Alle Jahre wieder …

Die Aufgabe im Schreibworkshop war, über eine besondere Essenseinladung zu schreiben. Und ja, was soll ich sagen – man schreibt ja am liebsten über was Bekanntes 😊 Alle Personen sind jedoch erfunden.

Alle Jahre wieder

Es war mal wieder soweit: Die Majestäten hatten geladen und das Volk war gekommen. Schon im Oktober hatten die hochwohlgeborene Königin Monika die Zweite sowie König Kai-Uwe zum Vierten zur jährlichen Kohlfahrt aufgerufen, anzutreten am 14. Tage des Monats Februar anno 20XX, und zwar pünktlich zum zweiten Glockenschlage an der Kirche zu Niederdingensdorf.

Und so trafen sie sich, in warmer Kleidung und mit festen Schuhen, versammelten sich um den wie immer gut gefüllten Bollerwagen und begrüßten stürmisch jeden Neuankömmling. Als auch Hanno und Silke, traditionell die Letzten, endlich eingetroffen waren, hatten die anderen schon zwei Schnäpse intus und waren bester Laune. Zum Anwärmen noch schnell einmal anstoßen, im Gläschen Korn oder was Buntes, und los ging der Marsch durch die norddeutsche Tiefebene.

Hier machten wir im Jahr 2016 Rast. Ob diese Ecke schon immer so heißt oder ob der Name der sympathischen Figur aus Büttenwader entlehnt ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, Brakelmann aka Jan Fedder hat diese Widmung verdient.

Hanno zog gemeinsam mit Arnd den Wagen. Dabei wurde geplaudert: Beruf, Kinder, Haus, und was machte die neue Gartenhütte? Dahinter Silke, Monika und Ulf, die sich darüber unterhielten, was für ein Gedöns es doch inzwischen war, wenn die Kinder auf das Gymnasium gehen sollten. Das war doch früher alles einfacher, fanden sie, als sie damals zur Schule gingen. Dieses Damals war inzwischen über 30 Jahre her.

Da, eine Ecke! An Ecken wurde pflichtgemäß und traditionell angehalten und einer getrunken. Vielleicht auch zwei, schließlich war es noch früh am Tag, wie Andi erklärte, der einschenkte. Und dann bildeten sie Mannschaften, denn es sollte geboßelt werden. Die Roten sollten gegen die Blauen spielen – erste Kampfansagen flogen über den Feldweg hin und her.

Keiner von ihnen war des Boßelns wirklich mächtig. Sie rollten die schweren Kugeln einfach nach Gutdünken durch die Gegend und machten die mangelnden Fähigkeiten durch viel Geschrei wett. Am Ende einer jeden Runde bekamen die Gewinner einen Schnaps. Die Verlierer natürlich auch, schließlich sollte keiner traurig sein.

Weiter ging es, Strecke schaffen. Schließlich sollte man spätestens um sieben am Lokal sein, um Grünkohl mit Kassler und Pinkel zu essen. Das Königspaar wurde schon etwas nervös, heute waren die Untertanen wirklich langsam unterwegs. Da nützte es auch nichts, dass eine längere gerade Strecke vor ihnen lag, denn für derartige Notsituationen hatte Christoph ihnen schon vor Jahren eine künstliche Ecke gebaut. Die konnte man überall aufstellen und den Eckenschnaps einfordern. Das taten sie ausgiebig.

Ein weiteres Spiel stand an: Teebeutelweitwurf. Dabei tat sich wie immer der lange Simon hervor, denn der Beutel musste mit dem Mund geworfen werden und dabei ist jemand, der zwei Meter vier groß ist, einfach im Vorteil. Ein Sonderschnaps ging jedoch an Hanno, der es fertiggebracht hatte, seinen Beutel über die Schulter nach hinten zu werfen und so seine Mannschaft um den schon sicher geglaubten Sieg brachte.

Grünkohlteller – hier in der Frankfurter Kantinen-Version. Naja – geht so. Besser als nix.

Auch das wenig später durchgeführte Besenwerfen verlor Hannos Team deutlich, was vor allem daran lag, dass Monika den langen Simon, den besten Werfer der Blauen, mit dem Besen ins Gemächt traf. Sie holte ihn durch einen unkoordinierten Rückstoß mit dem Wurfgerät tatsächlich von den Füßen. Simon wurde mit Hilfe von rotem Genever wiederbelebt und die Blauen kurzerhand zum Sieger dieser Runde erklärt.

