Mit meinem Schreibgrüppchen „Die Frankfurter Schreibweisen“ hatte ich mal wieder eine Lesung. Dieses mal war die hübsche kleine Buchhandlung „Weltenleser“ unser Gastgeber. Hier gibt es ein schönes, ungewöhnliches Buchsortiment und eben ab und zu auch Lesungen. Da wir das erste Mal dort zu Gast waren, wählten wir uns als Thema ebenfalls den Begriff „Weltenleser“ und es entstanden sehr unterschiedliche Geschichten und sogar ein Gedicht. Ich las die Geschichte …
Der Lumpensammler und die Tänzerin
Berlitz hatte sie schon oft gesehen: Eilig, mit blicklosen Augen, war sie an ihm vorbeigehastet, das Gesicht bleich, die Lippen zusammengepresst. „Keine Zeit“, sagte dieses Gesicht, „sprich mich nicht an, ich habe keine Zeit.“ Viele liefen so herum. Wieso gerade sie ihm aufgefallen war, konnte Berlitz nicht so genau sagen. Sie hatte nichts Besonderes an sich, war vielleicht sogar etwas farblos. Auch entsprach sie nicht im entferntesten dem Typ Frau, den Berlitz in Zeiten, in denen er sich noch nach Frauen umgedreht hatte, bevorzugt hatte. Er mochte üppige Frauen mit kräftigen Rundungen, die laut und herzlich waren und lachten wie ein wieherndes Pferd. Seine Anna war so eine Frau gewesen, eine mit Mutterbrust und einer Stimme wie ein Nebelhorn. Aber Anna war nicht mehr, die Zeit mit ihr war ein anderes Leben gewesen. Nach ihrem Tod hatte auch Berlitz körperlich abgebaut, kein Wunder, schließlich war er deutlich über siebzig. Eigentlich sogar über achtzig, aber das sagte er nie, denn das klang so alt. Seit er nicht mehr richtig laufen konnte, verbrachte er seine Zeit in der Stadt, oft im Eingang zum Kaufhof. Im warmen Luftstrom stand er trocken und sicher, immer gut bewacht von einem Sicherheitsmann, der es zunächst gar nicht hatte glauben können, dass der Mann mit Rollstuhl und Kaschmirmantel nicht dort stand, um zu betteln, sondern um zu gucken: Er wollte sehen, wie das Leben vorbei lief, wollte mit dem einen oder anderen ein Schwätzchen halten und nicht alleine in seiner Wohnung sein. Bei gutem Wetter saß er am Stadtbrunnen und sah den Kindern beim Planschen zu, an kühleren Tagen aber wurde es der Kaufhof.

Wunderschöne Pfingstrosen stellten die Blumendekoration im Weltenleser dar.
Berlitz hatte noch immer einen guten Blick und ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Er hatte gemerkt, dass die unscheinbare Frau schon seit einigen Tagen nicht mehr vorbeigehastet war. Ob sie Urlaub hatte, oder gar krank war? Er dachte jeden Abend ganz kurz an sie, gerade lange genug, um sie nicht ganz zu vergessen. Und dann, eines Abends, sah er sie. Zunächst glaubte er an eine Verwechslung, denn das, was dort die Fußgängerzone herunter gesprungen kam, konnte unmöglich die gehetzte Frau sein. Sie tanzte und hüpfte, das Gesicht vom Lachen ganz hell. Und das, obwohl es regnete wie aus Kübeln. Bei einem solchen Wetter hatte Berlitz schon ganz andere Leute mit schlechter Laune gesehen. Er lächelte, nickte ihr zu und rief sie an.
„Hallo meine Liebe! Das ist ja eine Freude, Sie so zu sehen! Geht es Ihnen gut?“
Sie trat zu ihm unter das Vordach des Kaufhofs, nahm die nasse Kapuze ab und schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Aber ich versuche alles und ich lerne.“
„Sie lernen? Das ist immer gut. Was lernen Sie denn?“
„Ich lerne das Glücklichsein. Mein Therapeut sagt, man kann das üben. Lächle die Welt an und sie lächelt zurück. Durch die Stadt tanzen soll ich und dabei lachen. Und mit den Leuten reden – so wie jetzt mit Ihnen.“
Berlitz schmunzelte. „So, dann bin ich also ein Teil Ihrer Hausaufgabe. Ich fühle mich geehrt. Leider muss ich Ihnen sagen, dass ich eine einfache Aufgabe war – das gibt höchstens einen Punkt. Denn ich rede viel, gerne und fast mit jedem.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Nun, ein Punkt ist besser als keiner. Gestern bin ich leer ausgegangen. Aber jemand, der bei diesem Mistwetter durch die Stadt tanzt, fällt natürlich auf, da fragen sich die Leute, ob man vielleicht einen Sprung in der Schüssel hat.“
Berlitz nickte verständnisvoll. „Und, haben Sie?“ Sein Blick war trotz seiner leicht trüben Augen unverhohlen neugierig.
