Wir hatten mal wieder eine Lesung: „Märchen“ lautete das Thema. Und mir wollte so gar nichts einfallen. Ich bat also den Workshopkollegen Robert Maier um ein Wort als Anregung und er schickte mir den Begriff „Lottogewinn“. Nun, hier ist also
Der kleine große Lottokönig

Auf das Glück!
Es war einmal ein ganz normaler, unbedeutender Mann, der hieß Herr Schmidt. Er war nicht schön, er war nicht hässlich, er war nicht dumm und er war nicht klug. Er war recht kurz gewachsen und ein bisschen pummelig, und er sah gutmütig aus. Er war einfach so, wie die meisten unbedeutenden Männer sind. Und wie sie gehörte er zu den kleinen Leuten, zu denen, die nicht ganz arm sind, aber auch überhaupt nicht reich.
Herr Schmidt wohnte in einer nicht zu kleinen Wohnung in einem großen Haus. Es gab viele Wohnungen in diesem großen Haus, und in allen wohnten kleine Leute wie Herr Schmidt. Es war eine Wohngegend für kleine Leute, und viele dort hatten große Probleme.
Herr Schmidt hatte keine Probleme. Er lebte ohne Sorgen in seiner Wohnung, ging morgens ins Büro, war beliebt bei seinen Kollegen und dachte nicht allzu viel über seine Arbeit nach. Es war nämlich nicht besonders schwer, was der Herr Schmidt in dem Büro zu tun hatte: Er verwaltete Papier und Bleistifte, Druckerpatronen und Briefumschläge. Wenn jemand einen Bleistift brauchte, suchte Herr Schmidt ihm einen passenden aus und gab ihn durch ein kleines Fenster hinaus. Dann machte er einen Strich auf einer Karteikarte, und wenn er Zeit hatte, hielt er noch einen Schwatz.
Herr Schmidt hatte fast immer Zeit, und er schwatzte gern. Wenn Herr Schmidt einmal nicht da war, brach der Betrieb nicht zusammen, aber man vermisste ihn, denn sein Vertreter Herr Meier war ein alter Sauertopf. Der plauderte nicht, während er einen Bleistift aussuchte. Herr Meier war nämlich wichtiger als Herr Schmidt, zumindest fand er das, und deshalb hatte er keine Zeit. Herr Schmidt und Herr Meier vertrugen sich, ohne sich zu mögen, denn sie saßen schon seit vielen Jahren gemeinsam in einem Büro. Immer schon war Herr Meier wichtiger gewesen als Herr Schmidt, und dem war das egal.
Die Abende verbrachte Herr Schmidt zumeist zu Hause. Er ging wenig aus, denn er hatte keine Frau, trieb keinen Sport und betrank sich nicht gerne. Ab und an ging er mit Kollegen kegeln oder ins Kino, dann hatte er Spaß. Meistens aber ging er nach der Arbeit nach Hause, werkelte noch ein bisschen herum, aß dann ein paar Butterbrote und eine Tomate und sah dabei fern. Manchmal schlief er vor dem Fernseher ein und war ein wenig durcheinander, wenn er wieder aufwachte. Aber auch das bekümmerte ihn wenig.
Eines Abends, als er wieder einmal vor dem Fernseher eingeschlafen war, erwachte er davon, dass ihm jemand mit einem Stöckchen in die Seite piekste. „Hmmm?“, machte Herr Schmidt und sah sich verwirrt um. Vor ihm stand eine blonde Frau in einem seltsamen glitzernden Röckchen. Sie sah nicht bedrohlich aus, eher wie ein Funkenmariechen, doch Herr Schmidt erschrak trotzdem ein wenig.
„Wer sind Sie denn? Und wie kommen Sie hier herein?“
„Guten Abend, Herr Schmidt! Heute ist Ihr Glückstag! Ich bin Karin, Ihre gute Fee, und Sie haben einen Wunsch frei!“
„Ich, einen Wunsch? Wieso das denn?“
Karin erklärte es ihm: „Wir vergeben monatlich einen Wunsch an kleine Leute. Dieses Mal ist die Wahl auf Sie gefallen, weil Sie den Inhalt der Kegelkasse, die Sie gewonnen haben, an das Kinderdorf gespendet haben. Das täten nicht viele Leute in Ihrer Situation.“
Herr Schmidt wunderte sich, protestierte aber nicht. Einen Wunsch freizuhaben, das klang doch ganz angenehm. Aber was sollte er sich wünschen?