Es wurde allmählich dunkel, die Gruppe lief endlich etwas schneller. Das war immer so, irgendwann rannte die Gruppe beinahe, gerade so wie Pferde, die den Stall witterten. Schließlich wurde es auch kalt und der Gedanke an warme Suppe lockte. Doch ein Spiel gab es noch, die Gurkenstaffel, die war doch immer so lustig! Im Licht einer Straßenlaterne hoppelten sie also um zwei leere Kornbuddeln, der Bankdirektor fiel dabei über die Zahnärztin in eine Pfütze und Marion platzte während der Übergabe des Gemüses an Bernd die Hose. Was für eine Gaudi!

Weiterlaufen, weiterlaufen – fast konnten sie das Essen schon riechen. Doch dann klingelte Silkes Handy. Es war Hanno. Der war nach der Gurkenstaffel mal kurz im Gebüsch gewesen und dann versehentlich hinter einer falschen Kohlfahrtsgruppe hergelaufen – immer dem Blinklicht am Bollerwagen hinterher. Nun stand er dort, mit 17 Leuten, die er nicht kannte, die ihn aber kameradschaftlich aufgenommen und mit Schnaps versorgt hatten. Man schickte also eine Delegation los, ausgerüstet mit einer Taschenlampe und zwei Flaschen Hochprozentigem, um Freundschaft zu schließen, den Verschollenen auszulösen und heimzuholen. Der Rest der Gruppe trank derweil Reste aus Flaschen und sprach über die ernsten Dinge des Lebens.

Viertel vor sieben trafen sie endlich im Lokal ein: müde, kalt, schmutzig und zufrieden begannen die, die noch essen konnten, mit der Suppe. Die anderen schliefen oder bevölkerten die Sanitäranlagen. Kohl und Nachtisch wurden ebenfalls verputzt, es wurde noch ein wenig geredet und die meisten tranken Wasser. Dann wurde gemäß der geheimen Riten ein neues Kohlkönigspaar gekrönt. Morgen würde den meisten von ihnen schlecht sein und sie würden sich einig sein: Schön war’s, wie immer.

Die Insignien der Macht – hier: die der Kohlkönigin

Der Lumpensammler und die Tänzerin

Mit meinem Schreibgrüppchen „Die Frankfurter Schreibweisen“ hatte ich mal wieder eine Lesung. Dieses mal war die hübsche kleine Buchhandlung „Weltenleser“ unser Gastgeber. Hier gibt es ein schönes, ungewöhnliches Buchsortiment und eben ab und zu auch Lesungen. Da wir das erste Mal dort zu Gast waren, wählten wir uns als Thema ebenfalls den Begriff „Weltenleser“ und es entstanden sehr unterschiedliche Geschichten und sogar ein Gedicht. Ich las die Geschichte …

Der Lumpensammler und die Tänzerin

Berlitz hatte sie schon oft gesehen: Eilig, mit blicklosen Augen, war sie an ihm vorbeigehastet, das Gesicht bleich, die Lippen zusammengepresst. „Keine Zeit“, sagte dieses Gesicht, „sprich mich nicht an, ich habe keine Zeit.“ Viele liefen so herum. Wieso gerade sie ihm aufgefallen war, konnte Berlitz nicht so genau sagen. Sie hatte nichts Besonderes an sich, war vielleicht sogar etwas farblos. Auch entsprach sie nicht im entferntesten dem Typ Frau, den Berlitz in Zeiten, in denen er sich noch nach Frauen umgedreht hatte, bevorzugt hatte. Er mochte üppige Frauen mit kräftigen Rundungen, die laut und herzlich waren und lachten wie ein wieherndes Pferd. Seine Anna war so eine Frau gewesen, eine mit Mutterbrust und einer Stimme wie ein Nebelhorn. Aber Anna war nicht mehr, die Zeit mit ihr war ein anderes Leben gewesen. Nach ihrem Tod hatte auch Berlitz körperlich abgebaut, kein Wunder, schließlich war er deutlich über siebzig. Eigentlich sogar über achtzig, aber das sagte er nie, denn das klang so alt. Seit er nicht mehr richtig laufen konnte, verbrachte er seine Zeit in der Stadt, oft im Eingang zum Kaufhof. Im warmen Luftstrom stand er trocken und sicher, immer gut bewacht von einem Sicherheitsmann, der es zunächst gar nicht hatte glauben können, dass der Mann mit Rollstuhl und Kaschmirmantel nicht dort stand, um zu betteln, sondern um zu gucken: Er wollte sehen, wie das Leben vorbei lief, wollte mit dem einen oder anderen ein Schwätzchen halten und nicht alleine in seiner Wohnung sein. Bei gutem Wetter saß er am Stadtbrunnen und sah den Kindern beim Planschen zu, an kühleren Tagen aber wurde es der Kaufhof.