„Mein Therapeut sagt, nein. Er meint, ich sei erschöpft und hätte eine leichte Depressionsneigung, aber ohne krankhafte Ausprägung. Außerdem sei ich zu ernst und zu schüchtern und finde deshalb keinen Anschluss in dieser beschissenen Stadt.“
„Warum gehen Sie nicht zurück nach Hause?“
„Weil ich da auch keinen Anschluss hatte“, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. „Meine Eltern sind gestorben, als ich Anfang zwanzig war. Meine Schwester kriegt ein Kind nach dem anderen und mein Bruder lebt in Kanada. Und mein Freund hat sich eine Jüngere gesucht – weil eine Freundin von 30 Jahren ja auch wirklich uralt ist.“
Berlitz lachte. „Ja, da haben Sie Glück gehabt. Also damit, dass Sie den Kerl so früh losgeworden sind. Stellen Sie sich vor, das wäre 15 Jahre später passiert.“
Sie runzelte die Stirn. „So habe ich das noch nie gesehen. Das muss ich mir aufschreiben. Mein Therapeut sagt immer, man kann die Dinge von mehreren Seiten sehen und aus allem was Gutes ziehen.“
„Da hat er wohl Recht“, meinte Berlitz und dachte an Anna. Sie war gegangen, aber erst, nachdem sie über 50 Jahre bei ihm geblieben war.
„Was ist denn mit Ihnen?“, fragte sie und sah den alten Mann im Rollstuhl fragend an. Der sah wohlhabend aus, nicht so, als hätte er eine feuchte Bude. „Warum stehen Sie hier immer?“
Er lächelte und zuckte die Achseln. „Ich stehe hier, um Gesellschaft zu haben. Ich rede gerne mit den Leuten, erzähle Ihnen aus meinem Leben, etwas über die Welt. Zuhause bin ich allein. Dafür bin ich nicht gemacht.“
„Warum gehen Sie nicht in ein Heim?“ Kaum hatte sie die Frage gestellt, biss sie sich auf die Lippe. „Entschuldigung, ich wollte nicht indiskret sein.“
„Aber nicht doch, meine Liebe. Wer etwas über die Welt erfahren möchte, muss sich ihr nähern. Und es ist ganz einfach: In einem Heim gibt es nicht genug Platz für all das, was mir wichtig ist. Da bleibe ich lieber in meiner Wohnung, bezahlen einen Pflegedient und eine Haushaltshilfe und verbringe meine Tage hier mit Ahmed und Dieter vor dem Kaufhof.“
„Ahmed und Dieter?“
Er deutete auf den uniformierten Wachmann, der ganz in ihrer Nähe stand. „Die vom Wachdienst. Heute ist Dieter dran. Er hat Spätschicht. Nach Feierabend fährt er heim zu seiner Frau und den zwei Kindern. Morgen früh kommt Achmed. Er wohnt noch zuhause, obwohl er schon über dreißig ist – Tradition, wissen Sie?“
Sie nickte, obwohl sie nicht so aussah, als ob sie viel von Traditionen hielte. Dann sah sie mit einem leichten Bedauern nach draußen.
„Es hat aufgehört zu regnen. Ich denke, ich sollte nach Hause rennen – vielleicht schaffe ich es trockenen Fußes. Und Sie, bleiben Sie hier?“
„Ach, ich habe es nicht weit. Ich wohne keine fünf Minuten von hier. Aber ich gehe mit Ihnen bis zur Kreuzung.“
Berlitz startete seinen elektrischen Rollstuhl und rollte neben der jungen Frau her. Sie hatten die Kreuzung noch nicht erreicht, als ein Blitz vom Himmel zu krachen schien und gleich sie es darauf donnern hörten.
„Donnerwetter, Mädchen, die Welt geht unter. Kommen Sie, wir rennen zu mir!“ Er beschleunigte und tatsächlich rannte die Frau neben ihm her. Nach wenigen Augenblicken hatten sie einen modernisierten Altbau erreicht. Berlitz betätigte einen Türöffner, die Tür schnappte auf und sie hielt sie ihm auf.
„Falle ich Ihnen auch nicht zur Last?“, wollte sie wissen und er schüttelte den Kopf.
„Ne. Ich habe gerne mal Besuch, und solange Sie nicht bei mir einziehen wollen, sind Sie mir willkommen.“
Sie musste lachen – schon zum zweiten Mal an diesem Tag. „Nein, keine Sorge, einziehen will ich nicht bei Ihnen. Ich habe eine gemütliche Einzimmerwohnung mit Blick auf die Autobahn. Was will man mehr?“
„Ja, ein Autobahnblick ist nicht zu verachten“, bestätigte Berlitz ernst. „Da sieht man zumindest, dass die Dinge voran gehen.“
Sie hatten seine Wohnung erreicht und er öffnete die Tür. „Herzlich willkommen im Paradies des Lumpensammlers.“ Er ließ sie vorbei, machte Licht und hörte, wie sie aufgeregt die Luft einsog.
„Aber … was ist das denn?“, fragte sie und sah sich fasziniert im geräumigen Flur um. Vom Boden bis zur Decke sah sie Bücherregale, die bis in die letzte Ecke gefüllt waren. Sie sah Bücher verschiedensten Alters, Antiquarisches neben Modernem, und dazwischen die sonderbarsten Dinge: Kunstgegenstände, Schnitzereien, einige afrikanische Masken.