„Was soll ich mir denn wünschen?“, fragte er die gute Fee und die zuckte die Achseln.
„Keine Ahnung. Was können Sie denn gebrauchen, oder was wollten Sie schon immer mal haben?“
Herr Schmidt überlegte. So eine Frage wollte gut durchdacht werden, und er war kein besonders schneller Denker. Karin, die gute Fee, versuchte ihn zu beraten: ein Auto vielleicht? Aber nein, Herr Schmidt brauchte kein Auto, er hatte ja die Straßenbahn, und Parkplätze gab es hier ohnehin nicht. Dann eine größere Wohnung oder eine Einbauküche? Dafür hatte Herr Schmidt jedoch auch keine Verwendung, er kochte selten und hielt seine Wohnung für ausreichend. Die Fee hatte noch eine Idee: Wie wäre es denn mit einer schlankeren Figur? Herr Schmidt sah an sich herunter, klopfte sich das Bäuchlein und verneinte. Mit einer anderen Figur bräuchte er eine neue Garderobe, und er ging so ungern anprobieren.
Irgendwann, nach über zwei Stunden intensiver Diskussion, reifte in Herrn Schmidt ein kleiner, zaghafter Gedanke. Er fasste sich ein Herz und sprach es endlich aus: „Ich hätte gerne, wenn es nicht zu viel Mühe macht, eine nette Frau. Sie muss nichts Besonderes sein, kein Model oder so, auch zu groß sollte sie nicht sein. Nur lieb sollte sie sein, und sie sollte mich mögen.“
„Na, das ist doch mal ein vernünftiger Wunsch“, sagte Karin und notierte sich das. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Es kann aber ein wenig dauern, für richtig nette Frauen muss man manchmal Umwege gehen.“ Her Schmidt nickte und verstand.
Am nächsten Morgen dachte er kaum noch an die gute Fee, denn er nahm an, er hätte vor dem Fernseher schlafend einen Blödsinn geträumt. Fast hätte er die Episode ganz vergessen. Doch dann, an einem frühlingshaften Samstagvormittag, klingelte es bei ihm und ein netter älterer Herr kam zu Besuch. Er brachte Herrn Schmidt die Mitteilung, dass er 50 Millionen Euro im Lotto gewonnen hätte, sowie einen versiegelten Brief. Den schwachen Protest von Herrn Schmidt, der beteuerte, dass er gar keinen Lottoschein ausgefüllt habe, wischte er beiseite, ermahnte den widerstrebenden Gewinner, nicht alles auf einmal auszugeben und verschwand. Herr Schmidt saß da mit einem Verrechnungsscheck über 50 Millionen Euro und diesem seltsamen Brief. Er öffnete das Siegel und eine Wolke von Sternenstaub flog ihm entgegen. Nachdem er aufgehört hatte zu niesen, begann er zu lesen:
„Mein lieber Herr Schmidt,
vielen Dank für die anregenden Gespräche mit Ihnen sowie für Ihren sehr vernünftigen Wunsch nach einer passenden Gefährtin. Leider sind nette Frauen derzeit nicht ohne Weiteres lieferbar, sodass ich Sie bitten muss, sich Entsprechendes selber zu besorgen. Der anbei gelieferte Lottogewinn soll Ihnen dabei behilflich sein.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Suche nach einer netten Frau,
Ihre gute Fee Karin“
Herr Schmidt saß da wie vom Donner gerührt. Die Fee war also doch kein Traum gewesen. Aber was sollte er denn mit so viel Geld anfangen? Sollte er sich eine Frau kaufen, wie im Lied „Das schöne Mädchen von Seite eins“? Sollte er sich ausstaffieren wie ein Gockel, das Fett absaugen und die Lider straffen lassen, um einer Frau zu gefallen? Das gefiel Herrn Schmidt nicht. Er zahlte deshalb das Geld erst mal auf sein Girokonto ein, ignorierte die aufgeregten Anrufe seines Bankbearbeiters und lebte weiterhin sein kleines, bescheidenes Leben.
Es geschah aber gerade zu dieser Zeit, dass der Kindergarten in dem Viertel, in dem Herr Schmidt wohnte, so alt und marode wurde, dass Wasser durch das Dach lief und die Wände schimmelten. Das war schlimm, aber die Gemeinde hatte kein Geld für einen neuen Kindergarten und es wollte keinem eine Lösung einfallen. Herr Schmidt wusste, wie wichtig eine gute Bildung für Kinder ist, dachte dann an das viele Geld auf seinem Konto und kaufte ein leer stehendes Haus gleich in seiner Nähe, dass er der Gemeinde schenkte. Die Menschen in seinem Viertel freuten sich und nannten den Kindergarten „Lottokönigs Kinderparadies“. Und das freute Herrn Schmidt.