Wunderschöne Pfingstrosen stellten die Blumendekoration im Weltenleser dar.

Berlitz hatte noch immer einen guten Blick und ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Er hatte gemerkt, dass die unscheinbare Frau schon seit einigen Tagen nicht mehr vorbeigehastet war. Ob sie Urlaub hatte, oder gar krank war? Er dachte jeden Abend ganz kurz an sie, gerade lange genug, um sie nicht ganz zu vergessen. Und dann, eines Abends, sah er sie. Zunächst glaubte er an eine Verwechslung, denn das, was dort die Fußgängerzone herunter gesprungen kam, konnte unmöglich die gehetzte Frau sein. Sie tanzte und hüpfte, das Gesicht vom Lachen ganz hell. Und das, obwohl es regnete wie aus Kübeln. Bei einem solchen Wetter hatte Berlitz schon ganz andere Leute mit schlechter Laune gesehen. Er lächelte, nickte ihr zu und rief sie an.

„Hallo meine Liebe! Das ist ja eine Freude, Sie so zu sehen! Geht es Ihnen gut?“

Sie trat zu ihm unter das Vordach des Kaufhofs, nahm die nasse Kapuze ab und schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Aber ich versuche alles und ich lerne.“

„Sie lernen? Das ist immer gut. Was lernen Sie denn?“

„Ich lerne das Glücklichsein. Mein Therapeut sagt, man kann das üben. Lächle die Welt an und sie lächelt zurück. Durch die Stadt tanzen soll ich und dabei lachen. Und mit den Leuten reden – so wie jetzt mit Ihnen.“

Berlitz schmunzelte. „So, dann bin ich also ein Teil Ihrer Hausaufgabe. Ich fühle mich geehrt. Leider muss ich Ihnen sagen, dass ich eine einfache Aufgabe war – das gibt höchstens einen Punkt. Denn ich rede viel, gerne und fast mit jedem.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Nun, ein Punkt ist besser als keiner. Gestern bin ich leer ausgegangen. Aber jemand, der bei diesem Mistwetter durch die Stadt tanzt, fällt natürlich auf, da fragen sich die Leute, ob man vielleicht einen Sprung in der Schüssel hat.“

Berlitz nickte verständnisvoll. „Und, haben Sie?“ Sein Blick war trotz seiner leicht trüben Augen unverhohlen neugierig.

„Mein Therapeut sagt, nein. Er meint, ich sei erschöpft und hätte eine leichte Depressionsneigung, aber ohne krankhafte Ausprägung. Außerdem sei ich zu ernst und zu schüchtern und finde deshalb keinen Anschluss in dieser beschissenen Stadt.“

„Warum gehen Sie nicht zurück nach Hause?“

„Weil ich da auch keinen Anschluss hatte“, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. „Meine Eltern sind gestorben, als ich Anfang zwanzig war. Meine Schwester kriegt ein Kind nach dem anderen und mein Bruder lebt in Kanada. Und mein Freund hat sich eine Jüngere gesucht – weil eine Freundin von 30 Jahren ja auch wirklich uralt ist.“

Berlitz lachte. „Ja, da haben Sie Glück gehabt. Also damit, dass Sie den Kerl so früh losgeworden sind. Stellen Sie sich vor, das wäre 15 Jahre später passiert.“

Sie runzelte die Stirn. „So habe ich das noch nie gesehen. Das muss ich mir aufschreiben. Mein Therapeut sagt immer, man kann die Dinge von mehreren Seiten sehen und aus allem was Gutes ziehen.“

„Da hat er wohl Recht“, meinte Berlitz und dachte an Anna. Sie war gegangen, aber erst, nachdem sie über 50 Jahre bei ihm geblieben war.

„Was ist denn mit Ihnen?“, fragte sie und sah den alten Mann im Rollstuhl fragend an. Der sah wohlhabend aus, nicht so, als hätte er eine feuchte Bude. „Warum stehen Sie hier immer?“

Er lächelte und zuckte die Achseln. „Ich stehe hier, um Gesellschaft zu haben. Ich rede gerne mit den Leuten, erzähle Ihnen aus meinem Leben, etwas über die Welt. Zuhause bin ich allein. Dafür bin ich nicht gemacht.“

„Warum gehen Sie nicht in ein Heim?“ Kaum hatte sie die Frage gestellt, biss sie sich auf die Lippe. „Entschuldigung, ich wollte nicht indiskret sein.“

„Aber nicht doch, meine Liebe. Wer etwas über die Welt erfahren möchte, muss sich ihr nähern. Und es ist ganz einfach: In einem Heim gibt es nicht genug Platz für all das, was mir wichtig ist. Da bleibe ich lieber in meiner Wohnung, bezahlen einen Pflegedient und eine Haushaltshilfe und verbringe meine Tage hier mit Ahmed und Dieter vor dem Kaufhof.“

