Sie hat ihr Leben lang gebacken

An einigen Schreibworkshop-Abenden ging es rund um das Thema Kulinarik, Duft, Geschmack und Textur. Das ist ja teilweise nicht so einfach zu beschreiben. Viele Spaß machen dabei immer die kleinen Übungen, bei denen man sehr schnell etwas zusammenschreiben muss, das günstigstenfalls auch noch zum Thema passt. Bei dieser Übung hier sollten wir uns Gedanken machen um Hingabe und Kreation in der Küche. Dazu wurden in kurzen Abständen Worte in die Runde geworfen, die auch noch mit eingebaut werden mussten. Das waren: Garten, Kostüm, Gewitter, Windspiel, Holzschachtel, Goldfisch, Anwalt, Bucht, Gaslaterne, Brief

Ich muss sagen, der Anwalt und der Goldfisch haben mir gleichermaßen Sorgen bereitet. 🙂

Sie hat ihr Leben lang gebacken

Die alte Frau liebte es, zu backen. Sie benutzte dazu das alte Backbuch, das sie in der Haushaltungsschule bekommen hatte, sowie eine handschriftliche Sammlung von Rezepten, die in einem dicken Notizbuch mit ABC-Register standen. Sie verarbeitet besonders gerne die Früchte aus dem eigenen Garten – Stachelbeeren, Kirschen, Erdbeeren und Rhabarber, aber auch die Johannisbeeren Pflaumen, die sie in guten Obstjahren von den Nachbarn bekam. Zum Backen trug sie stets ihre alte, rotkarierte Latzschürze, die einer ihrer Enkel einmal ihr Kuchenkostüm genannt hatte. Die Kinder wussten: Sobald Oma diese Schürze anzog, gab es bald etwas Leckeres.

Erbstücke: Kuchen in der geerbten Napfkuchenform und auf dem geerbten Kuchengitter

Beim Backen hielt die Frau sich stets an das Rezept. Eher hätte sie sich in einem Gewitter nackt auf eine Wiese gestellt, als auf eigene Faust etwas abzuändern. Beim Backen muss man genau sein, das hatte ihr schon ihre eigene Großmutter immer gepredigt. Wenn man nicht genau ist, wird der Kuchen wackelig wie ein Windspiel im Sturm, das hatte sie auch ihrer Tochter immer gesagt. Umso mehr befremdete es sie jetzt, dass ihre Enkelin sich zu einer hervorragenden Bäckerin entwickelt hatte, obwohl sie die Rezepte abwandelte, neu interpretierte oder manchmal etwas ganz frei Schnauze kreierte. Sogar Pralinen hatte die 17-jährige schon hergestellt und ihrer Oma stolz überreicht, nett hergerichtet in einer mit hellem Baumwollstoff ausgeschlagenen Holzschachtel.

Die alte Frau war eine gute Bäckerin, das wusste sie. Und doch zweifelte sie inzwischen. Hätte sie mehr wagen sollten? Eigene Rezeptideen anwenden, Traditionelles umwandeln? Hätte sie Großes schaffen können? War sie kulinarisch wie ein Goldfisch im Kreis herumgeschwommen, eingeengt durch die engen Grenzen ihrer Backbücher? Sie war 82 Jahre alt und spürte erstaunt, wie viel sie von dem jungen Mädchen schon jetzt lernen konnte. Wenn sie gemeinsam in der Küche arbeiteten, waren sie einander so nah wie sonst nie. Und dass die junge Frau nicht Bäckerin, sondern Anwältin werden wollte, fand sie fast ein bisschen schade. Gleichzeitig freute sie sich darüber – hatte sie doch nach dem Volksschulabschluss die Schule verlassen müssen, obwohl sie für ihr Leben gerne Ärztin geworden wäre.

Während ihre Hände im Brotteig versanken und mechanisch kneteten, dachte die alte Frau lange nach. Was alles möglich war in diesen Zeiten! Eine Frau konnte Kanzlerin werden, junge Leute zelteten in der Karibik in irgendeiner Bucht und die dabei entstandenen Kinder wurden vom Gesetz her nicht benachteiligt. Alte Leute liefen Marathon und mit dem Flugzeug kam man so schnell überall hin, wo sie selbst noch nie hatte sein wollen – es war faszinierend! Sie selber hatte ja noch im Licht einer Gaslaterne lesen lernen müssen, damals in dem winzigen Bergdorf, in dem sie aufgewachsen war. Heute hatte man auch dort Strom, und an guten Tagen sogar Internet.

Wie rasant sich die Welt geändert hatte. Die Hausarbeit und das Backen waren stets ihre Konstanten gewesen, etwas, das ihrem Leben einen Rahmen gegeben hatte. Nur mit diesem Halt war es ihr möglich gewesen, die vielen Wendungen, die ihr Leben genommen hatte, zu ertragen. Vor einigen Jahren war ihr geliebter Mann gestorben. Er war lange krank gewesen und hatte gewusst, dass sein Ende nah war. Er hatte ihr zum Abschied einen Brief geschrieben, in dem er sich bei ihr für alles bedankt hatte: Für die Liebe, die erfüllte Zeit, die fünf gemeinsamen Kinder. Und ganz besonders für ihren Kuchen, denn der hatte auch seinem Leben Halt gegeben.