Dem Kindergarten folgten Lottokönigs Sportplatz, Lottokönigs Spielwiese und die Lottokönig-Grundschule, der Lottokönig-Park und das Lottokönig-Tierheim. Das Viertel wurde viel ansehnlicher, und die kleinen Leute in den Wohnhäusern hatten plötzlich weniger Probleme. Und das Schönste war, dass niemand wusste, wer dieser geheimnisvolle Lottokönig war, der all diese guten Taten vollbrachte, der für die Notleidenden und Obdachlosen spendete und wie ein guter Geist über das Viertel wachte. Herr Schmidt fühlte sich tatsächlich wie ein kleiner unbekannter König, der täglich sein Bad in der Menge nahm und dabei doch seine Privatsphäre genießen konnte.
Der Einzige, der eine Veränderung an Herrn Schmidt bemerkte, war der sauertöpfische Herr Meier. Der fand nämlich, dass der kleine Herr Schmidt irgendwie ein bisschen größer aussah, fast so, als würde er sich wichtiger nehmen als sonst. Und damit hatte er auch recht: Immer, wenn Herr Schmidt jetzt durch sein Stadtviertel lief, sah er mit Stolz, wie schön alles geworden war. Dieses Gefühl nahm er mit in die Arbeit, und wenn Herr Meier wieder einmal schlecht gelaunt war oder jemandem den längeren Bleistift neidete, sah er ihn tadelnd an. Das hatte er früher nie getan. Herr Meier hatte nicht mal gewusst, dass der harmlose Herr Schmidt tadelnd gucken konnte. Dass er es konnte, gefiel Herrn Meier nicht. Deshalb kaufte er sich einen unauffälligen grauen Mantel und ganz weiche Schleichschuhe und begann, den Kollegen Schmidt zu bespitzeln. Immer schlich er hinter ihm her und guckte, was er machte.
Eines Tages kam Herr Schmidt wieder einmal mit der Straßenbahn von der Arbeit und stieß beim Aussteigen mit einer Frau zusammen. Er erkannte sie nicht, aber sie erkannte ihn:
„Sie sind doch der Herr Schmidt? Ich habe sie gesehen, als Sie gestern nach Hause kamen. Ich bin Sarah, Ihre neue Nachbarin.“

Turteltäubchen
Herr Schmidt sah Sarah an und musste lächeln. Sie war nicht hässlich, aber auch nicht schön, doch sie lächelte so warm und ihre Augen leuchteten in dem schönsten Braun, das er je gesehen hatte: ein dunkles Bernsteinbraun mit goldenen Punkten. Ohne Zweifel, sie war eine richtig nette Frau. Er stellte sich vor und blickte verlegen zu Boden, als sie ihn für den Abend zum Tee einlud. Zum ersten Mal in seinem fast fünfzigjährigen Leben war Herr Schmidt nervös wegen einer Frau. Und auch Herr Meier war nervös, als er am Abend im Flur lauerte und sah, dass Herr Schmidt mit einer Flasche Wein in der Hand und im guten Hemd zu seiner Nachbarin herüber ging. Denn dass der unbedeutende Kollege ein Rendezvous hatte und er selber nicht, konnte Herr Meier kaum ertragen.
Herr Schmidt verbrachte einen schönen Abend bei Sarah, und er hatte richtig Spaß – sogar noch mehr als beim Kegeln. Das lag nicht nur an der netten Frau, sondern auch an ihren zwei wohlerzogenen Kindern, einem Jungen von acht und einem Mädchen von fünf Jahren. Sarah erzählte ihm, dass sie nie in diesem Viertel hatte wohnen wollen und dass sie die neue Wohnung nur genommen hatte, weil es hier einen schönen Kindergarten und eine gute Grundschule gab. „Eine gute Bildung ist wichtig für die Kinder, weißt du, Herr Schmidt?“ Herr Schmidt wusste das.