„Ahmed und Dieter?“

Er deutete auf den uniformierten Wachmann, der ganz in ihrer Nähe stand. „Die vom Wachdienst. Heute ist Dieter dran. Er hat Spätschicht. Nach Feierabend fährt er heim zu seiner Frau und den zwei Kindern. Morgen früh kommt Achmed. Er wohnt noch zuhause, obwohl er schon über dreißig ist – Tradition, wissen Sie?“

Sie nickte, obwohl sie nicht so aussah, als ob sie viel von Traditionen hielte. Dann sah sie mit einem leichten Bedauern nach draußen.

„Es hat aufgehört zu regnen. Ich denke, ich sollte nach Hause rennen – vielleicht schaffe ich es trockenen Fußes. Und Sie, bleiben Sie hier?“

„Ach, ich habe es nicht weit. Ich wohne keine fünf Minuten von hier. Aber ich gehe mit Ihnen bis zur Kreuzung.“

Berlitz startete seinen elektrischen Rollstuhl und rollte neben der jungen Frau her. Sie hatten die Kreuzung noch nicht erreicht, als ein Blitz vom Himmel zu krachen schien und gleich sie es darauf donnern hörten.

„Donnerwetter, Mädchen, die Welt geht unter. Kommen Sie, wir rennen zu mir!“ Er beschleunigte und tatsächlich rannte die Frau neben ihm her. Nach wenigen Augenblicken hatten sie einen modernisierten Altbau erreicht. Berlitz betätigte einen Türöffner, die Tür schnappte auf und sie hielt sie ihm auf.

„Falle ich Ihnen auch nicht zur Last?“, wollte sie wissen und er schüttelte den Kopf.

„Ne. Ich habe gerne mal Besuch, und solange Sie nicht bei mir einziehen wollen, sind Sie mir willkommen.“

Sie musste lachen – schon zum zweiten Mal an diesem Tag. „Nein, keine Sorge, einziehen will ich nicht bei Ihnen. Ich habe eine gemütliche Einzimmerwohnung mit Blick auf die Autobahn. Was will man mehr?“

„Ja, ein Autobahnblick ist nicht zu verachten“, bestätigte Berlitz ernst. „Da sieht man zumindest, dass die Dinge voran gehen.“

Sie hatten seine Wohnung erreicht und er öffnete die Tür. „Herzlich willkommen im Paradies des Lumpensammlers.“ Er ließ sie vorbei, machte Licht und hörte, wie sie aufgeregt die Luft einsog.

„Aber … was ist das denn?“, fragte sie und sah sich fasziniert im geräumigen Flur um. Vom Boden bis zur Decke sah sie Bücherregale, die bis in die letzte Ecke gefüllt waren. Sie sah Bücher verschiedensten Alters, Antiquarisches neben Modernem, und dazwischen die sonderbarsten Dinge: Kunstgegenstände, Schnitzereien, einige afrikanische Masken.

„Tscha“, sagte er und lächelte ein bisschen, „das ist einer der Gründe, warum ich nicht ins Heim gehe. Die anderen Gründe verstecken sich in den anderen sechs Zimmern.“

Ihre Neugier war geweckt. Begleitet von ihrem sonderbaren Gastgeber bewegte sie sich vorsichtig, fast andächtig, von Zimmer zu Zimmer. Überall gab es Bücher, Skulpturen, Interessantes und Sonderbares. Einiges nahm sie in die Hand, vorsichtig zunächst, dann immer mutiger. Und er erzählte ihr die Geschichten dazu: Wie er mit seiner Frau gereist war, wie sie gesammelt hatten, und wie viel Freude beide an den ganzen Dingen gehabt hatten. Die Stunden vergingen und natürlich hatte sie erst einen Bruchteil all dieser Schätze gesehen, die sie so sehr interessierten – fast so sehr, wie der alte Mann an ihrer Seite sie interessierte.

Das Paradies der Lumpensammlers: Bild zur Verfügung gestellt von Susanne Schmich / http://www.pixelio.de

„Ich muss gehen“, sagte sie irgendwann und klang traurig dabei. Berlitz sah auf die Uhr.

„Oh ja, es ist nach zwölf. Ich rufe Ihnen ein Taxi, Sie sollen jetzt nicht laufen.“ Sie konnte sich kein Taxi leisten, sagte aber nichts – zu klar war, dass er es bezahlen würde und keinen Widerspruch dulden würde.

„Darf ich einmal wiederkommen?“, traute sie sich zu fragen und er nickte.

