Frau Uschi ist nicht zu bremsen

Mit dem Schreibgrüppchen hatten wir mal wieder eine Lesung, und zwar in der schönen Buchhandlung „Weltenleser“. Das Thema lautete „Reisen“ und wie immer waren unsere sieben Geschichten ganz unterschiedlich, was den etwa dreißig Zuhörern sichtlich gefiel. Ich stelle euch daher heute Frau Uschi vor:

Frau Uschi ist nicht zu bremsen

Sie konnte es nicht fassen: Kaum hatte sie Erich, den größten Fehler ihres Lebens und Bremsklotz gigantischen Ausmaßes, endlich aus ihrem Leben entfernt, war es ihr erwachsener Sohn Robert, der Rechenschaft von ihr forderte und sie aufhalten wollte. Wütend schnaufte sie ins Telefon.

„Ich weiß gar nicht, was du eigentlich willst! Traust du mir das nicht zu? Ich bin doch nicht debil!“

Uschi Gerke war ganz Empörung, sie glaubte, sich in ihrem ganzen 68-jährigen Leben noch nicht so aufgeregt zu haben. Robert versuchte sie zu beschwichtigen:

„Ich sage doch nur, dass du es mit dem Reisen nicht übertreiben sollst, Muddi. Du warst noch nie weiter weg als fünfzig Kilometer um deinen Heimatort herum. Du bist es nicht gewohnt, dich an fremden Orten zurecht zu finden. Warte ein paar Wochen, dann nehme ich ein paar Tage frei und wir fahren in ein schönes Hotel in den Harz. Oder an die Ostsee – du wolltest doch immer gerne ans Meer. Oder wenn du mit mir nicht unterwegs willst, mach‘ diese Tour mit den Landfrauen – fünf Tage mit dem Bus ins Sauerland, mit einer netten Reiseleiterin. Die haben bestimmt noch freie Plätze.“

Uschi schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht unter Aufsicht fahren – sie war doch kein kleines Kind mehr. Und es war ja auch nicht so, dass sie eine Rucksacktour durch Nicaragua plante. Nein, sie hatte vor, einfach mit dem Zug in ein paar deutsche Städte zu fahren und sich dort etwas anzusehen. Alleine, nur mit ihrem Rollköfferchen und ohne jemanden neben sich, der immer nur dem Untergang des christlichen Abendlandes entgegensah oder glaubte, jenseits von Bremen-Lilienthal sei die Welt zu Ende.

Geld hatte sie mehr als genug: Sie hatte immer fleißig in der Firma mitgearbeitet, sich nie Urlaub gegönnt und nebenher noch die Kinder großgezogen. Als ihr Mann Ulrich plötzlich und viel zu früh einen Schlaganfall erlitt, hatte sie das Ruder übernommen, bis sie die Firma günstig verkaufen konnte, und sich dann jahrelang um die Pflege ihres Mannes gekümmert. Und dann hatte sie geglaubt, in Erich, einem langjährigen Freund der Familie, einen neuen Partner zu finden. Er war bei ihr eingezogen und hatte sie fünf Jahre lang mit seinen zahlreichen eingebildeten Krankheiten auf Trab gehalten. Mal hatte er ganz bestimmt einen Herzinfarkt, dann ganz plötzlich Darmkrebs, und dann wieder stand er kurz vor einer Beinamputation aufgrund von Knochenkrebs. Der freilich erwies sich als eingewachsener Fußnagel und brachte das Fass zum Überlaufen. Uschi hatte den drei Jahre jüngeren Mann in die Obhut seiner Familie gegeben und beschlossen, jetzt endlich zu reisen. Ihr Koffer war gepackt, morgen wollte sie los.

„Nein, ich will nicht warten. Ich fahre morgen los. Ich brauche auch niemanden, der auf mich aufpasst. Ich kann mir überall ein Zimmer nehmen, und wenn ich mein Hotel zu Fuß nicht wiederfinde, nehme ich mir halt ein Taxi!“

Robert seufzte. Seit seine Mutter auf diesem Freiheits-Trip war, war mit ihr nicht mehr zu reden. Er musste seine Schwester Sandra informieren – vielleicht hörte seine Mutter besser auf sie.

„Pass auf, Muddi, ich rede mit Sandra und ihr beiden Frauen könnt zusammen einen Plan ausarbeiten, was deinen Urlaub angeht. Und dann vielleicht ein bisschen was vorbuchen. Ich habe einfach Sorge, dass du irgendwo strandest.“

„Wenn ich strande, saufe ich mir einfach einen an und warte auf den nächsten Tag!“, entgegnete Uschi und knallte den Hörer ihres altmodischen Tastentelefons auf die Gabel. Sie war sauer. Gewiss würde Robert ihr jetzt Sandra auf den Hals hetzen, die solange mit ölig besorgtem Gesichtsausdruck an ihrem Küchentisch sitzen würde, bis Uschi irgendwelche faulen Kompromisse einging, nur um sie loszuwerden. Dem musste sie entgehen!

Kurz entschlossen rief Uschi sich ein Taxi, griff nach ihrem Koffer und schloss die Haustür hinter sich ab. Für die Tochter hängte sie einen Zettel mit einer dramatischen Botschaft an den Postkasten: „Ich bin weg, bitte sucht mich nicht. Die Orchideen brauchen einmal die Woche Wasser, die Begonien zweimal. Gruß, Mutter.“ Als das Taxi die Straße herunterfuhr, sah Uschi in der Ferne Sandras grünen Polo heranrollen. Na, der war sie ja gerade noch entkommen!

Am Bahnhof beschloss Uschi, einfach in den Zug einzusteigen, der als nächstes fuhr. Richtung Hamburg sollte es gehen. Na gut, dann also Hamburg. Sie stieg ein, ohne eine Fahrkarte zu kaufen, das konnte sie immer noch im Zug tun. Sie setzte sich in ein Abteil zu zwei Männern: Einer stank nach Bier und schlief, der andere sah mit seiner Irokesenfrisur und den vielen Tätowierungen zum Fürchten aus, war aber wach. Uschi war nicht danach, sich zu fürchten. Sie suchte das Gespräch: „Ist das hier ein erster-Klasse-Wagen?“ Der dünne Mann ihr gegenüber lachte, so dass sich das viele Metall in seinem Gesicht auf und nieder bewegte. „Erster Klasse? Gnädigste, sehen wir beiden aus, als würden wir erster Klasse fahren?“ Er tippte den schnarchenden Mitreisenden kurz an und dieser grunzte. Uschi nickte – also war dies ein zweiter-Klasse-Wagen. Schick, fand sie. Sie war vor über dreißig Jahren zum letzten Mal Zug gefahren, da hatten die Wagen noch ganz anders ausgesehen: mit schmuddeligen, gelb gepolsterten Sitzen und einer braun lackierten Heizung.

