erwachsenen nach ihnen umgedreht und kurz durchgezählt, ob noch alle da waren. Und sie, „die Großen“, hatten versucht, einander mit Schauergeschichten zu erschrecken. Wer auf die Idee gekommen war, auf dem alten Friedhof herumzulaufen, konnten sie hinterher nicht mehr sagen.
Das große Haupttor des Friedhofs war bereits abgeschlossen gewesen, als der Laternenumzug daran vorbeiging. Deshalb hatten die Kinder sich gegenseitig über die Mauer geholfen. Anja erinnerte sich noch immer daran, wie Nicoles Bruder sie am Hintern angeschoben hatte, damit sie, die Kleinste, es auch über die alte Steinmauer schaffte. Auf diese Weise waren sie alle auf dem Friedhof angekommen, dreckig von der alten, bemoosen Mauer und einer der Jungen mit einem Loch in der Hose. Sie hatten aufgeregt gekichert und mit ihren Laternen, die damals noch von Teelichten beleuchtet wurden, neugierig die Ecken ausgeleuchtet. Zwischendurch hatten sie versucht, einander zu erschrecken, waren hinter Grabsteinen hervorgesprungen und hatten „Buuuhuhuuu!“ gerufen, gekreischt und gekichert. Einige der Erwachsenen gaben später an, den Lärm der Kinder vom Friedhof gehört zu haben. Man hatte den Kindern aber nicht den Spaß verderben wollen.
„Denkst du noch viel an damals?“, wollte Lena wissen und Anja nickte. „Ja. Jeden Tag. Eigentlich wollte ich auch nicht mitgehen heute.“ Lena nickte verstehend. Sie wusste, dass der Herbst für die Freundin eine schwere Zeit war. Sie hatten oft darüber geredet, über den Laternenumzug, die Vorfälle auf dem Friedhof und vor allem über die Zeit danach. Aber all das Reden, Überlegen und Spekulieren hatte nichts geholfen. Sie wussten einfach nicht, was damals geschehen war. Niemand wusste das.
„Weißt du“, redete Anja weiter, „das Schlimmste war wohl, dass uns damals keiner geglaubt hat. Sie haben uns befragt, wieder und wieder, und keiner hat uns geglaubt, was wir dort gesehen haben.“
Sie hatten Spaß gehabt auf dem Friedhof, und natürlich auch ein bisschen Angst. Es war genau das Maß an Grusel, das ausreicht, um sich so richtig wohl zu fühlen – wie in einer klapprigen alten Geisterbahn. Ab und zu waren sie auseinandergelaufen, hatten sich versteckt, hatten wieder zuammengefunden und einander die schönsten Grabsteine gezeigt. Und dann, als Anja und einer der Jungen gerade versuchten, einen uralten Grabstein zu entziffern, hatten sie die weiße Gestalt gesehen. Zuerst war sie mehr ein Schatten gewesen, dann war sie immer deutlicher geworden, war über den Friedhof geflogen und hatte die Kinder dazu gebracht, laut schreiend in Richtung Ausgang zu laufen. Zu dem Teil der Mauer, der niedrig genug war, um zu flüchten. Anjas Laterne war erloschen, sie rannte nur hinter dem zuckenden Licht her, das die Kerze des Jungen warf. Als sie an der Mauer ankamen, waren sie nur zu dritt. Von irgendwoher hörten sie eine Stimme rufen – einer der Jungen fand den Ausgang nicht. „Hierher“, riefen die Kinder, „hier sind wir!“ Sie waren wieder losgelaufen, auf den Rufer zu, hatten einander dabei fest an den Händen gehalten. Und wieder hatten sie die weiße Frau gesehen. Sie war auf sie zugeschwebt, in raschem Tempo, und sie hatten einander losgelassen und waren hinter die Grabsteine gesprungen, schreiend zuerst, dann ganz still. Erst, als sie ein paar männliche Stimmen hörten, die nach ihnen riefen, hatten sie sich heraus getraut. Anja erinnerte sich, wie sie auf das Licht einer großen Taschenlampe zugelaufen war, die ein junger Mann von der freiwilligen Feuerwehr geschwenkt hatte. Weinend war sie ihm in die Arme gefallen. „Nana“, hatte er gesagt und gelacht, genau wie all die anderen Erwachsenen gelacht hatten. Aber da wussten sie ja auch noch nicht, was geschehen waren. Sie wussten nicht, dass Nicole nicht zurückkam.

