Gerade habe ich den Wetterbericht gehört: Es soll heiß werden in Frankfurt, und dazu natürlich drückend und schwül wie immer. Durch diese Aussicht fiel mir dieses kleine Geschichtchen wieder ein.
Hitze – und sonst nichts Besonderes
Das Gewitter kam an einem Freitagabend. Es war einer dieser Freitage, an denen ich es nicht erwarten kann, endlich den Schreibtisch aufräumen und das Wochenende einläuten zu können. Noch war gutes Wetter, aber Regen war angekündigt. Würde die Zeit noch für einen Kurzbesuch im Schwimmbad reichen, oder zumindest für ein Kaffeestündchen auf dem Balkon? Ich hatte es eilig!
Die Straßenbahnfahrt quer durch die Stadt erschien mir endlos. Frankfurt ist schön, aber im Sommer glühen die Straßen und kein Luftzug erreicht die Innenstadt. Nach der kühlen, klimatisierten Luft im Büro kommt es mir dann oft so vor, als sei ich draußen von einer warmen, nassen Wolke umgeben. Mehr als einmal habe ich mich schon dabei ertappt, wie ich mit den Armen so etwas wie Schwimmbewegungen mache, um dieser Substanz zu entrinnen. Natürlich ist der einzige Effekt dieser Übung dann jedes Mal, dass die Leute auf der Straße mich befremdet anblicken. Dieser Freitag war also ein solcher Tag und als ich meine Wohnung erreichte, klebte mir das Kleid am Körper, die Zunge am Gaumen. Dazu, mich in dieser Gluthitze noch einmal hinauszuwagen, und sei es in Richtung Schwimmbad, fehlte mir einfach die Lust.
Ich entschied mich also dazu, den Rest des Nachmittags lesend auf dem Balkon zu verbringen. Ein gutes Buch, Saft, Kekse – ich trage gerne meinen halben Hausstand hinaus auf den Balkon. Auch MP3-Player gehört dazu, denn schließlich möchte ich meine Ruhe haben und die Geräusche der Nachbarn möglichst gar nicht wahrnehmen. Nicht ausblenden kann ich freilich den Lärm der aufsteigenden Flugzeuge, die an einigen Tagen so tief über mir dahinziehen, dass ich sie fast am Bauch kraulen möchte. Aber an diese Störungen habe ich mich inzwischen gewöhnt und nehme sie als unvermeidliches Übel hin.
An diesem Tag war es jedoch angenehm ruhig, wenn auch drückend heiß. Ich verbrachte zwei anregende Stunden in der Gesellschaft von John Irving und Brian Ferry – eine wunderbare Mischung. Und noch etwas erschien mir wunderbar: Einer meiner Nachbarn hatte wohl Kuchen gebacken, der Duft zog in warmen, süßen Strömen in meine Nase und ließ mich lächeln. Ich bin keine große Bäckerin, aber daheim hatte es früher oft so gerochen, wenn wir Kinder aus der Schule oder vom Spielen heimkamen. Ja, so roch zuhause. Genussvoll schnüffelnd blickte ich von meinem Buch auf.
Was ich sah, ließ mich staunen: der Himmel, der vor kurzem noch von einem fast unnatürlich scheinenden Blau mit einigen Wattewölkchen gewesen war, leuchtete inzwischen in einem unwirklichen Stahlgrau. In der Ferne aber, über dem Stadtwald, ragte eine schwarze Wand auf, aus der bereits die Blitze schossen. Es sah aus, als würde da hinten die Welt untergehen. Und dabei war es doch hier, nur einige Kilometer weg von diesem Unwetter, noch gar nicht mal schlechtes Wetter. Im Gegenteil, die leichte Abkühlung empfand ich als angenehm. Und so hoffte ich, dass sich das Wetter noch ein Weilchen dort hinten austoben würde, damit ich noch sitzen bleiben und den Kuchenduft genießen konnte.
Ich beobachtete träge die Blitze. Dieses Warten auf den Regen erinnerte mich an die heißen Sommer meiner Kindheit. Wir hatten auf dem Land gewohnt, mit Spielgeräten im großen Garten, reichlich Platz zum Toben und einer ganzen Meute von Kindern in der Nachbarschaft, die alle in etwa im gleichen Alter waren wie meine große Schwester und ich. Im Sommer hatten wir fast nur draußen gespielt, mal alle zusammen, dann wieder in kleineren Grüppchen. Wir tobten und rannten, die Wärme machte uns wenig aus. Ab und zu aber liefen wir ins Haus, um durstig Wasser und Saft in uns hineinzuschütten. Und natürlich bettelten wir um Eis, das wir manchmal sogar bekamen – selbstgemachtes Fruchteis, das in kleinen Plastiktöpfchen steckte und dessen Stil beim Ablutschen etwas sonderbar roch. Damit und mit dem Wasser, dass in einer großen alten Zinkwanne für uns draußen stand, kühlten wir uns ab. Und an vielen Abenden erwarteten wir fast ungeduldig eines der Sommergewitter, das uns Erfrischung bringen und den Staub aus der Luft waschen würde. Wir spielten dann wie in Wartestellung: Federballsets und Bälle waren schon in den Schuppen, Puppen und Wolldecken ins Haus gebracht worden. Wir Kinder saßen dann oft nur träge herum und schwatzten ein wenig, oder aber wir holten, sehr zum Unmut unseres Vaters, diverse Dinge aus dem Schuppen wieder heraus. Manchmal vergnügten wir uns an solchen Abenden auch auf der Wippe, zwei Kinder auf jedem Sitz, eines balancierend auf der schwankenden Mitte. Aber ganz gleich, was wir taten, in erster Linie warteten wir ab.