Uschi wies auf den Schnarcher: „Gehört der Herr zu Ihnen?“ Der Mann schüttelte energisch den Kopf. „Ne, der Penner saß hier schon, als ich kam. Wer weiß, wie lange der hier schon mitfährt. Den ham’se hier vergessen und nun steigt er da aus, wo er wach wird.“ Uschi nickte. „Das habe ich auch vor.“ Ihr Gegenüber runzelte die Stirn. „Sie? Wo woll’n se denn hin?“ „Keine Ahnung“, sagte Uschi, „erst mal nach Hamburg. Und dann mal weitersehen.“ Der dürre Mann zog fragend eine durchlöcherte, grün gefärbte Augenbraue hoch. „Sind’se wo abgehauen?“ Uschi zuckte die Schultern, und ohne lange darüber nachzudenken, erzählte sie diesem Fremden den ganzen Ärger der letzten Tage, Jahre, Jahrzehnte. „Jo“, sagte der Mann, als sie fertig war, „da müssen se dringend mal anne Luft, dat seh ich ein. Aber ihr Sohn hat schon recht, ganz alleine sollten se heute Nacht nicht auffe Reeperbahn rumstrumpeln, das is nix für ne Dame wie sie. Aber wenn’se neugierich sind, kommt Onkel Ralph einfach mit.“ „Onkel Ralph? Wer soll das denn sein?“, fragte Uschi irritiert. „Na, ich! Ich wohn‘ schon seit zehn Jahren auf Pauli, hab nur meine Omma hier in Brem besucht. Wenn’se wolln, geh’n wa heute Nacht zusamme auffe Piste, und pennen könn’se auch bei mir. Dat is mir lieber, als wenn’se mir verloren gehen!“ Also schien selbst dieser wüst aussehende Mittdreißiger der Ansicht zu sein, dass sie alleine nicht zurechtkam – na, danke für das Kompliment, dachte Uschi. Aber das Angebot, mit Ralph Hamburg zu erkunden, fand sie verlockend und stimmt zu ihrer eigenen Überraschung zu.

Hamburg, alte Liebe, Elbphilharmonie

Hamburg mit alter Liebe und Elphi

In Hamburg angekommen, fuhren sie mit dem Bus zu Ralphs Wohnung. Die war weit aufgeräumter, als Uschi gedacht hatte. Nur der schwere, seltsame Geruch irritierte sie ein wenig, sie hatte aber das Gefühl, dass dieser sie auf dem alten, etwas durchgesessenen Sofa gut würde schlafen lassen. Sie tranken eine Kanne Tee zusammen und aßen Tiefkühlpizza, dann zogen sie los. Ralph zeigt ihr sein Viertel, dann gingen sie in seine Stammkneipe.

„Hey Ralph, hast du deine Omma gleich mitgebracht?“, fragte der große Wirt hinter der Theke. „Ich geb‘ dir gleich die Omma, du Schandmaul! Dat is Frau Uschi, meine neue Bekannte, die’n büschen wat vonne Welt sehn will. Mach uns bloß keine Schande und benimm dich, sonst fährt’se gleich wieder wech!“ Der Wirt nickte und stellte unaufgefordert ein Astra vor Ralph auf die Theke. „Die Dame?“, fragte er und sah Uschi auffordernd an. „Das Gleiche“, bestellte Uschi, und trank zum ersten Mal in ihrem Leben ein Bier aus der Flasche. Mit Ralphs Hilfe setzte sie sich bequem auf dem hohen Thekenhocker zurecht und ehe sie sich versah, war sie Mittelpunkt einer lustigen Runde, die Bier trank, Nüsse knabberte und über Gott und die Welt schwatzte. „Die Omi ist ja süß!“, hörte Uschi eine junge Frau sagen, die aussah, als sei sie Ralphs kleine Schwester.

Tief in der Nacht brachen sie auf. Uschi konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so einen lustigen Abend erlebt hatte – das musste vor Ulrichs Erkrankung gewesen sein. Kurz vor der Wohnung sah Ralph noch einen Lichtschein in einer Kneipe und zog Uschi über die Straße. „Lass uns hier noch eben Moin sagen!“ Uschi war es recht. Sie war beschwingt und betrunken, sie hätte auch zwei Zuhältern mit Kampfhunden „Moin“ gesagt, wenn die ihr gerade begegnet wären. Und die Leute, die in der winzigen Kneipe im Souterrain saßen, machten einen zwar müden, aber doch freundlichen Eindruck. „Mensch Kuddel!“, rief Ralph erfreut und schlug einem älteren Herrn auf die Schulter. „Seit wann bist du denn wieder an Bord hier?“ Der pummelige Mann mit dem gutmütigen Gesicht einer verschlafenen Bulldogge grinste ihn an. „Bin nur auf der Durchreise. Morgen geht‘s weiter – nach Dänemark. Will’ste mal wieder mit?“ Ralph schüttelte den Kopf. „Geht nicht, hab‘ viel zu tun auf Arbeit zurzeit.“ Uschi bemerkte, dass sie überrascht war: Sie war gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass jemand wie Ralph einer geregelten Arbeit nachgehen könnte. Dann aber wurde sie hellhörig.

„Ich hab‘ hier die Frau Uschi, die will wat vonne Welt sehen. Nimm‘ste die mit? Dir würd‘ ich se anvertraun.“ Kuddel sah skeptisch zu Uschi rüber. „Ich weiß nicht. Haben Sie schon mal Urlaub in ‘nem Wohnmobil gemacht?“ Uschi schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe noch nie Urlaub gemacht.“ Das breite Gesicht drückte pures Erstaunen aus. „Noch nie? Immer nur Arbeit und Pflicht? Na, dann wird’s ja Zeit. Gut, Frau Uschi, Sie kriegen eine Koje bei mir. Aber eins muss ganz klar sein: Wer meckert, fliegt raus!“ Uschi nickte. Ja, das schien ihr fair zu sein.

Kuddel holte Uschi um elf Uhr am nächsten Morgen ab. Ralph, ihr Gastgeber in dieser denkwürdigen Nacht in Hamburg, hatte sie fürsorglich mit einem riesigen Stullenpaket und zwei Flaschen Cola versorgt. Sie umarmten sich zum Abschied so herzlich, als würden sie sich schon viel länger als 18 Stunden kennen. Ralph versprach, irgendwann man auf Kuddels Handy anzurufen und nachzufragen, wie es so ginge. Vielleicht würde er auch vorbeikommen, irgendwann, wenn es sich gerade so traf. Schließlich traf man sich immer zweimal im Leben.

Und dann fuhren sie los. Uschi saß vorne neben Kuddel und sah die Landschaft an sich vorbeiziehen. Sie fühlte sich wie aus einem Gefängnis entlassen. Auf der Fähre stand sie draußen und ließ sich den Wind um die Nase wehen. Kuddel stand hinter ihr und sah sie neugierig an. Dass in seinem Alter nochmal so’ne schmucke Deern bei ihm einsteigen würde, hätte er nicht gedacht. Sie schien ganz patent zu sein. Wenn die nicht irgendwann anfing zu drinsen*, konnte das vielleicht was werden mit ihm und Frau Uschi.

Und so gab er sich viel Mühe an diesem ersten Abend in Dänemark: Er suchte einen Strandplatz mit schöner Aussicht, kramte ein Windlicht mit erst halb abgebrannter Kerze aus seinem Wohnmobil und köpfte für sie seine letzte Flasche Rotwein. Als sie schlafen gingen, sorgte er für ihre Bequemlichkeit und dafür, dass sie es warm hatte. Früher hatte er das anders gemacht mit den Mädels, doch dieses Mal schien es ihm angemessen zu sein, mit einer Wolldecke für Wärme zu sorgen. Er plante, weiter hochzufahren Richtung Norwegen, vielleicht auch nach Island. Wenn sie es so lange miteinander aushielten, konnten sie sich immer noch aneinander kuscheln, um sich zu wärmen – Eile mit Weile.