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Die achtjährige Nicole verschwand an diesem Novemberabend auf dem Westfriedhof, und sie tauchte nicht wieder auf. Man suchte sie, und man befragte die Kinder – hatten sie etwas gesehen? Alle vier Kinder sprachen von der unheimlichen weißen Frau, doch niemand glaubte ihnen. Eine weiße Frau, was sollte das sein? Wahrscheinlich war das irgendein Schatten gewesen, oder eine herumflatternde Plastiktüte. Es gab gewiss einen natürlichen Grund, der die Panik bei den überreizten Kindern ausgelöst hatte.
Nicole blieb verschwunden, ihr Platz in der Klasse leer. Irgendwann begannen die Kinder, Blumen auf diesen Platz zu legen. Als das neue Schuljahr anfing, wurden die Plätze neu vergeben und es gab keinen Tisch mit Blumen mehr. Die meisten Kinder vergaßen Nicole.
Anja hingegen hatte sie nie vergessen. Immer wieder hatte sie versucht, jemanden von dem Vorhandensein der weißen Frau zu überzeugen, jedoch erfolglos. Als sie 12 war, schickten ihre Eltern sie zu einer Psychotherapeutin. Diese half ihr, das Erlebnis zumindest soweit zu verarbeiten, dass sie damit weiterleben konnte. Und doch, es war immer noch in ihr. Es nagte an ihr. Noch immer wachte sie nachts deswegen auf, denn noch immer erschien ihr im Traum die weiße Frau.
An diesem Abend beschloss Anja, dass es genug wäre. Sie würde sich ihren Ängsten stellen und auf diesen Friedhof gehen. Nicht irgendwann, sondern jetzt sofort. Oder besser gesagt, gleich im Anschluss an den Laternenumzug.
„Leihst du mir mal deine Laterne?“, fragte sie Antonia und diese, bereits eifrig beschäftigt mit der Süßigkeitentüte von St. Martin, nickte großzügig. Anja nahm die Laterne und verließ die Gruppe, ohne sich lange zu verabschieden. Die Kapuze tief im Gesicht stapfte sie gegen den Wind und den feinen Regen an. Sie wusste nicht, was sie auf dem Friedhof finden würde – wahrscheinlich gar nichts. Oder zumindest nichts Interessantes. Aber sie war es leid, sich von diesem Ereignis in der Kindheit ihr Leben vermiesen zu lassen. Heute Abend hatte sie schon einen Laternenumzug überstanden, sie würde auch einen Friedhofsbesuch überstehen.
Wieder war das Friedhofstor verschlossen. Anja suchte nach der niedrigen Stelle in der Mauer – da war sie. Obwohl sie inzwischen ausgewachsen war merkte sie, dass sie sich beim Überklettern der Mauer wieder richtig dreckig machte. Sie fluchte halblaut, knipste dann aber ihre Laterne an und leuchtete damit herum. Alles ruhig. Anja kicherte nervös – was hatte sie denn erwartet? Sie machte ein paar Schritte von der Mauer weg, ging auf den Hauptweg. Sie erkannte nichts wieder. In ihrer Erinnerung hatte es immer nur die weiße Frau gegeben. Jetzt hingegen war es hier völlig unspektakulär. Langweilig fast.
Und dann sah sie sie: die weiße Frau. Sie erschien direkt vor ihr und schwebte auf sie zu, langsam dieses Mal. Anja wollte schreien und weglaufen, so wie damals. Doch sie zwang sich, zu bleiben. Als die unheimliche Gestalt näherkam, sah Anja sie zum ersten Mal richtig: Es war eine Frau in altmodischer Kleidung, mit einer komplizierten Flechtfrisur und zarten Gesichtszügen.