Von nun an traf er sich immer öfter mit Sarah, ging mit ihr aus, mal mit und mal ohne Kinder, und beauftragte irgendwann einen Handwerker, um einen Durchgang zwischen ihrer beider Wohnungen zu bauen. So lebten sie wie eine Familie zusammen und waren glücklich. Und eines Tages, als Herr Schmidt gerade am Spielplatz auf die Kinder wartete, spürte er wieder dieses Pieksen eines Feenstabs in seiner Seite. Er sah sich um und erblickte Karin, die gute Fee. Herrn Meier, der in einem unauffälligen Trainingsanzug aus dunkelgrauer Ballonseide und mit einer Schirmmütze hinter ihm stand, bemerkte er nicht.
„Und“, fragte Karin, „sind Sie zufrieden?“
Er nickte und sagte „Oh ja, besser hätte ich es nicht treffen können. Es war ja ein bisschen umständlich mit diesem Lottogewinn, aber besser so, als gar nicht.“
Karin stimmte ihm zu. „Und ist es in Ordnung für Sie, dass Sie nicht nur eine Frau, sondern auch gleich zwei Kinder geliefert bekamen?“
Wieder nickte Herr Schmidt. „Aber ja. Erst, als ich mich für den Kindergarten eingesetzt habe, wurde mir klar, wie wichtig mir Kinder sind. Das habe ich ja alles gar nicht gewusst.“
Karin wirkte beruhigt, die Sache mit den Kindern hatte sie doch ein wenig nervös gemacht. Eine letzte Frage hatte sie aber noch: „Und sind sie mit dem Geld ausgekommen?“
Eifrig nickte Herr Schmidt. „Oh ja, es sind sogar noch ein paar Millionen übrig. Wenn Sie mir sagen, wohin ich das überweisen soll, zahle ich das gerne zurück.“
Karin schüttelte den Kopf. „Oh nein, das wird nicht nötig sein. Wie ich hörte, wollen Sie bald heiraten – gönnen Sie sich doch einmal was.“ Herr Schmidt versprach, darüber nachzudenken.
Herr Meier aber bekam vor Neid einen roten Kopf und eine Gallenkolik: Herr Schmidt hatte im Lotto gewonnen und hatte den Kollegen nichts von dem Geld abgegeben! Nicht einmal davon erzählt hatte er! Statt dessen hatte er das Vermögen irgendwelchen Arme-Leute-Kindern gegeben und poussierte mit einer jüngeren Frau herum – wenn das kein Skandal war! Wie konnte jemand nur so viel Glück haben! Herr Meier beschloss, das Verhalten des Herrn Schmidt öffentlich und den Kollegen so unmöglich zu machen.
Gleich am nächsten Tag erzählte Herr Meier also jedem, der es hören wollte oder auch nicht, dass Herr Schmidt heimlich ein Lottokönig sei und dass er sein ganzes Geld für unnützes Zeug ausgegeben habe, anstatt es mit dem Kegelklub oder den Kinofreunden zu vertrinken. In irgendeinen Kindergarten habe Herr Schmidt investiert, schimpfte Herr Meier, und die Kollegen hörten aufmerksam zu.
Die Nachricht machte wie ein Lauffeuer die Runde in der Firma: Zwei Jahre lang hatte sich die ganze Stadt gefragt, wer der unbekannte Lottokönig war, der sich so für das Gemeinwohl eingesetzt hatte. Jetzt wussten plötzlich alle, dass es ihr Herr Schmidt war: Ja, sie hatten es immer gewusst, der kleine Herr Schmidt war ein ganz Großer. Und wie schön, dass er endlich eine nette Frau gefunden hatte.
Die Kollegen von Herrn Schmidt überlegten, wie sie ihm und seiner Sarah eine Freude machen konnten. Und weil ihnen nichts Besseres einfiel, richteten sie für die beiden eine Verlobungsfeier aus: Herr Schmidt tanzte mit allen Damen und Sarah mit allen Herren, nur nicht mit Herrn Meier. Den plagte schon wieder die Galle und er war zu Hause geblieben, um sich ordentlich zu grämen.
Nachtrag: Manchmal werde ich gefragt, warum die Leute in meinen Geschichten so heißen, wie sie heißen. Meistens hat das keinen Grund, sie bekommen halt den Namen, der mir gerade einfällt. Dieses Mal ist das etwas anders: Herr Schmidt heißt Schmidt, weil das der häufigste Name in Deutschland ist (fasst man alle gleich klingenden Namen zusammen). Und die Meiers, zusammen mit den Mayers, Maiers oder Mayers, landen auf Platz 2. Es gibt also verdammt viele Schmidts und Meiers da draußen, und ich bin trotz allem optimistisch, dass die Schmidts ein paar mehr sind.
Gefällt mir:
Like Wird geladen …