Und Uschi – Frau Uschi, wie sie jetzt hieß – hatte ein seltsames Gefühl, als sie einschlief. Sie war voller neuer Eindrücke, so dass ihr der Kopf schwirrte. Von Norwegen und Island hatte dieser seltsame Mann gesprochen, der schon seit vielen Jahren mit seinem alten Wohnmobil unterwegs war. Darin roch es etwas komisch, nach Zigaretten, Dosenessen und schmutzigen Socken, und doch fühlte sie sich seltsam wohl. Irgendwann würde sie ihrer Familie eine Postkarte schreiben, morgen vielleicht oder übermorgen. Sie sollten sich nicht sorgen. Und so schrieb sie einige Tage später von einem Rastplatz auf Bornholm je eine Postkarte an Robert und Sandra:

Ihr Lieben,

sorgt euch nicht um mich. Ich bin mit Herrn Kuddel unterwegs, einem echten Vagabunden und Kapitän der Landstraße. Kennengelernt habe ich ihn auf St. Pauli in einer Kneipe, die mir Ralph gezeigt hat. Bei dem habe ich auch übernachtet, und zum ersten Mal in meinem Leben geraucht – eine ganz dicke Zigarette. So schön habe ich noch nie geträumt, sage ich euch. Ihr seht, alles ist gut.

Viele Grüße

Mutter

 

*drinsen: Norddeutsch für quengeln

Die 7-Kräuter-Lesung: Schnittlauch

Grüne Soße

Grüne Soße mit Kartoffeln und Eiern – Frankfurts Nationalgericht. Bild zur Verfügung gestellt von Antje Witgen.

Wie schon berichtet, durfte ich am Samstag an der 7-Kräuter-Lesung der ARS Autorengruppe teilnehmen. Die fand in Frankfurt-Oberrad im Lokal Grüne Soße und Mehr statt, wo Kai und sein Team mal wieder mit viel Schwung und guter Stimmung dafür sorgten, dass es allen – Autoren und Zuhörern – so richtig gutging. Damit hatten sie allerhand zu tun, denn die Hütte war voll – toll!

Jeder von uns hatte ein Kräutlein aus der grünen Soße zugeteilt bekommen und durfte dazu ganz frei eine Geschichte erfinden. Was gab es nicht alles für unterschiedliche Erzählungen: Von der Petersilie auf dem Mars über die skorbutverhindernde Wirkung von Sauerampfer bis hin zu einem Kresseherz war alles dabei. Auch einen traurigen Waschbären gab es, ein ältliches Fräulein mit einem Koffer voller Geld und einen Parforceritt durch die Grimmsche Märchenwelt, bei dem der Kerbel zum allgemeinen Gaudium breitestes Hessisch sprach.

Ich hatte den Schnittlauch und entschied mich für eine Art Liebesgeschichte. Muss auch mal sein. Sie hat den dramatschen Titel:

Der Schnittlauch war ihr Schicksal

Lesung, Meike Möhle

Lesung in der Grünen Soße – aufgenommen von Susanne Reichert

Schneckenfraß im 3. Stock – konnte das wirklich sein? Ungläubig sah Anja auf ihre Balkonpflanzen, die aussahen, als sei ein ganzes Bataillon gieriger, schleimiger Schädlinge darüber hergefallen. Alle waren hinüber – bis auf der Schnittlauch. Der stand aufrecht wie immer, ein großes grünes Büschel mit einigen lila Blüten. Die anderen Kräutertöpfe konnte sie wohl wegschmeißen, und die zwei Hängeschalen mit den Frühjahrsblumen sahen ebenfalls trist aus. Nun ja, genau genommen wirkten die, als hätte sie sie versehentlich mit Essigessenz gegossen. Das schloss sie zwar aus, nahm aber an, dass sie trotzdem für das Siechtum auf ihrem Balkon verantwortlich war. Anja hatte keinen grünen Daumen, hatte noch nie einen gehabt. Alles, was bei ihr wuchs, war Schnittlauch. Sowohl auf dem Balkon, als auch auf ihrem Kopf. Früher fand sie das ungerecht.

„Anja hat Schnittlauchlocken!“, hatte ihre große Schwester Simone immer gelästert und dabei abfällig mit dem Finger auf das dünne, glatte Haar ihrer Schwester gezeigt.

„Ach, das wächst sich aus und wird noch fester“, hatte die Mutter tröstend gemeint und Bruder Bernd hatte irgendwann wenig sensibel vorgeschlagen, Anja könne sich ja eine Zweitfrisur im Kaufhof besorgen, diese einfach überstülpen und fertig sei die Laube.

Anja hatten diese Neckereien immer frustriert, denn sie stammte aus einer Familie, in der alle – wirklich alle von der Oma bis zum Hund – festes Haar und zumindest Wellen, wenn nicht sogar Locken hatten. Nur sie hatte diese weichen, flaumigen Haare, die sie in ihrer Jugend mit Hilfe von allerlei Chemie in Form zu bringen versuchte. „Volumen“ lautete das Zauberwort, Volumen war das, was eine jede Frau sich nicht nur wünschte, sondern auch dringend brauchte. „Spannkraft im Haar“ versprach die Werbung, doch egal, was Anja probierte, ihre Haare zeigten immer nur ganz entspannt nach unten. Fönwellen hielten zwei Stunden, Wasserwellen zwei Tage und die teuren Dauerwellen zwei Wochen. Irgendwann entschloss sie sich für die Atombombe und ließ einen Minipli machen: Das war eine dieser kleinkringeligen Dauerwellen, die wirkten, als hätte man einen gehäkelten Kaffeewärmer auf dem Kopf. Zum Gaudium ihrer Geschwister sah die damals 17-jährige Anja damit eine Woche lang aus wie Bernhard Brink und die nächsten zwei Wochen immerhin noch wie Rudi Völler. Danach sank die Pracht in sich zusammen und erinnerte an braunes Sauerkraut.

Seit einigen Jahren jedoch hatte Anja sich mit ihren Haaren abgefunden. Sie war zufrieden, denn wenn sie vor dem Spiegel stand, sah sie eine durchaus attraktive Frau. Sie war schlank, aber weiblich geformt, hatte auch jenseits der vierzig nur einige wenige Fältchen im Gesicht und das Haar war – wenn auch dünn – noch immer kastanienbraun. Zusammen mit ihren grünen Augen und den hübschen kleinen Sommersprossen gab das ein harmonisches Bild, und Anja hatte aufgehört, den Idealen aus der Werbung hinterherzulaufen. Sie mochte sich und ihr Leben. Ihr Beruf machte Spaß, die Wohnung war schön und sie hatte einen tollen Freundeskreis. Gut, ein bisschen mehr Talent beim Gärtnern wäre noch nett gewesen, aber alles konnte man halt nicht haben.

Was Anja nicht vermisste, war eine Familie. Ein paar Mal hatte sie einen Freund gehabt, einer hatte sie sogar heiraten wollen. Aber Anja war nicht zu überzeugen gewesen, und spätestens dann, wenn das Gespräch auf Kinder kam, hatte sie immer einen Rückzieher gemacht. Sie wollte keine Kinder, konnte sich nicht vorstellen, die Mutterrolle auszufüllen. Und so hatte sie es sich als Single gemütlich eingerichtet.

Ihre Schwester war da ganz anders: Simone hatte zwei inzwischen fast erwachsene Kinder und war nach ihrer Scheidung eifrig darum bemüht, möglichst schnell einen neuen Freund zu finden. Partnerbörsen, Speeddatings – nichts war vor ihrer energiegeladenen Suche sicher. Sie war eine Jägerin, unermüdlich und gnadenlos. Und bei einer dieser Aktivitäten fand sie Peter.