„Aber natürlich, meine Liebe. Wir wissen doch noch fast gar nichts voneinander. Aber ich habe auch eine kleine Bitte.“

„Was denn?“, fragte sie ein wenig eingeschüchtert.

„Tanzen Sie noch einmal für mich. Sie haben so hübsch ausgesehen heute Nachmittag, wie Sie so die Stadt hinunter getanzt sind. Und wir haben früher so gerne getanzt, meine Anna und ich. Nun ist Anna in der nächsten Welt und auch ich tanze nicht mehr. Das heißt aber nicht, dass ich mich nicht daran erfreuen kann, wenn andere es tun.“

Sie war bei seinen ersten Worten bereits rot geworden. In der Tat tanzte sie eigentlich gerne, aber nur heimlich, wenn es keiner sah. Doch diesen schönen Abend würde sie mit ein paar kleinen Takten beschließen, wenn es den alten Mann glücklich machte. Fasziniert sah sie, wie er zu einem Schrank rollte und eine Geige herausholte.

„Zwar bin ich kein Teufelsgeiger, aber für den Hausgebrauch reicht es“, meinte er und stimmte eine lustige kleine Weise an. Und sie tanzte, verhalten zunächst, dann aber zunehmend entspannt. Und sie lachte – schon wieder.

„Ich danke Ihnen“, sagte er und gab ihr zum Abschied die Hand. „Verraten Sie dem alten Herrn Berlitz noch Ihren Namen?“

„Ich heiße Kristina“, sagte sie nur und wunderte sich, dass sie nicht schon vorher darauf gekommen waren, sich einander vorzustellen.

„Kristina, was für ein schöner Name. Besuchen Sie mich bald wieder, meine Liebe, und tanzen Sie für mich. Wir haben uns noch so viel zu erzählen.“

Sie verließ das Haus, als der Taxifahrer klingelte. Dieses Mal nahm sie nicht den Lift, sondern tanzte die vier Treppen nach unten. Sie freute sich auf den nächsten Besuch bei dem alten Mann. Noch nie hatte sie so einen fesselnden Erzähler erlebt, noch nie so viele interessante Dinge an einem Ort gesehen. Und noch nie zuvor war ihre Fantasie derartig angeregt worden: Was es alles gab, was man alles tun konnte, und was man alles aus Büchern herauslesen konnte! Die Wohnung des alten Mannes, das Paradies des Lumpensammlers, wie er es nannte, war für sie eine faszinierende Welt, die es zu erkunden galt. Und er selber, der Lumpensammler mit dem Stammplatz vor dem Kaufhof, war die interessanteste Person, die sie jemals kennengelernt hatte.

Berlitz sah ihr aus dem Fenster nach. Sie hatten keine Kinder haben können, Anna und er, und diese junge Frau hätte auch schon eher eine Enkelin als eine Tochter für ihn sein können. Kein Anschluss gefunden und das Glücklich sein lernen wollen, das klang alles ein bisschen verrückt für ihn. Vielleicht war sie verrückt. Aber wer war das nicht? Für Anschluss würde er schon sorgen, und wenn er sie mit Achmed vom Sicherheitsdienst verkuppeln würde. Der kam nämlich auch manchmal zu ihm, um in seinen Büchern zu lesen. Wer weiß, vielleicht passten die beiden ja zusammen? Und wenn nicht, würde sich schon etwas anderes ergeben. Da war sich der Lumpensammler ganz sicher – denn irgendetwas ergab sich immer.

Wolkenhimmel

Es wird mal wieder Zeit für eine längere Geschichte: Diese Kurzgeschichte entstand für eine Lesung, die unter dem Titel „Woanders regnet’s“ stattfand. „Woanders regnet’s“ ist ein Ausspruch aus Griechenland, der gerne verwendet wird, wenn Menschen aneinander vorbeireden. Ich habe mich mit diesem Thema recht schwer getan, es dauerte lange, bis mehr als nur eine Miniatur dabei herauskam. Dafür habe ich jedoch ein paar Bilder aus Frankfurt zur Illustration – auch was wert 🙂

Wolkenhimmel

Was für ein trister Tag! Elisa warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, während sie Tims Kopfkissen aufschüttelte. Grau war es draußen, der Himmel bedeckt, die Luft feucht. Es war Novemberwetter, in jeder Hinsicht, und das schon die ganze Woche. Irgendwie drückte dieses grau in grau auf ihr Gemüt.