Wenn das Gewitter dann tatsächlich losbrach, gab es für uns nichts Spannenderes, als es genau zu beobachten: Wer sah den ersten Blitz? Und wie lange dauerte es, bis der Donner folgte? Einundzwanzig, zweiundzwanzig – unsere Aufregung war groß, wenn beides, Blitz und Donner, unmittelbar aufeinander folgten und sich draußen wahre Sturzbäche ergossen. „Jetzt sind wir mittendrin!“, kreischte dann immer jemand und wir starrten wie gebannt aus dem Fenster. Und dabei hofften wir schon, dass es nicht mehr zu lange dauern würde mit Blitz und Donner und dass es danach noch ein Weilchen kräftig schütten würde. Denn dann, wenn die Gefahr, vom Blitz erschlagen zu werden, vorbei war, durften wir hinaus in den warmen und doch so angenehm kalten Regen. Nur mit T-Shirt und Unterhose bekleidet hopsten wir herum wie kleine Kobolde, kichernd auf dem Rasen schlitternd. Das ging so lange, bis die Mutter uns hereinrief: „Zeit fürs Bett!“ Natürlich waren wir müde, aber trotzdem wurden jedes Mal noch ein paar Minuten herausgeschunden – so, wie ich heute nicht aus dem Bett hinaus will, wollte ich damals nicht hinein. Schon gar nicht, wenn es nach einem heißen Tag endlich Abkühlung gab.
Auch an diesem Freitag sehnte ich mich nach einer Erfrischung. Gierig reckte ich meinen Körper jeder Windbö entgegen, immer auf der Suche nach Kühle. Der Wind jedoch war warm, fast tropisch, und half mir nicht aus dem Schwitzen heraus. So war es früher natürlich auch manchmal gewesen: Das Gewitter zog weiter, die ersehnte Abkühlung blieb aus. An diesen Tagen half nur der Gartenschlauch.
Meine Eltern waren eigentlich strikte Gegner der deutschen Eigenart, an jedem Abend den Garten unter kostbares Leitungswasser zu setzen. Dennoch besaßen wir einen Wasserschlauch, der jedoch hauptsächlich dazu verwendet wurde, Kinder und Väter zu unterhalten. Dazu wurde der Sprenger nicht auf Dauerbetrieb gestellt, sondern es wurde vorne eine Düse aufgeschraubt, die wohl eigentlich zum Blumen gießen gedacht war. Mit ihr konnte man zielgenau spritzen, mit kaltem, kräftigen Strahl traf das Wasser auf erhitzte Körper. Das brachte deutlich mehr als das Schießen mit einer altmodischen Wasserpistole! Die Spritzerei übernahm am Anfang entweder mein Vater oder der Nachbar. Sie jagten uns hin und her durch den Garten und wir liefen aufgeregt herum, lachend und schubsend. Wir fühlten uns sehr mutig, wenn wir direkt vor dem jeweiligen Spritzmeister herumturnten und Faxen machten. Irgendwann tauschten wir dann immer die Rollen, jeder durfte mal sprengen. Und auch die Väter schienen das immergleiche Spiel zu genießen, viele Sommer lang. So lange, bis wir eines Tages zu groß dafür wurden – oder zumindest glaubten, es zu sein. Denn auch an diesem Abend, an dem ich in feuchtheißer Schwüle auf meinem Frankfurter Balkon saß und zusah, wie es andernorts regnete, wünschte ich mir jemanden mit einer Wasserspritze. Jemanden, der Spaß daran hätte, hemmungslos herumzualbern, Grasflecken auf die Hose und vor Lachen einen Schluckauf zu kriegen. Natürlich, fiel mir ein, hätte dieser jemand außer dem Rasensprenger auch einen dazu passenden Rasen haben müssen.
An diesem Abend kam leider niemand mit einer Wasserspritze. Ich saß weiter auf meinem Balkon, schnüffelte nach dem Kuchenduft, der langsam verflog, hörte Jazz und beneidete die Leute hinter dem Stadtwald um ihren Regen. Denn bei uns blieb es, wie es war: feucht-heiß. Und dabei hätte ich es an diesem Abend mal wieder tun mögen: einfach hinauslaufen, durch Pfützen patschen, Tropfen mit der Zunge fangen. Sicherlich nicht in Unterhosen, aber ein paar meiner alten Sommerkleider erscheinen mir wie geschaffen für solche Spiele. Und wer weiß, vielleicht hätte ich da draußen ja jemanden getroffen, der die gleiche Idee hatte wie ich und der gemeinsam mit mir durch die nassglänzenden Straßen gelaufen wäre. Aber ohne Regen, das war mir klar, würde ich einen solchen Gefährten heute nicht finden.
Ich blieb also auf meinem Balkon sitzen, mit John Irving und leiser Musik, und es geschah nichts. Außer vielleicht einer Kleinigkeit: Mir wurde plötzlich bewusst, was für ein Wunder mir soeben passiert war: Auf einer dünnen, duftenden Kuchenspur war ich für eine Weile in die Vergangenheit geflogen, war über dreißig Jahre zurückgereist in meine Kindheit. Ich hatte den Regen gespürt, die feuchte Erde gerochen, das Lachen der anderen gehört. Vaters dröhnenden Bass, Mutters Kopfschütteln, ihre Stimme: „Ihr seid ja verrückt, alle miteinander!“. Ich hatte sogar ihre Hände gespürt, die mich mit einem Frotteehandtuch trocken rubbelten. Das alles war an diesem Freitagabend plötzlich wieder da, obwohl eigentlich nichts Besonderes passiert war – weder damals, in den Sommern der siebziger Jahre, noch an jenem Freitag, auf meinem Balkon in Frankfurt.
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