„Hier, Anja, guck mal der – da musst du unbedingt hinschreiben!“ Simone schob Anja ihr Tablet rüber, auf dem das Profil eines Mannes angezeigt wurde.

„Hmmm, ich, wieso ich? Du suchst doch jemanden, schreib du ihn doch an, wenn er so toll ist.“

Simone schüttelte den Kopf und schubste das Tablet noch ein Stück weiter über den Kaffeetisch in ihrer Küche. „Nein, der ist nicht toll, für mich jedenfalls nicht. Aber guck doch mal, wie der sich beschreibt!“

Anja schielte mit einem Auge auf das Profil, das leider kein Foto enthielt. Peter, 45, Angestellter, geschieden, stand da zu lesen. Größe normal, Figur normal, Augen blau, Haare: vertrockneter Schnittlauch. Anja musste lachen. Dieser Peter schien so ziemlich der langweiligste Mensch der Welt zu sein, aber anscheinend hatte er einen gewissen Humor. Wie er mit dieser öden Beschreibung allerdings eine Partnerin finden wollte, war ihr schleierhaft.

„Komm, schreib‘ da mal hin, nur aus Spaß!“ Simone war nicht zu bremsen. Anja sah sie zweifelnd an.

„Wozu soll das gut sein? Ich suche keinen Partner, und schon gar nicht so einen lahmen Vogel. Warum soll ich ihm was Anderes vorgaukeln?“

Simone zuckte die Schultern. „Ach komm, der arme Tropf kriegt bestimmt nie Zuschriften. Er freut sich sicher über jede Nachricht. Und wer weiß, vielleicht ist er ganz nett. Du suchst doch immer Kumpel für Spieleabende und zum Joggen – zumindest laufen wird er ja wohl können.“

Anja seufzte. Wenn ihre Schwester sich was in den Kopf gesetzt hatte, war sie wirklich unerträglich. Gegen ihre Überzeugung zog Anja das Tablet zu sich heran, öffnete eine Nachricht und schrieb, ohne lange nachzudenken:

„Brauner Schnittlauch grüßt vertrockneten Schnittlauch! Wenn du keine Familie gründen willst, sondern Spaß an gemeinsamen Aktivitäten hast, kannst du dich gerne mal melden.“

Sie schloss mit ihrer E-Mailadresse, fest davon überzeugt, dass selbst der einsamste Mann der Welt sich auf so eine trockene Anmache hin nicht melden würde. Simone rollte verzweifelt mit den Augen. Anja grinste zufrieden und vergaß diesen Peter.

Eine Woche später jedoch musste sie feststellen, dass ein dauerhaftes Vergessen dieses potentiellen Langweilers ihr nicht mehr möglich war. Denn er hatte sich gemeldet, sie hatten einander geschrieben, danach telefoniert und sich schließlich in Anjas Lieblingsbar verabredet. Er war anscheinend nicht ganz so langweilig wie gedacht, sondern wirkte intelligent, hatte Humor, schien interessiert an allem Möglichen zu sein. Seine Stimme klang angenehm und Anja sprach gerne mit ihm. Sie dachte auch gerne an ihn. Viel zu gerne – schließlich suchte sie niemanden. Und doch machte sie sich für ihr Treffen äußerst sorgfältig zurecht, zog das neue Kleid mit den unbequemen Schuhen an und föhnte ihre Haare über Kopf: Zum ersten Mal seit Jahren bemühte sie sich um Volumen. Perfekt aufgerüscht erschien sie überpünktlich am Treffpunkt und sah sich suchend um. Augen blau, Haare vertrocknet, alles andere normal – war er schon hier? Sie bereute, dass sie kein „besonderes Kennzeichen“ ausgemacht hatten, eine Nelke im Knopfloch oder so. Sie hatten auch nicht darüber gesprochen, wie sie jeweils aussahen, nichts außer den glatten Haaren war ein Thema zwischen ihnen gewesen. Es saß jedoch an keinem Tisch ein einzelner Mann, also war Peter wohl noch nicht da. Anja kicherte nervös in sich hinein und wählte schließlich einen Platz aus, von dem sie einen guten Blick zur Tür hatte. Gebannt starrte sie auf den Eingang.

Zuerst erschien ein ältlicher Herr mit schütterem Haar und Schnurrbart. Ihm folgten jedoch zwei noch ältere Damen auf dem Fuße, das war der Falsche. Als nächstes kam ein Jungspund von vielleicht 19 Jahren, der fast über seine viel zu langen Hosenbeine fiel.

Dann kam ein ausgesprochen hübscher Mann mit sehr glatten Haaren in Anjas Blickfeld und ihr stockte für einen Moment der Atem. Doch dieser Mann eilte hinter die Theke und band sich eine Schürze um – der war es auch nicht. Sie riss sich zusammen und atmete aus – der Knabe war glutäugig und schwarzhaarig, passte also überhaupt nicht zu der Beschreibung. Außerdem war er wirklich attraktiv und nicht bloß normal – nur nicht zu viel erwarten! Hoffentlich sah dieser Peter nicht aus wie einer von Bauer sucht Frau. Nochmal rief Anja sich zur Ordnung – wie jemand aussah, sollte nicht ausschlaggeben sein. Verstohlen sah sie auf die Uhr: Er war schon zwei Minuten zu spät. Wenn er in drei Minuten nicht kam, würde sie sich davonmachen.

Der nächste, der hereinkam, entsprach jedoch genau Anjas Vorstellung: Mittelgroß und vollschlank mit einem kleinen Bäuchlein, das kurze, dunkelblonde Haar ordentlich geschnitten und sehr glatt. Er trug Jeans, eine Lederjacke und Sportschuhe. Anja war erleichtert: Dieser Mann war kein Beau, aber auch kein Quasimodo, und er lächelte sie auf eine etwas unsichere Weise sympathisch an. Sie strahlte zurück.

„Anja?“, fragte die ihr vom Telefon bekannte Stimme und sie wäre vor Schreck fast vom Stuhl gefallen. Denn diese Stimme kam nicht von vorne, nicht von dem Mann in der Lederjacke, der jetzt an ihr vorbeilief. Anscheinend gab es einen Hintereingang, und Peter, der wahre Peter, stand direkt neben ihr. Sie schielte aufwärts, sagte „Ja?“ und schwieg dann verwirrt. Denn dieser Mann sah alles andere als normal aus. Er war groß, gut gebaut, mit einem schönen Gesicht. Und er hatte lange, glatte, blonde Haare, die zu einem lässigen Dutt gewickelt waren. Er sah aus wie einer dieser Typen aus der Werbung, die Anja immer so schön und doch so albern fand. Selbst ein gepflegter Hipster-Bart fehlte nicht.

Schnittlauchblüte

Schnittlauchblüte. Bild aus den Wikipedia Commons zur Verfügung gestellt von H. Zell.

Peter setzte sich Anja gegenüber und lächelte sie offen an. Sie hatte das Bedürfnis, etwas Kluges zu sagen: „Das ist wahrscheinlich der längste Schnittlauch, den ich je gesehen habe.“

Er nickte bedächtig. „Wikipedia sagt, Schnittlauch kann bis zu 50 Zentimeter lang werden.“

Damit schien alles gesagt zu sein, sie sahen sich nur an. Anja war verwirrt, sie ertappte sich dabei, wie sie ihr Gegenüber anstarrte wie ein verknallter Teenager einen Popstar. Peter schien frustriert zu sein. Dann aber fing sie sich und fragte: „Hast du als Kind viele Wikingerbücher gelesen?“, und er lächelte.

