Zwei fremde Leben

Vor zwei Wochen hatte ich ein Erlebnis, das gleichzeitig schön, aber auch merkwürdig und irgendwie verstörend war: Ein Freund von mir hatte gemeinsam mit seiner Mutter ein Haus geerbt. Es hatte zwei hochbetagten Leuten gehört, die vor einigen Jahren verstorben waren. Dieses Haus wurde nun verkauft, und zwar so, wie es war – unrenoviert und mit Inhalt. Die Käufer hatten kein Interesse an den vielen Sachen im Haus, sodass der Freund uns vorschlug, mal durchzugehen und zu gucken, ob wir etwas haben möchten. Wäre ja gut, denn dann würde nicht alles weggeschmissen. Schön, dachte ich, das ist ja wie ein „Flohmarkt für umsonst“. Ich freute mich darauf und überlegte, dass ich vielleicht eine schöne Kaffeekanne gut gebrauchen könnte.

Zu fünft betraten wir also das fremde Haus. Ich glaube, wir Gäste waren alle ein bisschen aufgeregt, denn obwohl wir die früheren Bewohner nicht kannten und es keinerlei emotionale Bindung an das Haus und dessen Inhalt gab, hatten wir doch das Gefühl, in zwei fremde Leben einzudringen. Dementsprechend verhalten begannen wir, uns umzusehen. Zögernd wurden erste Schranktüren geöffnet. Alle hatten wir mal gelernt, dass man bei fremden Leuten nicht in die Schränke glotzt – das musste man erst mal loswerden. Wir teilten uns auf – zu dritt sahen wir uns unten um, die Herren begannen aus irgendeinem Grund mit dem Dachboden. Anfangs spähten wir immer gemeinsam in jeden Schrank, erst langsam begannen wir, auch Sachen herauszunehmen und genauer anzugucken. Jeder suchte sich eine Ecke auf einem Tisch, um das Häufchen der „will ich haben“-Sachen dort abzulegen.

Was wir fanden, war in erster Linie Geschirr. Kaffeeservice, Teeservice, Gläser – ich glaube, die Hausbewohner hätten eine Kaffeetafel für 60 Personen ausrichten können, ohne irgendwo Geschirr auszuleihen. Schnell fand ich eine hübsche Kaffeekanne. Und dann noch eine. Und noch eine. Eine Freundin nahm eine Teekanne – auch zu dem Set gab es eine hübsche Kaffeekanne. Ich zeigte ihr eine andere Teekanne – auch die fand sie schön. Unsere Stapel wuchsen. Ein schöner Kuchenteller mit Rosenmuster – hinreißend altmodisch. Eine gut dazu passende Tortenplatte – ganz entzückend. Die andere Freundin fand ebenfalls einen Tortenteller – hübsch gemustert in einem sonnigen Gelb.

Schallplatte, abgebildet Wim, Wum und Wendelin

alte Bekannte – solche Platten hatte meine Oma auch

Vieles versetzte uns mit Schwung zurück in die 70er und 80er Jahre. Erstaunlicherweise war Etliches original verpackt und offensichtlich nie benutzt worden – elektrische Bratenmesser, Brotmesser mit Scheibendickeneinsteller (mindestens zwei), etwa 15 Brotkörbe. Auch Anderes gab es in so großer Zahl, dass wir es kaum fassen konnten – was macht man denn mit mindestens 100 Untersetzern in dekorativen Schachteln? Und wie viele Spülbürsten verbraucht man Zeit eines Lebens? Warum bevorratet man so etwas? Das gute Tafelsilber lag bunt gemischt mit billigstem Besteck, wie es auf Kaffeefahrten verteilt wird, in der Lade. Ganze Bestecksets waren noch original verpackt – teils hochwertig, teils aus scharfkantigem gepresstem Blech. Zierliche Mokkasets, wie unbenutzt, und Gläser aus verschiedenen Dekaden – alles war so überreichlich vorhanden, dass man gar nicht wusste, wo man hingucken sollte. Denn im ersten und zweiten Stock ging es ähnlich weiter: von allem viel, oft so gut wie neu. Selbst im zweiten Stock fand ich noch einen Geschirrschrank, den ich aber nur kurz öffnete und dann aufgab – zu unübersichtlich war die darin aufgestapelte Masse.