Frankfurt Dreikönigskirche

Wolkenhimmel über der Dreikönigskirche

Seufzend strich Elisa die Bettdecke zurecht und wechselte auf die andere Seite des Schlafzimmers. So machte sie es immer: Zuerst Tims Bett, dann ihres. Normalerweise mochte sie diese Zeit am Vormittag, wenn Tim schon aus dem Haus und die Kinder im Kindergarten waren. Sie brachte sie früh um acht dorthin, damit sie etwas Zeit für den Haushalt hatte. Zweieinhalb Stunden blieben ihr zwischen Kindergarten und dem Aufbruch zur Arbeit. Sie arbeitete Teilzeit in einem Laden, von elf bis sechzehn Uhr. Dann holte sie die Kinder, ging mit ihnen raus, erledigte gleich die Einkäufe. Und dann begann schon das Abendprogramm: Essen machen, Kinder waschen und ins Bett bringen. Wenn er früh genug kam, kümmerte Tim sich gerne um die Kinder und half im Haushalt. Und wenn er später dran war, hielt sie ihm das Essen warm und versuchte, ihm den kurzen Abend möglichst angenehm zu gestalten. Ihrer beider Tage waren voll: Voll mit Verpflichtungen und Arbeit, aber auch voller Freude, die die Kinder ihnen bereiteten. Immer wieder machte Elisa sich bewusst, wie froh sie sein konnte, zwei so gesunde, lebhafte Kinder zu haben.

Das Telefon klingelte. Elisa ging ran, meldete sich. Es war ihre Freundin Katja, die nur ein wenig reden wollte. Wirklich, ganz kurz nur. Elisa setzte sich ins Wohnzimmer, hörte der Freundin zu. Sie wusste, Katja hatte es schwer zur Zeit. Das Trennungsjahr lief, noch vier Monate bis zur Scheidung, und noch immer war alles völlig ungeregelt. Die Kinder, das Haus, wer kümmerte sich um was und wie viel Geld würde jeder zur Verfügung haben? Elisa hörte zu und gab Rat, was nicht so leicht war. Schließlich mochte sie auch Jan, Katjas Mann, und wollte sich nicht komplett auf Katjas Seite stellen. Es war ja niemandem etwas vorzuwerfen, fand sie, keiner hatte den anderen betrogen oder schlecht behandelt. Sie hatten sich einfach auseinander gelebt, Katja und Jan, nach acht Jahren Ehe war die Liebe am Ende gewesen. Eigentlich ein erschreckender Gedanke – wohin verschwand Liebe, wenn sie ging?

Nach guten zehn Minuten beendete Elisa das Telefonat. Sie wusste, wenn sie sie ließ, redete Katja den ganzen Vormittag. Elisa aber mochte es nicht so gerne, wenn der ganze Morgen für Gerede draufging. Sie hatte es gerne ordentlich und wollte noch ein wenig schaffen. „Katja, nichts für ungut, aber ich muss weiter. Lass uns demnächst mal was trinken gehen – vielleicht am Donnerstag?“ Der Donnerstag war Elisas freier Abend. Donnerstags kam Tim immer pünktlich heim und übernahm die Kinder. Dafür hatte er am Dienstag frei und ging mit einem Freund zum Tennis. Es war ihnen wichtig, dass jeder ein wenig freie Zeit für sich hatte und einem Hobby nachgehen konnte.

Der Donnerstag wurde vereinbart und Elisa nahm ihre Hausarbeit wieder auf. Die Wäsche war trocken und wollte gefaltet werden. Während ihre Hände arbeiteten, gingen die Gedanken eigene Wege. Wie schön, dass jeder von ihnen etwas freie Zeit hatte. Sie nahmen Rücksicht aufeinander. Es war wichtig, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Manchmal aber sagten sie einander vor lauter Rücksichtnahme nicht die Wahrheit, zum Beispiel dann, wenn Tim seine Patentante einlud – am einzigen ganz freien Wochenende in diesem Monat. Elisa war davon alles andere als begeistert gewesen, hatte Tim das aber nicht gesagt. Schließlich mochte der seine Tante Isolde. Und Elisa mochte sie auch, natürlich, Isolde war eine nette alte Dame. Sie war auf der Durchreise, wollte in irgendein Wellness-Hotel in Bad Doberan, deshalb passte es ihr zu diesem Datum so gut. Aber gerade an diesem Wochenende hätte Elisa gerne einmal Zeit mit ihrem Mann verbracht. Gesagt hatte sie nichts, schließlich wollte sie nicht als ewig unzufriedene Meckerliese dastehen, die ihrem Mann seinen Verwandtenbesuch nicht gönnte.