„Der schreckliche Sven war mein Großvater.“ Damit war das Eis gebrochen und sie nutzten die Zeit zum Kennenlernen, bis spät in der Nacht die Kneipe schloss.

„Gehst du morgen mit mir joggen?“, fragte Anja, als sie sich verabschiedeten, und Peter sah sie fragend an.

„Joggen? Wieso denn das?“

„Naja, laufen wirst du wohl können, meinte meine Schwester.“

Er seufzte. „Ich kann laufen, ja, sogar geradeaus. Aber ich beeile mich nicht gerne. Wollen wir nicht lieber spazieren gehen?“

„Na gut.“

Einige Tage später rief Anja ihre Schwester an. „Simone, ich habe ihn getroffen!“

„Getroffen, wen?  Den Schnittlauch?“

„Ja, den Schnittlauch. Peter. Er ist … hach!“

Simone war verblüfft – so kannte sie ihre Schwester gar nicht. „Anja? Ist alles in Ordnung mit dir? Was ist mit dem Typen?“

Anja kicherte zunächst nur albern. Dann versuchte sie sich an einer Erklärung: „Ja, ich weiß gar nicht, wie ich dir das beschreiben soll: Er ist eigentlich unmöglich. Solche Männer sollte es nicht geben.“

Natürlich wollte Simone mehr wissen und Anja beschrieb Peter als klug, humorvoll, gutaussehend.

„Das klingt doch gut“, meinte ihre Schwester. „Was stört dich denn? Ich kenne dich doch, du hast schon jetzt irgendein Haar in der Suppe gefunden.“

Anja seufzte. „Ja, schon, so ein bisschen. Der ist einfach zu perfekt. Das kann gar nicht gutgehen. Der Kerl ist zu schön, um wahr zu sein.“

Simone wunderte sich. „Was kann denn an einem ganz normalen Typen zu schön sein?“

Anja lachte leicht hysterisch. „Normal. Das hat er in sein Profil geschrieben, normal. Aber der ist alles andere als normal. Gegen den ist jeder jemals gekürte „sexiest man alive“ ein kalter Furz.“

Simone schüttelte den Kopf – das waren vielleicht Luxus-Probleme. Aber als die Ältere von beiden wusste sie Rat: „Nimm es hin und genieße. Oder – noch besser – stelle ihn mir vor und verschwinde.“

„Das kannst du vergessen.“, sagte Anja ungewöhnlich entschieden.

Und so nahm Anja den ersten Rat ihrer Schwester an und genoss die Zeit mit Peter. Nachdem sie sich an sein verwirrendes Äußere gewöhnt hatte, lernte sie ihn von allen Seiten kennen und stellte fest, dass er trotz seines verboten guten Aussehens ein ganz normaler Mann war – einer, der seine kleinen Macken hatte und keine 20 mehr war. Jedes zweite Wochenende betreute er seine beiden Söhne. Dann spielte er mit ihnen Fußball, hatte am nächsten Tag allerlei Zipperlein und klagte zum Steinerweichen. Er verteilte seine langen Haare in Anjas Bad und klaute ihre Haargummis. Und er war ein genauso schlechter Gärtner wie sie, auch sein Balkon war eine triste Steppe.

„Es kann echt nicht wahr sein“, murmelte Anja und wandte sich nachdenklich ihren Balkonpflanzen zu. Sie holte einen Müllsack und begann mit der Entsorgung der biologischen Katastrophe. Während sie arbeitet, hörte sie Peter hereinkommen – er drückte immer einmal kurz auf die Klingel, bevor er aufschloss.

„Ich bin draußen“, rief sie und wartete auf ihr Begrüßungsküsschen. Er enttäuschte sie nicht und sie machte ihn mit ihren erdigen Händen ein wenig schmutzig. Dann ging er wieder hinein und holte ein Mitbringsel für sie.

„Ich denke, wir versuchen es nochmal hiermit“, erklärte er und zeigte ihr, was er ausgesucht hatte. „Du willst es doch grün haben.“

In seinen großen Händen hielt er zwei Töpfe Zierlauch. Sie roch den vertrauten, leicht zwiebeligen Geruch. Ja, das würde gewiss wachsen bei ihr. Wachsen und gedeihen.

Schnittlauch in rauen Mengen. Bild aus den Wikipedia Commons zur Verfügung gestellt von H. Zell.

Frankfurter Liebe

Heute gibt es bei mir mal wieder eine etwas längere Geschichte. Geschrieben wurde sie für eine Lesung zum Thema „Frankfurt“. Sie beschreibt eigentlich ziemlich genau, was mir hier in Frankfurt passiert ist und immer noch passiert. Ich mag diese Stadt einfach ❤

Frankfurter Liebe

Der letzte laue Schluck Apfelwein schmeckte immer ein wenig nach wässrigem Essig. Melanie setzte ihr Glas ab, sah auf den Main und seufzte zufrieden. Sie war angekommen in Frankfurt – so nannte man das wohl. Hier saß sie nun, mit ihrem Mann sowie ihrer Schwester und dem Schwager aus Berlin. Um sie herum tobte das Leben auf dem Flohmarkt am Untermainkai und die Frühlingssonne wärmte ihren Nacken. Sie war zufrieden mit allem, was das Leben ihr aktuell bot.

Apfelwein

Äppler mit Deggelsche

Dabei hatte sie eigentlich nur ein halbes Jahr bleiben wollen – maximal. Genau genommen hatte sie überhaupt nicht in diese Stadt gewollt, es hatte sie einfach erwischt, so wie so vieles im Leben sie einfach erwischt hatte. Melanie plante nicht, ihr passierten die Dinge einfach. Als es darum ging, eine neue Filiale in Frankfurt zu eröffnen, war sie die Einzige gewesen, die weder Kinder noch pflegebedürftige Angehörige vorweisen konnte. „Das machst du schon, Melanie“, hatte es geheißen. „Dort gibt es ein tolles Team, die brauchen nur ein paar Monate Unterstützung von einem alten Hasen wie dir.“

Na gut, dann also Frankfurt. Melanie, pragmatisch wie immer, kündigte ihre kleine Wohnung in Berlin, lagerte die Möbel ein und den Freund, ein fragwürdiges Subjekt namens Wolfgang, im gleichen Zuge aus. Für was so eine sechsmonatige Abwesenheit doch gut sein konnte. Er war zunächst furchtbar beleidigt, zog jedoch zurück zu seiner Mutter und vergaß Melanie am Sonntag in der gleichen Woche, als er Mamas Gulasch aß – die Welt war wieder in Ordnung. Und für Melanie auch: Sie brauchte es einfach, dass das Leben ihr dann und wann einen kleinen Tritt gab.

An einem regnerischen Freitagabend war sie in Frankfurt angekommen, beladen mit zwei Koffern und einem dicken Rucksack. Ein Taxi hatte sie zu dem möblierten Appartement gebracht, das die Firma für sie gemietet hatte. „Großer Hasenpfad“ hieß die Straße im Stadtteil Sachensenhausen, und schon vom Taxifahrer, einem gesprächigen Mann, der jeden zweiten Satz mit „Ai“, begann, hatte sie erfahren, dass es auch noch einen mittleren und einen letzten Hasenpfad gab. Wie passend für einen alten Hasen wie mich, hatte Melanie gedacht und ein wenig gekichert.