Auch Andenken gab es, die wir nur ansahen, wenn sie uns direkt vor die Finger fielen. So lag auf einem Tisch eine Kinokarte aus dem Jahr 1960. Woanders sahen wir eine Postkarte, die auf 1943 datiert war. Foto- und Andenkenalben gab es ebenfalls, aber die sahen wir kaum an – das Gefühl, zu tief in die Privatsphäre fremder Menschen einzudringen, war dabei zu stark.

Am meisten beeindruckte mich jedoch die Küche: Denn hier sah man, wie das Paar, abseits von Sammelwut und Vorratsdenken, gelebt hat. Und das war anscheinend bescheiden. In den Küchenschränken befand sich einfaches, viel benutztes Geschirr. Angeschlagene Kaffeebecher und Senfgläser für die kalten Getränke. Das in den Wohnzimmerschränken war offensichtlich „für gut“ gewesen und geschont worden. Ähnlich kenne ich das von meinen Verwandten, die auch alle „das gute Geschirr“ in den Wohnzimmerschränken gehabt hatten.

alte Küche mit Blumen an den Fliesen und HähnchengrillNachdem wir unsere geplanten zwei Stunden durch das Haus gegangen waren, sichteten wir die gesammelten Werke auf den Wohnzimmertischen. Ich stellte drei Viertel wieder zurück, und so machten es auch die anderen. Nicht, weil es nicht schön gewesen wäre, sondern weil wir es nicht brauchten. Weil auch unsere Schränke schon voll genug sind und wir nicht in der Masse ertrinken wollen, wie es diesen beiden alten Menschen anscheinend passiert ist. Ich nahm eine Kaffeekanne und noch ein paar Sachen, ließ aber die Tortenteller zurück – ich habe zwei, und nie habe ich mehr als zwei Kuchen, die ich gleichzeitig anbieten müsste. Auch zwei Spülbürsten – originalverpackt – nahm ich mit. Doch ich widerstand dem Nähkasten und der Schachtel mit den vielen Rollen Nähgarn in Rottönen – so viele Knöpfe kann ich gar nicht basteln. Auch meine Freunde wählten jeweils nur einige Sachen, sodass wir später zu viert mit all unseren Schätzen in ein kleines Auto passten.

Dieser Nachmittag hat mich sehr beschäftigt und bewegt. Es war doch etwas ganz anderes als ein normaler Flohmarkt. Ich glaube, so tief war ich noch nie im Leben zweier völlig Fremder. Und ich hoffe, dass noch einige der im Haus angehäuften Sachen einen Abnehmer finden. Vielleicht kann ein Sozialkaufhaus noch etwas gebrauchen, oder die neuen Besitzer haben Spaß daran, einiges auf dem Flohmarkt oder bei Ebay zu verkaufen. Aber es ist schwierig – die Mengen im Haus sind so groß und unübersichtlich, noch dazu ist es teilweise so voll, dass man sich kaum bewegen kann. Wenn man das sortieren will, braucht man wirklich Zeit.

Laffeekanne mit blauem Muster und Saftkaraffe

Ein Teil meiner Ausbeute

Nachtrag: Ich wüsste gerne, wie es einmal sein wird, wenn mein Haushalt aufgelöst wird. Ob es mein Neffe sein wird, der durch die Wohnung streift und sich darüber wundert, was die Tante alles angesammelt hat? Oder gebe ich selber mal alles weg, um in ein Zimmerchen in einem Altenheim zu ziehen? Es ist wohl zu früh, darüber nachzudenken, aber nicht zu früh, um mal wieder auszusortieren – wehret den Anfängen!