Sie meckerte sowieso viel zu viel zur Zeit. Zum Beispiel über Tims Socken, die er gerne abends auszog und in die Sofaecke knüllte. Das machte er schon immer so, aber früher hatte diese Macke sie nicht gestört. Jetzt murrte sie, wenn sie die Socken in die Wäschetonne brachte – konnte er das nicht selber tun? Die Kinder sollten auch lernen, aufzuräumen, und die waren noch klein. Ein fast vierzigjähriger Mann sollte doch wohl seine Socken wegtragen können? Und das war nur eine der Kleinigkeiten, die sie inzwischen an ihrem Mann aufregte.

Frankfurt Main

Wolkenhimmel über dem Main

Früher, als der Himmel noch voller Geigen gehangen hatte, hatte sie seine kleinen Eigenarten süß gefunden. Sie hatte gerührt geguckt, wenn er am Frühstückstisch eine Schweinerei mit seinem geliebten Honig anstellte. Jetzt nörgelte sie – warum nahm er denn auch immer so viel davon, und was für ein Beispiel war das für die Kinder? Sie fand es nicht mehr charmant, wenn er für sie kochte, sondern sah das Schlachtfeld, das er in der Küche anrichtete, mit den kritischen Augen derer, die es wegputzen durfte. Und seine langen Arbeitstage, früher ein Zeichen seiner Zielstrebigkeit und seines Fleißes, gingen ihr zunehmend auf die Nerven, einfach weil er ihr fehlte.

Und auch Tim veränderte sich: Früher hatte er sie oft liebevoll seine Rubensfrau genannt und ihre Rundungen zärtlich gestreichelt. Doch in der letzten Woche hatte er eine Waage ins Bad gestellt. Eine, die den Körperfettanteil messen konnte und die Muskelmasse, und die einem eine Statistik erstellte und die auf das Smartphone sendete. Er selber war schlank wie immer, er brauchte keine Waage. Elisa hatte den Wink verstanden – sie war ihm zu dick, was denn sonst. Dabei hatte sie nicht zugenommen in den letzten Jahren, ihre Kleider passten alle noch, trotz der zwei Kinder. Sie hasste diese Waage und hatte überlegt, sie in den Müll zu werfen. Aber das Ding hatte Geld gekostet, sicher nicht wenig, und das warf man nicht in den Müll.

Elisa brachte einen Stapel frisch gefalteter Handtücher ins Bad und verpasste der Waage dabei einen Tritt. „Keine Messung möglich!“, sagte eine blecherne Stimme und Elisa lächelte wehmütig. Immerhin sprach die Waage mit ihr, wenn sonst schon keiner hier war. Wobei das natürlich dummes Zeug war – Selbstmitleid. Sie rief sich zur Ordnung. Nur, weil sie heute schlechte Laune hatte und es draußen nieselte, musste sie nicht anfangen, ihr ganzes Leben in Frage zu stellen!

Damals, zu Zeiten des rosaroten Geigenhimmels, hatte sie sich nichts Schöneres vorstellen können als Hausfrau und Mutter zu sein. Dann, nach drei Jahren in Elternzeit, hatte sie wieder Lust bekommen zu arbeiten und war froh gewesen über den Arbeitsplatz gleich in der Nähe des Kindergartens. Sie arbeitete gerne dort, es machte ihr Spaß, Mode zu verkaufen. Und einen anständigen Personalrabatt gab es dort auch noch, so dass das eine oder andere hübsche Teilchen in ihren eigenen Schrank wanderte. Tim lachte immer über ihre Freude beim Kleider kaufen. Er selber zog immer einfach irgendwas an und fand es völlig in Ordnung, wenn sie ihm seine neue Kleidung mitbrachte. Komisch eigentlich, dass ihm sein Äußeres so egal war.

Das Telefon klingelte schon wieder. Tante Isolde war dran: Sie wollte gerne schon am Donnerstag kommen, erklärte sie, damit die Kinder sich an sie gewöhnen könnten. Elisa musste lächeln: Sie war schon eine Gute, die Tante Isolde, und so eine Schreckschraube, dass die Kinder langsam auf einen Besuch vorbereitet werden mussten, war sie wahrlich nicht. Sie versprach, Isolde am Donnerstag Nachmittag vom Zug abzuholen, und legte ein Lächeln in ihre Stimme. Und wirklich, allmählich freute sie sich auf diesen Besuch. Sie fand es schön, dass ihr Mann noch immer so an seiner alten Tante hing. Das zeigte ihr wieder einmal, was für ein treuer, warmherziger Mensch er doch war. Einer, der nicht einfach losließ, wenn er einmal jemanden lieb gewonnen hatte.