Das Lachen ihr allerdings vergangen, als sie ihr Appartement in Augenschein genommen hatte: „Tristesse“ war ein viel zu farbiger Ausdruck für diese Malaise in grau, beige und braun. Ganz offensichtlich stammte zumindest das Mobiliar aus den 70er Jahren, und auch der abgetretene Fußboden war nicht viel jünger. Vor den Fenstern hingen dicke Stores und Schalgardinen – wann hatte sie sowas zuletzt gesehen? Sie hatte es nicht lassen können und einen der beige-braun gemusterten Vorhänge ein wenig angehoben. Tatsächlich, da war sie: die berühmte Goldkante von Ado. Hier war vor langer Zeit Qualität gekauft worden, und die musste nun 50 Jahre halten.

Natürlich hatte Melanie sich auf Frankfurt vorbereitet – so, wie man das halt so machte. Sie hatte sich einen Reiseführer gekauft und im Nachtprogramm einige unglaublich langweilige Folgen vom Tatort mit dem biederen Kommissar Brinkmann geguckt. Ihre Kollegen schenkten ihr zusätzlich noch einige DVD von „Ein Fall für zwei“ mit dem gemütlichen Anwalt Renz und seinem Partner Matula. Auch das war seeeehr ruhig inszeniert. Wenn es in dieser Stadt dermaßen beschaulich zuging, dachte Melanie, würde sie sich dort mal so richtig erholen können.

Main mit Skyline

Doch schon am nächsten Morgen änderte sich ihr Bild von Frankfurt ein wenig: Sie hatte sich umsehen und frühstücken gehen wollen. Auf den Rat der Hausmeisterin hin, die sie beim Putzen des Treppenhauses vorgefunden hatte, war sie zuerst zum Südbahnhof gelaufen und von dort in die Stadt gefahren. Dann hatte sie sich auf dem quirligen Markt an der Konstabler Wache nach etwas zu essen umgesehen. Was sie irritierte, waren die kleinen karierten Gläser, die fast auf allen Tischen auf dem Markt standen. Wenn sie sich die Informationen aus dem Reiseführer richtig gemerkt hatte, war in dieses Gläsern Apfelwein, aber trank man den schon vormittags? Zur Bratwurst und zur Waffel? Anscheinend passte das Getränk zu allem. Sie wollte es zu versuchen, hatte sich eine Wurst und ein Glas Apfelwein geholt und einen tüchtigen Schluck genommen.

Man kann Melanies allerersten Versuch mit Frankfurter Apfelwein nicht unbedingt als Erfolg bezeichnen, aber immerhin hatte sie es damals geschafft, den unerwartet herben Speierling nicht auszuspucken. Oh Himmel, hatte sie gedacht, was ist das denn für eine Stadt, in der alle Leute dieses Gesöff trinken! Sie würde diese Frankfurter Spezialität erst langsam lieben lernen.

Nicht erst lieben lernen musste sie allerdings den Main, die Skyline und das interessant-skurrile Bild, das die Stadt manchmal bot. Als sie an diesem ersten Wochenende zum ersten Mal über den Eisernen Steg ging, war sie sofort fasziniert von der Aussicht und murmelte unwillkürlich: „Wie schön!“. Auf der einen Seite die Hochhäuser mit ihren blinkenden Fassaden, auf der anderen der Blick auf den Dom, die Dreikönigs-Kirche und das Main-Plaza-Hotel mit seinen goldenen Spitzen. Wenige Tage später fotografierte sie den uralten Eschenheimer Turm, hinter dem sich ein glänzendes Hochhaus abzeichnete. Diese Gegensätze begeisterten sie noch heute.

Blick über die Oberräder Kräuterfelder

Auch die Arbeit in der neu eröffneten Firmenfiliale erwies sich als angenehm: Zwar funktionierte noch nicht viel, als sie ankam, aber alle Kollegen waren mit Feuereifer bei der Sache. Gleich am ersten Freitag zeigte man der Neuen aus Berlin die Gastronomie der Stadt: In einer Apfelweinkneipe mit dem merkwürdigen Namen „Kanonesteppel“ bekam sie das erste Mal grüne Soße zu essen, die ihr im Gegensatz zum faulig riechenden Handkäs hervorragend schmeckte. Später zeigte man ihr Alt-Sachsenhausen, von dessen Fachwerkhäusern sie zunächst begeistert, von der Ballermann-Atmosphäre jedoch abgestoßen war. Der Abend endet in einer Kneipe in der Nähe des Bahnhofs, dem Moseleck, wo sich allerhand bunte Überbleibsel der Nacht trafen und miteinander feierten. Melanie fühlte sich unerwartet wohl.

Am nächsten Morgen erwachte sie neben einem Kollegen, mit dem sie bislang noch kaum zu tun gehabt hatte. Er hieß Mischael, mit dem weischen hessischen sch, das sie so drollig fand. Mischael hatte eine winzige Wohnung in der Mailänder Straße, im elften Stock eines riesigen Wohnsilos. Dass Melanie dieses Appartement später so oft besuchen sollte, lag nicht nur am fantastischen Skylineblick.

Melanie hatte nie eine Beziehung zu einem Kollegen haben wollen, sowas brachte nur Unheil. „Never fuck the company“, lautete ihr Motto. Es war ihre Schwester, die sie schließlich darauf aufmerksam machte, dass ihre Beziehungen außerhalb des Kollegenkreises allesamt auch nicht von Erfolg gekrönt gewesen waren – das Muttersöhnchen Wolfgang war nur einer aus einer ganzen Reihe von Fehlgriffen gewesen. Es hatte noch einen Bernd gegeben, der frei nach der Devise lebte: „Hauptsache gesund und die Frau hat Arbeit.“ Und dann war sie mit Jonas zusammen gewesen, der irgendwann fand, dass er zu jung für sie sei – und dabei war er 12 Jahre älter als sie. Und Thomas, Heiko, Wieslaw … alles Abenteuer, die irgendwo zwischen Verzweiflung und Agonie endeten. Nun also „Mischael“, der Kollege – na gut.

Blick vom Euro-Tower

Melanie lebte sich ein. Nach wenigen Monaten war sie öfter in der Mailänder Straße als am Hasenpfad, und irgendwann stand der Abschied im Raum. Dabei war ihr Aufenthalt in Frankfurt schon um volle sechs Monate verlängert worden. Sie fühlte sich zerrissen. Sie wollte nicht in Frankfurt bleiben, dass hatte sie doch nie gewollt. Aber eine Fernbeziehung hatte sie auch nie gewollt. Das Einzige, was sie aktuell wirklich gerne loswerden wollte, war diese Läusebude im Hasenpfad. Was also tun?

Wieder war es ihre Schwester, die ihr einen Tritt gab: „Suche dir halt einen neuen Job, wenn du anders nicht bleiben kannst. Es gibt doch genug da!“ Kündigen, etwas Anderes machen? Melanie hatte noch nie woanders gearbeitet. Aber die Schwester hatte recht: Eine neue Stelle würde alle ihre Probleme lösen. Sie ließ sich also überzeugen.

Genau ein Jahr, nachdem Melanie in Frankfurt angekommen war, nahm sie morgens einen anderen Weg zur Arbeit: Sie fuhr nicht mehr in die Bürostadt in Niederrad, sondern ins Bankenviertel, stieg an der Taunusanlage aus und lief den Rest bis zu einem silberglänzenden Bürogebäude, wo sie jetzt bei einer Versicherung arbeitete. Sie lernte unglaublich viel, genoss jeden Tag die Aussicht aus ihrem Büro und merkte, dass ihre Erinnerung an Berlin blasser wurde.