Makkaroni mit Mockturtle – in Omas Küche

Wieder mal eine Hausaufgabe, dieses Mal aus dem Kulinarik-Workshop: Es ging um ein Lebensmittel, das für uns untrennbar mit etwas verbunden ist. Einige Schreibkollegen entwickelten hier fantasievolle Geschichten, ich blieb irgendwie in meiner Erinnerung hängen und musste im Nachhinein feststellen, dass ich über dieses Essen tatsächlich schon mal geschrieben habe – wenn auch in einem anderen Zusammenhang. Das war im Jahr 2013! Nun ja – ich mag es halt einfach gerne 🙂

Makkaroni mit Mockturtle – in Omas Küche

Ich bin hoch im Norden aufgewachsen, genau genommen im Ammerland. Kulinarisch geht es dort deftig zu, Grünkohl mit Pinkel ist wohl das Bekannteste, was dort auf den Speiseplan gehört. Ebenfalls wichtig sind Kartoffeln – wenn es in den 70er Jahren zwei Tage nacheinander keine Kartoffeln zu essen gab, startete der typische Ammerländer einen Protestfeldzug und klagte gar fürchterlich. Nudeln, von uns Kindern schon damals heiß geliebt, galten allgemein als ungesunde Dickmacher und Reis war etwas, von dem man generell nicht leben konnte. Nun ja – die Milliarden von Asiaten hatte man dazu wohl nicht befragt.

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Kartoffeln – Bild von Pixabay

Es gab zuhause also nur selten Nudeln zu essen. Oma war da offener. Bei ihr gab es selbst an hohen Feiertagen schon mal Spiralnudeln zum Gulasch, und weil sie von aufbrausendem Temperament war, wagte es nicht mal mein Vater, dagegen aufzumucken. Und wenn wir Kinder bei Oma waren, was relativ oft der Fall war, gab es sogar Spaghetti oder, noch häufiger, lange Makkaroni. Und zu diesen Makkaroni gab es eine Ammerländer Spezialität, die eher schwierig zu beschreiben ist. „Dat is wat Kleinfleisch in Soße“, so beschrieb es einmal eine Touristin, die den Mut besessen hatte, dieses eigentlich als Suppe gedachte Gericht zu bestellen und nun ratlos vor dem dicken, dunkelbraunen Zeug saß. Ursprünglich ein Seefahrergericht und als Ersatz für Schildkrötensuppe gedacht, gab es diese Suppe in meiner Kindheit oft auf Familienfeiern, dann mit einem dreieckig halbierten Toastbrot. Was genau drin ist, habe ich nie erforscht, und ich will es auch eigentlich gar nicht wissen. Was ich aber weiß ist, dass Makkaroni mit Mockturtle für mich für immer untrennbar mit Omas Küche und viel Spaß verbunden sein wird.

Omas Küche war alt, der Boden bewegte sich ein bisschen, wenn man über das Linoleum lief. Jeder hatte seinen festen Platz – Oma saß vor dem Küchenbuffet, Opa links davon, meine Schwester vor der Spüle und ich auf der kleinen Bank mit dem Kunstlederbezug, der eine karierte Prägung hatte, die ich unzählige Male mit meinen Fingern nachgemalt habe.

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Aus den Wikipedia Commons: Mockturtle_Wilfried Wittkowsky. Irritierenderweise mit Klößen …

In Omas Küche sah es immer mal wieder anders aus als bei uns, wo es immer pingelig sauber war. Wenn sie kochte, arbeitete sie schwungvoll und „mit weiter Streuung“, wie mein Vater zu sagen pflegte. Das bedeutete nichts anderes, als dass von einem geschnittenen Kohl ein nicht unerheblicher Teil auf dem Boden landete, Mehl seinen Weg über Tisch und Schränke fand und sich je nach zubereiteter Speise überall ominöse Fingerabdrücke wiederfanden. Sie trug stets eine Kittelschürze, und die zeigte jedem aufmerksamen Beobachter genau das Menü des Tages.

Bei Oma zu essen war anders als zuhause, denn bei ihr ging es deutlich weniger streng zu, was die Tischmanieren anging. Sie war halt auch nicht dazu verpflichtet, uns zu erziehen – Omas haben eine andere Rolle. Bei ihr durfte man Tee aus der Untertasse trinken und die Makkaroni mit der Soße einschlürfen. Selbst, wenn man versuchte, diese Nudeln ordentlich zu essen, saute man sich unweigerlich ein. Es gibt eigentlich keinen logischen Grund dafür, ausgerechnet diese unpraktischsten aller Nudeln zu kaufen. Es war wohl so, dass Oma selbst Spaß an diesen unförmigen Dingern hatte, und Opa machte stoisch mit und schnitt sich seine Portion in mundgerechte Stückchen. Das tat Oma bei uns übrigens irgendwann auch, aber immer erst, wenn wir schon alles vollgesaut hatten.