Nachtrag 2: Ja, ich weiß, auch ich habe zu viel von allem. Besonders Bastelsachen und Wolle reichern sich bei mir an. Aber ich habe meinen Gelüsten nachgegeben und dem Freund, der uns eingeladen hat, am Tag nach der Hausbegehung eine Nachricht geschrieben: Ob er mir wohl doch noch das Nähkörbchen und die Schachtel mit den Garnrollen sichern könnte? Er kann! 🙂

Aus Mutters Nähkasten

Die Weihnachtsfeiertage verbrachte ich wie immer bei meiner Schwester in Norddeutschland. Hier schlummern immer noch einige Dinge aus dem Nachlass meiner Mutter, bei denen wir uns nicht so recht sicher sind, was wir damit anfangen sollen. Zum Wegwerfen zu schade, aber gebrauchen kann es so recht auch niemand. Dieses Mal war der Nähkasten Gegenstand unserer Diskussion. Eines vorab: Er passte in meinen Koffer.

Als ich ein Kind war, hatte meine Mutter einen dieser typischen runden Nähkörbe auf drei Beinen. Soweit ich mich erinnere, war er gelb, in etwa so wie dieser hier. Ich habe dieses eher unpraktische Ding immer geliebt, denn in ihm waren so schöne Dinge wie die Knöpfekiste und die Box mit den verschiedenfarbigen Nähseiden. Auch ein Kopierrädchen und Schneiderkreide gab es dort, außerdem allerhand Stoffreste für Flicken. Die Knöpfekiste gibt es noch, ich habe heute schon ein wenig darin herumsortiert – genau wie früher.

Die alte Knöpfekiste – wohl ursprünglich mal ein Schminktäschchen

Irgendwann wollte meine Mutter den Korb im 70er-Jahre-Design nicht mehr herumstehen haben, so dass mein Vater ihm die Beine amputierte und der Korb im Schrank verschwand. Noch später wurde das Körbchen durch eine praktische Kunststoffbox ersetzt – ich bekam nach meinem Auszug die gleiche für meinen Nähkram geschenkt. Und hier kommen wir schon zu meinem Nähkorb-Dilemma: Es ist nicht so, dass ich von diesen Dingen nichts daheim hätte. Nun besitze ich also eine zweite dieser Boxen. Wahrscheinlich werde ich meine Stricknadeln da hineinsortieren.

Auf jeden Fall besitze ich jetzt neben den vielen Knöpfen noch zahlreiche andere Dinge, die mir bislang nicht gefehlt haben: Ich habe jetzt einen Stopfpilz und diese Festhaltedinger von Hosenträgern, ein Trennmesser und jede Menge Häkelnadeln (ich erbte auch schon die meiner Oma – vielleicht sollte ich doch mal anfangen, zu häkeln). Den großen Beutel herausgetrennter Reißverschlüsse habe ich schweren Herzens entsorgt, genauso wie die Stoffflicken.

Ebenfalls weggeworfen habe ich etwa die Hälfte des Stopfgarns – denn ich habe noch nie was gestopft. Wir hatten aber viel Spaß daran, die vielen Kärtchen mit Stopfgarn einmal genau anzugucken, denn das zeigte uns doch deutlich, wie sich die Zeiten geändert haben. Zum einen stand auf einigen der Kärtchen noch der alte Preis drauf: 35 Pfennig für 5 Gramm. Zum anderen wurde auf vielen Kärtchen stolz hervorgehoben, dass es sich bei dem Garn um haltbare Synthetikfasern gehandelt hat – heute in der Handarbeit eher verpönt. Und zum dritten ließ uns das wilde Farbangebot etwas schmunzeln: Neben den typischen gedeckten „Sockenfarben“ gab es jede Menge kunterbunte Garnkärtchen in Türkis oder Knallrot – vielleicht mal gekauft für unsere Kindersocken.