„Was willst du von mir?“, fragte Anja zittrig und hob abwehrend die Hände. „Du muss mich nicht fürchten, Kind“, säuselte die weiße Frau leise, und ihre Stimme verschwand fast im Wind. „Ich bin froh, dass du zurückgekommen bist. Denn es ist nicht recht, so wie es ist!“ Anja schüttelte den Kopf. „Was hast du mit Nicole gemacht?“, wollte sie wissen und die Frau sah sie traurig an. „Nicht ich habe dem Kind Schlechtes getan. Ich wollte helfen, doch ich bin ein Geist. Mich sieht nur, wer an mich glaubt. Kinder, oder solche, die von mir wissen. Alle anderen können mich nicht sehen oder fühlen. Und so konnte ich die Kleine nicht retten.“ Anja stockte fast der Atem, doch sie fragte weiter: „Was ist passiert?“ „Er war es“, erklärte die weiße Frau. „Der Mann mit dem Schlüssel zum Tor. Er hat ihr aufgelauert und als sie mit ihrer Laterne an ihm vorbeitanzte, hat er sie geschnappt und mit in sein großes Auto gezogen. Ich konnte es nicht verhindern.“

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Anja konnte es immer noch nicht begreifen. „Du meinst, da war ein Mann mit Schlüssel? Er hat sie mitgenommen? Und dann, was hat er mit ihr gemacht?“ Die weiße Frau begann zu weinen. „Er hat sie zurückgebracht. Kalt und tot war sie da, und das ist nicht recht. Er hat sie in ein frisches Grab gelegt und zusammen mit einem alten Mann bestattet. Dort …“ Sie wies auf ein Grab, das tatsächlich seit 28 Jahren bestand. Albert Wagner lautete die Inschrift auf dem Grabstein. Obwohl November war, blühten auf diesem Grab unzählige bunte Blumen. „Ich pflege das Grab“, erklärte die weiße Frau. „Das ist alles, was ich für die Kleine tun kann. Aber es ist nicht recht, so wie es ist. Sie muss ein eigenes Grab haben, damit ihre Familie trauern kann.“ „Ich kümmere mich darum“, versprach Anja. „Aber sag mir: Wer bist du?“ Die weiße Frau lächelte ein wenig. „Mein Name ist Adele von Zitzewitz. Ich kam nicht zur Ruhe, weil ich nach meinem Kindlein sehen wollte. Ich habe die Geburt nicht überlebt und wollte doch sehen, wie es Klara geht.“ Ihre Miene wurde traurig. „Leider starb sie mit drei Jahren an den Masern.“ „Oh…“, war alles, was Anja betroffen sagen konnte. Die weiße Frau sah aus, als wolle sie sich von Anja verabschieden. „Du musst jetzt gehen, Kind. Es ist nicht gut, in diesem Novemberwetter draußen zu sein. Pass auf, dass es dir nicht auf die Lunge schlägt. Am besten, du nimmst einen heißen Stein mit ins Bett.“ Mit diesem guten Ratschlag verschwand die weiße Frau so leise, wie sie gekommen war. Anja blieb zurück, mit einer durchweichten Laterne in der Hand und vielen Zweifeln. War sie nun völlig verrückt geworden?
Sie fand keinen Schlaf in dieser Nacht. Sie wollte sich darum kümmern, dass Nicole gefunden und ordentlich beerdigt wurde, und sie hatte keinen Zweifel daran, dass ihr Leichnam sich in dem Grab befand, das die weiße Frau so hingebungsvoll pflegte. Doch wie sollte sie das der Polizei begreiflich machen, ohne in die Psychiatrie eingewiesen zu werden?
Sie beschloss, die Flucht nach vorn anzutreten. Bei der Arbeit meldete sie sich krank – elend genug ging es ihr dafür. Und dann ging sie zur Polizei. Tatsächlich gab es einen älteren Beamten, der sich noch gut an die Sache erinnern konnte. „Ja, das kleine Mädchen“, sagte er nachdenklich. „Möchte gerne wissen, wo das hingekommen ist.“ „Ich weiß es“, sagte Anja und straffte die Schultern. „Ich weiß es und ich sage es Ihnen – aber nur, wenn Sie mir versprechen, dann auch da nachzugucken und mich nicht einfach nur für verrückt zu erklären.“ Nach einigem Zögern versprach der Polizist es ihr. „Wir haben ja nichts zu verlieren bei diesem Fall“, meinte er. Und Anja erzählte.
Es dauerte noch einige Tage, bis das Grab Albert Wagners geöffnet wurde. Seine Angehörigen waren damit einverstanden, wurde es doch ohnehin allmählich Zeit, das Grab des Großvaters aufzulösen. Tatsächlich fand man in der Grabstätte zwei Skelette – ein großes und ein kleines. Und da Anja mit ihren Informationen Recht gehabt hatte, glaubte man ihr jetzt auch, dass es ein Mann mit einem Schlüssel zum Friedhof gewesen war, der das Mädchen entführt hatte. Es gab deren nur drei, und nur einer hatte damals ein großes Auto gehabt. Er leugnete es nicht.
Anja nahm an der offiziellen Beerdigung Nicoles teil. Die Eltern und der Bruder, die allesamt die Ereignisse noch immer nicht richtig verarbeitet hatten, bedankten sich bei ihr. Und auf dem Grab erschienen, kaum dass es geschlossen war, unzählige bunte Blumen, obwohl es November war und schon leicht schneite.

Bild zur Verfügung gestellt von Lilo Kapp, http://www.pixelio.de. Eine ganz ähnliche Laterne hatte ich übrigens früher.