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Es hätte durchaus praktischere Alternativen zu den Makkaroni gegeben – Bild von Pixabay

Natürlich ferkelten wir nicht bei jeder Mahlzeit so herum, aber es gab immer wieder übermütige Stunden, in denen wir in Omas Küche Dinge taten, die wir zuhause niemals gedurft hätten. Kirschkernspucken zum Beispiel – eine Beschäftigung, bei dem Omas ausladendes Dekolletee das Ziel darstellte. Oder Kaugummiblasen machen, bei dem beide Großeltern mitmachten und sich dabei ganz fürchterlich an einem Konglomerat aus Hubba Bubba und dritten Zähnen verschluckten. Dabei wurde viel geschimpft, viel gelacht und irgendwann, wenn man erschöpft zur Ruhe kam, wurde der alte Boiler über der Spüle angeschaltet und nochmal Tee gemacht, um wieder zu Kräften zu kommen.

Kirschkernzielspucken habe ich schon lange nicht mehr gemacht und auf Hubba Bubba stehe ich auch nicht mehr so. Meinen Tee trinke ich nun brav aus der Tasse, was auch daran liegt, dass ich gar keine Untertassen mehr benutze. Aber Mockturtle kaufe ich immer noch. Ich esse sie nicht mehr mit Makkaroni, schließlich muss ich meine Kleidung inzwischen selbst waschen. Aber noch immer, wenn ich die Dose öffne und mir der leicht katzenfutterartige Geruch in die Nase steigt, fühlt sich der Boden unter meinen Füßen an wie Linoleum auf einem Holzboden und ich fühle mich sehr zuhause. Und das, obwohl mein Zuhause inzwischen schon seit vielen Jahren nicht mehr das flache, ländliche Ammerland, sondern Frankfurt am Main ist. 

Die Oma im Wolf

Als Kind habe ich Märchen geliebt: Bevor ich selber lesen konnte, bekam ich sie vorgelesen oder durfte sie auf Platten hören. Später las ich sie selber, ich hatte einige dicke Märchenbücher: Märchen der Welt und Tiermärchen. Am liebsten waren mir aber immer die altmodischen Märchen der Gebrüder Grimm. Zum einen, weil die – im Gegensatz zu denen von Hans Cristian Andersen – immer ein Happy End hatten (zumindest für die Hauptperson). Und zum anderen, weil sie simpel zu verstehen waren, gut und böse war klar abgegrenzt.

Ein stark vorgealtertes Rotkäppchen nebst Wolf auf Kürbis – Bild zur Verfügung gestellt von Ruth Rudolph / http://www.pixelio.de

Natürlich wusste ich, dass diese Märchen pure Erfindung waren: Zwar konnte ich mir noch vorstellen, dass man Stroh zu Gold spinnen kann – die Farbe passt ja schon mal. Auch konnte ich mir vorstellen, dass ein Esel Goldmünzen kackt – das ist sicher nur eine Sache der richtigen Fütterung. Und die Sache mit Dornröschen – nun ja, das mit den hundert Jahren war sicher nur eine Methapher. Die hatten ja damals noch gar nicht so genaue Kalender. Doch eine Frage bewegte mich schon früh, und die Erinnerung daran lässt mich immer wieder in dumpfes Brüten verfallen: Denn wie, ja wie nur hat die Großmutter in den Wolf gepasst? Eigentlich hätte sich jedes intelligente Kind diese Frage stellen müssen, und ich verstehe nicht, wieso dieses Märchen noch immer nicht verboten wurde.

Ich hätte mich wahrscheinlich gar nicht großartig gewundert, wenn der Wolf die Großmutter einfach nur gefressen hätte. Es gab ja viele große Tiere früher, man denke nur an das Mammut und den Tyrannosaurus Rex. Dieser Wolf aber musste die Oma ja auch noch im Ganzen hinunterwürgen, inklusive Nachthemd. Denn ansonsten hätte der Jäger sie nicht unversehrt wieder herausholen können, und im Text stand nichts davon zu lesen, dass sie nackt gewesen wäre oder dass der brave Mann sie erst wieder zusammensetzen musste.

Mein Misstrauen in dieses Märchen mag natürlich auch daran liegen, dass für mich eine handelsübliche Großmutter immer ein wenig … nun ja … nennen wir es „mollig“ zu sein hatte. Meine kleine Oma Hedwig war pummelig, meine große Oma Erna war dick. Also so richtig dick. Da hätte der Wolf wohl schon den Kürzeren gezogen, wenn er sabbernd im Schlafzimmer aufgetaucht wäre. Der arme Kerl wäre wohl auch schon allein von dem Nachthemd satt gewesen. Und wenn dann Oma ohne Nachthemd da gestanden hätte und ein Jäger wäre reingekommen – ohgottogott! Ich will mir diese Szene einfach nicht weiter ausdenken.

Oma Erna mit zwei Wölfen – Opa Carl und Onkel Fidi. Bild von der Hochzeitsfeier meiner Eltern.