Wohin ging die Liebe, wenn sie erkaltete? Schon zum zweiten Mal ging diese Frage Elisa durch den Kopf, während sie die Strümpfe der Kinder sortierte und rollte. Sie wusste es nicht. Bei Katja und Jan war sie offensichtlich verschwunden, die starke Zuneigung, die sie einst füreinander verspürt hatten. Sie wollten ohne einander weiterleben. Elisa konnte das nicht verstehen: Auch wenn die Phase der wilden Verliebtheit verschwunden war, konnte und wollte sie sich ein Leben ohne Tim nicht vorstellen. Ihre Liebe war ruhiger geworden, glühte nicht mehr so heiß. Aber sie wärmte noch, gab ihr Sicherheit und Kraft. Und das, obwohl sie weniger redeten, sich seltener sahen und kaum noch Sex hatten. Sie wussten einfach, was sie aneinander hatten.

Maintower Frankfurt Horizont

Wolkenhimmel vom Maintower aus gesehen

Wohin zog sich die Liebe zurück, wenn die Routine ihr keinen Platz mehr ließ? Darüber dachte Elisa nach, während sie routiniert die Regale im Wohnzimmer abstaubte. Gut möglich, dass die Unzufriedenheit, die sie manchmal verspürte, durch ihren durchgetakteten Alltag kam. Tim ging es doch genauso: Von morgens bis abends war sein Tag verplant. Kein Wunder, dass er kaum noch Zeit fand für ein nettes Wort. Fast alles, was sie sprachen, bezog sich auf den Alltag: Die Arbeit, der Haushalt, die Kinder. Früher waren sie immer wieder ausgebrochen, hatten spontane Kurztrips nach London und Paris gemacht oder waren auch unter der Woche abends mal ausgegangen. Das hatte die Geigen am Himmel zum Singen gebracht. Doch so etwas war inzwischen alles nicht mehr so einfach, Kinder von drei und fünf Jahren konnte man ja nicht einfach in den Schrank hängen. Ein gemeinsamer DVD-Abend musste da oft reichen, und wenn sie Pech hatten, war einer von ihnen dann schon so müde, dass er beim ersten Film auf dem Sofa einschlief. So war es halt, wenn man arbeitete und Kinder hatte. Sie waren erwachsen und benahmen sich so.

Elisa war fertig mit allem. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie noch Zeit für eine schnelle Tasse Kaffee hatte. Während sie sie trank, sah sie nachdenklich aus dem Fenster: Es war heller geworden, der leichte Regen hatte ausgehört. Gewiss würde sie heute Nachmittag mit den Kindern in den Park gehen können. Es war Gummistiefelwetter – eigentlich gar nicht so schlecht. Schon der Gedanke an das Pfützenspringen mit den Kleinen ließ Elisa lächeln und ihre schlechte Laune verschwand. Als das Handy klingelte und sie Tims Namen im Display sah, lächelte sie und ihre Stimme klang warm und froh, als sie sich meldete.

„Hallo mein Tim!“

„Hallo meine liebe Elisa! Bist du noch zuhause? Was machst du?“ Tim klang ausgesprochen fröhlich.

„Hmm, ja, Kaffeetrinken.“

„Du hast es gut. Du, sag, kannst du meine graue Jacke heute noch in die Reinigung bringen? Ich habe sie gestern am Auto ganz dreckig gemacht und würde sie am Freitag gerne mitnehmen.“

„Ähh, ja, kann ich machen, klar. Aber was ist denn am Freitag?“ Elisa war verwirrt.

„Am Freitag fahren wir doch nach Bad Doberan, du Schussel!“

„Nach Bad Doberan? Du fährst mit Isolde da hin?“

Am anderen Ende entstand eine Pause. „Hä? Mit Isolde? Nein, mit Dir. Tante Isolde passt auf die Kinder auf!“

„Ach sooo …“ Elisa schluckte. Offenbar hatte sie nicht richtig zugehört, als Tim ihr die Sache mit Isolde erklärt hatte. Sie telefonierte noch ein paar Minuten mit ihrem Mann – so lange, dass sie sich beeilen musste, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. „Ich liebe dich“, sagte er zum Abschied, und sie sagte: „Ich dich auch!“.

Als sie die Wohnungstür abschloss, hörte sie aus der Nachbarwohnung einen Streit. Das ließ sie an Katja und Jan denken. Und sie lächelte, als sie den Weg zum Tor hinunterlief – ohne Schirm, denn die Wolkendecke war aufgerissen und ließ erste blaue Stellen am Himmel sehen. Elisa spürte wieder, wie gut es ihr ging. Zwar war die rosarote Geigenhimmelzeit vorbei, auch zeigten sich manchmal Wolken an ihrem Horizont. Doch die zogen immer wieder vorbei, und woanders regnete es schon lange.

Skyline Abendrot Frankfurt

Wolkenhimmel über der Skyline von Oberrad aus gesehen