„Tscha“, sagte er und lächelte ein bisschen, „das ist einer der Gründe, warum ich nicht ins Heim gehe. Die anderen Gründe verstecken sich in den anderen sechs Zimmern.“
Ihre Neugier war geweckt. Begleitet von ihrem sonderbaren Gastgeber bewegte sie sich vorsichtig, fast andächtig, von Zimmer zu Zimmer. Überall gab es Bücher, Skulpturen, Interessantes und Sonderbares. Einiges nahm sie in die Hand, vorsichtig zunächst, dann immer mutiger. Und er erzählte ihr die Geschichten dazu: Wie er mit seiner Frau gereist war, wie sie gesammelt hatten, und wie viel Freude beide an den ganzen Dingen gehabt hatten. Die Stunden vergingen und natürlich hatte sie erst einen Bruchteil all dieser Schätze gesehen, die sie so sehr interessierten – fast so sehr, wie der alte Mann an ihrer Seite sie interessierte.
„Ich muss gehen“, sagte sie irgendwann und klang traurig dabei. Berlitz sah auf die Uhr.
„Oh ja, es ist nach zwölf. Ich rufe Ihnen ein Taxi, Sie sollen jetzt nicht laufen.“ Sie konnte sich kein Taxi leisten, sagte aber nichts – zu klar war, dass er es bezahlen würde und keinen Widerspruch dulden würde.
„Darf ich einmal wiederkommen?“, traute sie sich zu fragen und er nickte.
„Aber natürlich, meine Liebe. Wir wissen doch noch fast gar nichts voneinander. Aber ich habe auch eine kleine Bitte.“
„Was denn?“, fragte sie ein wenig eingeschüchtert.
„Tanzen Sie noch einmal für mich. Sie haben so hübsch ausgesehen heute Nachmittag, wie Sie so die Stadt hinunter getanzt sind. Und wir haben früher so gerne getanzt, meine Anna und ich. Nun ist Anna in der nächsten Welt und auch ich tanze nicht mehr. Das heißt aber nicht, dass ich mich nicht daran erfreuen kann, wenn andere es tun.“
Sie war bei seinen ersten Worten bereits rot geworden. In der Tat tanzte sie eigentlich gerne, aber nur heimlich, wenn es keiner sah. Doch diesen schönen Abend würde sie mit ein paar kleinen Takten beschließen, wenn es den alten Mann glücklich machte. Fasziniert sah sie, wie er zu einem Schrank rollte und eine Geige herausholte.
„Zwar bin ich kein Teufelsgeiger, aber für den Hausgebrauch reicht es“, meinte er und stimmte eine lustige kleine Weise an. Und sie tanzte, verhalten zunächst, dann aber zunehmend entspannt. Und sie lachte – schon wieder.
„Ich danke Ihnen“, sagte er und gab ihr zum Abschied die Hand. „Verraten Sie dem alten Herrn Berlitz noch Ihren Namen?“
„Ich heiße Kristina“, sagte sie nur und wunderte sich, dass sie nicht schon vorher darauf gekommen waren, sich einander vorzustellen.
„Kristina, was für ein schöner Name. Besuchen Sie mich bald wieder, meine Liebe, und tanzen Sie für mich. Wir haben uns noch so viel zu erzählen.“
Sie verließ das Haus, als der Taxifahrer klingelte. Dieses Mal nahm sie nicht den Lift, sondern tanzte die vier Treppen nach unten. Sie freute sich auf den nächsten Besuch bei dem alten Mann. Noch nie hatte sie so einen fesselnden Erzähler erlebt, noch nie so viele interessante Dinge an einem Ort gesehen. Und noch nie zuvor war ihre Fantasie derartig angeregt worden: Was es alles gab, was man alles tun konnte, und was man alles aus Büchern herauslesen konnte! Die Wohnung des alten Mannes, das Paradies des Lumpensammlers, wie er es nannte, war für sie eine faszinierende Welt, die es zu erkunden galt. Und er selber, der Lumpensammler mit dem Stammplatz vor dem Kaufhof, war die interessanteste Person, die sie jemals kennengelernt hatte.
Berlitz sah ihr aus dem Fenster nach. Sie hatten keine Kinder haben können, Anna und er, und diese junge Frau hätte auch schon eher eine Enkelin als eine Tochter für ihn sein können. Kein Anschluss gefunden und das Glücklich sein lernen wollen, das klang alles ein bisschen verrückt für ihn. Vielleicht war sie verrückt. Aber wer war das nicht? Für Anschluss würde er schon sorgen, und wenn er sie mit Achmed vom Sicherheitsdienst verkuppeln würde. Der kam nämlich auch manchmal zu ihm, um in seinen Büchern zu lesen. Wer weiß, vielleicht passten die beiden ja zusammen? Und wenn nicht, würde sich schon etwas anderes ergeben. Da war sich der Lumpensammler ganz sicher – denn irgendetwas ergab sich immer.
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