Sie suchte sich eine neue Wohnung. Und ohne, dass sie zuvor lange darüber gesprochen hatten, zog Michael mit ihr dort ein. Wieder war es ein großes Haus, dieses Mal mit Blick auf die Oberräder Kräuterfelder auf der einen und den Stadtwald auf der anderen Seite. Frankfurt war eine grüne Stadt, das hatte sie früher nicht gewusst. Der Stadtwald war so groß, dass man von Offenbach bis zum Flughafen laufen konnte. Und auch andere Stadtteile hatten viel Grün zu bieten: Im Günthersburgpark fand alljährlich ein buntes Kulturfestival statt, das Stoffel, und selbst im Palmengarten gab es ein großes Kulturangebot. Frankfurt und Kultur – auch das hatte sie früher nicht miteinander verbunden.

Schloss Höchst, Frankfurt

Was hatte sie denn überhaupt gewusst, als sie hierherkam, oder was erwartet? Eine Betonwüste, in der man auf jedem Meter über einen am Boden liegenden Junkie oder Bettler stolperte, und dass man beklaut wurde, sobald man das Haus verließ, das war ihre Vorstellung von Frankfurt gewesen. Und ganz von der Hand zu weisen war das natürlich auch nicht: Als sie und Michael gestern am Bahnhof auf den Zug gewartet hatten, der ihre Gäste aus Berlin bringen sollte, waren sie allein am Bahnsteig vier Mal angebettelt worden. Im Untergeschoss des Bahnhofs roch es wie in einem schlecht gepflegten Männerklo und abends vermied Melanie es, am Hauptbahnhof umzusteigen. Längst hatte sie es sich angewöhnt, Handy und Geldbeutel verborgen unter etlichen Schichten Kleidung direkt am Körper zu tragen, und an ihrer Wohnungstür waren zwei Schlösser, die sie beide immer gewissenhaft verriegelten. Nicht alles war schön in Frankfurt, aber wo war es das schon?

Sie hörte, dass jemand energisch ein leeres Apfelweinglas auf den Tisch stellte, und erwachte aus ihren Gedanken. Ihre Schwester war es, die auffordernd in die Runde blickte: „Also ich würde noch einen nehmen. Noch jemand?“ Alle wollten, und so gingen die Schwester und der Schwager gemeinsam los, um nochmal vier große sauer Gespritzte und zwei Brezel zum Teilen zu holen.

Michael grinste Melanie an. „Weißt du, woran ich die ganze Zeit denken muss?“ Sie schüttelte den Kopf. Er zeigte auf den Flohmarktstand direkt hinter der letzten Bierbank. „Der schäbige Sessel da hinten sieht aus wie deiner damals am Hasenpfad. Erinnerst du dich noch an deine schauerliche kleine Wohnung da?“ Sie drehte sich um und fand den Sessel. „Oh ja, stimmt. Drollig – ich habe auch gerade an diese Zeit gedacht. Acht Jahre ist das her, dass ich da eingezogen bin.“ „Ja, und du wolltest nur ein paar Monate bleiben. Vielleicht sollten wir den Sessel kaufen, als Symbol für die Frankfurter Beständigkeit.“ „Untersteh dich, dieses hässliche Teil in unsere Wohnung zu stellen! Der ist selbst für den Keller zu alt. Dann lieber ein paar Ado-Gardinen!“

Jemand setzte ein volles Glas vor Melanie ab, und nach einem kurzen „Prost“ in die Runde nach Melanie den ersten Schluck. Ach ja, kalt war er und so erfrischend säuerlich – was war das doch gut. Inzwischen liebte sie Apfelwein. Nur die hässlichen Bembel dazu, die sie noch immer an den Blauen Bock mit Heinz Schenk erinnerten, die kamen ihr nicht ins Haus.

„Frankfurter Pfännchen“ in der Hesse-Wirtschaft – eine typische Frankfurter Untertreibung

Ablesetag

Diese Geschichte entstand im „Schauerkurs“, also einem Kurs über Schauerliteratur, den ich Ende Februar gemacht habe. Sie ist in Teilen autobiografisch, genau genommen bis zur ersten Hornisse. Und da in der letzten Woche wieder der Ableser zu mir kam, scheint mir der Zeitpunkt passend.

Ablesetag

Jahrelang wohnte ich am Goldbergweg. Es war eine schöne kleine Wohnung, von den Vermietern liebevoll gewartet und in Schuss gehalten. Die Nachbarschaft war in Ordnung, die zumeist älteren Leute lebten größtenteils für sich. Dennoch reichte es immer zu einem kleinen Schwatz im Treppenhaus, die Atmosphäre war distanziert, aber freundlich.

Es passierte nicht viel Aufregendes in diesem Haus. Es galt schon als Skandal, wenn jemand die Mülltonnen falsch befüllte – Papier in den Restmüll oder Bio zum grünen Punkt. Dann wurde der Hausmeister tätig und hängte Zettel auf, mit denen das korrekte Vorgehen nochmal erklärt wurde. Ähnliche Zettel kündigten auch die gemeinsamen Sperrmülltermine an, die Sanierung des Aufzuges oder den alljährlichen Besuch des Heizungsablesers.

Der nette Herr von unserem Ablesedienst kam immer kurz vor Weihnachten, gerne zu solch unkommoden Zeiten wie „Montag zwischen 11 und 13 Uhr“, also so, dass es einem Berufstätigen unheimlich schlecht passte. So war es auch in jenem Jahr, dem letzten, in dem ich in dieser Wohnung wohnte.

Ich hatte mir den Nachmittag freigenommen, um den Ableser empfangen zu können. Er war pünktlich, wirkte aber angeschlagen und irgendwie nicht gesund. Ich bot ihm einen Stuhl und eine Tasse Kaffee an, was er beides dankend annahm. Und er hatte offensichtlich Gesprächsbedarf: „Ach, Frau M., wenn doch nur alle Kunden so wie Sie wären! Dann wäre ich so dankbar!“

Ich guckte wohl etwas dumm , denn für eine Tasse Kaffee und einen Sitzplatz erwarte ich in der Regel keine besonderen Dankesbezeugungen. Und sonst hatte ich in den vergangenen acht Jahren diesem Mann gegenüber nichts Besonderes geleistet. Ich fragte deshalb nach: „Mussten Sie sich heute ärgern?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ärgern nicht direkt. Aber dieser Zustand. Bei Ihnen ist immer alles so schön sauber und ganz normal, bei anderen dagegen – ach, ach!“

Er nahm einen Schluck Kaffee, während ich mich zweifelnd in meiner nur semi-aufgeräumten und schon lange nicht mehr entstaubten Wohnung umsah. „Finden Sie es so ordentlich hier?“ Er zuckte die Schultern. „Naja, so ganz normal halt, eine normal genutzte, gemütliche Wohnung. Guter Durchschnitt, würde ich sagen. Bei Ihrem Nachbarn dagegen – ach du je! Aber das darf ich Ihnen eigentlich gar nicht erzählen.“

Nun war ich natürlich neugierig geworden. Es wohnten nur drei Parteien auf unserem Flur, ein älterer Flur links, ich in der Mitte, ein altes Ehepaar rechts. Bei den beiden war alles wie geleckt, es konnte sich also nur um den Herrn zur Linken handeln. „Bei Herrn F?“, fragte ich. „Was ist denn da?“ Der Heizungsmann hatte scheinbar nur auf diese Frage gewartet, denn er legte sofort los: „Da wird es von Jahr zu Jahr schlimmer! Zuerst war es nur unaufgeräumt, jetzt habe ich schon Angst, irgendwo anzustoßen – nicht, dass da Tiere rauslaufen!“ Er trank den Rest vom Kaffee, während er unbewusst mit den Beinen strampelte, so als müsse er Ratten abschütteln.

Ich war verblüfft. Ja, der alte Mann neben mir war kein Muster an Pflege und wirkte stets etwas ungewaschen, aber für verlaust hielt ich ihn nicht gerade. Trotzdem setzte sich der Gedanke in mir fest und ich träumte von allerlei Ungeziefer. Am nächsten Tag kam ich von der Arbeit heim und hatte ein riesiges Fluginsekt in meinem Badezimmer. Ich schlug mit dem Schlappen drauf und erforschte die zoologische Zugehörigkeit des Tieres: Wikipedia stellte mir den geflügelten Genossen als Hornisse vor. Der Größe nach zu urteilen war es eine Königin, wenn nicht sogar eine Kaiserin. Seltsam, sollte die nun nicht im Winterschlaf liegen? Egal, nun war sie hin.

Hornisse, Bild aus den Wikipedia Commons, zur Verfügung gestellt von Christian Olsen

Am nächsten Abend hatte ich noch zwei Hornissen, wieder im Bad. Außerdem ein paar seltsame Kriechkäfer, die sich nur in der Gruppe fortbewegten. Ich ermordete die Hornissen und saugte die Käfer weg. Während ich das tat, fiel mein Blick immer wieder auf die Lüftungsschlitze, die auf einen gemauerten Schacht hinausführten und dafür sorgen sollten, dass mein kleines, fensterloses Innenbad nicht schimmelte. Wie war das wohl mit der Nachbarwohnung, führten da wohl genau solche Schlitze auf eben jenen Schacht? Nach einigen Überlegungen klebte ich mit braunem Paketklebeband ein Handtuch über meine Lüftung.

In dieser Nacht wurde ich wach und wollte auf die Toilette. Schon im Flur hörte ich ein seltsames Knacken und Rascheln. Ich riss die Tür auf und machte gleichzeitig das Licht an. In dieser Sekunde sah ich unzählige winzige Wesen in den Ecken und unter den Schränken verschwinden. Mein rosa Handtuch hing sackartig ausgebeult vor dem Luftschacht, oben war das Klebeband abgerissen und einige haarige Beine drängten energisch nach draußen. Ich knallte die Tür zu, verstopfte die Ritzen mit meiner Bettdecke, rannte zu meinen Nachbarn zur Rechten und alarmierte von dort die Feuerwehr. Zuerst nahm man mich dort nicht ernst, aber ein hysterischer Anfall bewirkte, dass sie doch anrückten und gleich einen Notarzt mitbrachten.

Das war die letzte Nacht, in der ich in dieser Wohnung schlief. Angeblich räumte die Feuerwehr mit Hilfe mehrerer Kammerjäger den Ungezieferherd im Schacht schon am nächsten Tag komplett aus und räumte auch die Wohnung meines Nachbarn, doch nachdem ich die Traumabehandlung in der psychiatrischen Klinik überstanden hatte, zog ich in eine andere Wohnung: Eine ohne Schacht und ohne älteren Herrn in der Nachbarschaft.

Die Weihnachtszwölfe

15. November, Arbeitsamt

„Was, sagten Sie, haben Sie für eine Qualifikation?“ Arbeitsberater Schlüter sah etwas befremdet über den Rand seiner Lesebrille hinweg auf die Kundin mit der wilden roten Lockenfrisur. Der Tag war lang gewesen, nur Verrückte unterwegs, allmählich glaubte er selbst schon fast an Wahrsagerei und das fliegende Spagettimonster. „Ich habe einen guten Abschluss von der Hochschule für Wunder und Magie. Ich bin zwar Berufsanfängerin, aber hoch motiviert, innovativ und teamfähig.“ Schlüter räusperte sich. „Und, ähem, wo, glaube Sie, können Sie ihre Fähigkeiten am besten einsetzen? Nur, dass ich weiß, was ich bei der Stellensuche einsetzen muss.“ Die große, füllige Frau ihm gegenüber sah ihn selbstbewusst an, eigentlich wirkte sie nicht durchgeknallt, sondern nett und vernünftig. „Nun, ich kann kleine Wunder vollbringen, große auch, aber das dauert etwas länger. Ich kann Menschen glücklich machen, einzeln oder in der Gruppe, und ich kann auf Einhörnern reiten.“ Schlüter seufzte. „Auf Einhörnern, aha, soso. Ja, das sind ja sehr kräftige Tiere. Dann wollen wir mal gucken …“

Bild zur Verfügung gestellt von Gerhard Frassa / http://www.pixelio.de

Nur, um der Dame das Gefühl zu geben, er nähme sie ernst, tippte er etwas in den Computer. Diese arme Frau war eine Kandidatin für die Nervenheilanstalt, das merkte man schnell. Doch er wollte ihr die Würde nicht nehmen und bemühte sich daher nach Kräften, höflich zu sein. Umso erstaunter war er, als er das Ergebnis auf seine eigentlich sinnlose Suchworteingabe sah: Es wurde tatsächlich eine Stelle angeboten. Befristet auf einige Wochen zwar, aber man brauchte einen Nachweis für magische Fähigkeiten, und bei guter Leistung winkte eine Dauerstellung. Ein Kollege hatte das Angebot geprüft und als seriös eingestuft. „Da habe ich was für Sie“, rief Schlüter aufgeregt, riss das Papier aus dem Drucker und knallte einen Stempel darauf. „Dort können Sie sich morgen vorstellen!“

16. November, Arbeitszimmer vom Weihnachtsmann

Die drei Herren sahen irritiert auf die Frau vor ihnen. Sie brauchten dringend Personal, sehr dringend sogar, doch die einzige Bewerberin entsprach so gar nicht dem, was sie erwartet hatten. „Ähhh, ja, und Sie, ääähhhh, Sie wollen sich also bei uns als Weihnachtselfe bewerben. Wie ich sehe, haben Sie ausgezeichnete magische Fähigkeiten und können auf Einhörnern reiten – da sollten Rentiere für Sie auch kein Problem sein. Ich weiß allerdings nicht so recht … wie soll ich das sagen … Sie sehen so gar nicht wie eine Weihnachtselfe aus.“ Die Bewerberin lachte mit lauter, tiefer Stimme. „Ja, das stimmt. Optisch bin ich keine Elfe, da bin ich mindestens eine Zwölfe. Aber es kommt doch auf die inneren Werte an, nicht auf die Optik, nicht wahr, meine Herren?“ Der Weihnachtsmann sah zweifelnd von der Frau zu seinem Kollegen, dem Nikolaus, und wieder zurück. „Ja, ich weiß nicht so recht … es gibt wahrscheinlich ein Problem mit der Arbeitskleidung … Was meinst du, Niko?“ Der Nikolaus zuckte die Schultern. „Naja, die Zeugnisse sind gut. Vielleicht können wir das Kleidchen sechs Nummern größer bestellen? Das sollte doch gehen.“ Krampus an seiner Seite sagte nichts, er starrte gierig auf das voluminöse Dekolletee vor sich. Was für eine Wuchtbrumme! Diese Weihnachtszwölfe gefiel ihm ausnehmend gut, er hatte schon immer von einer Frau mit riesiger Oberweite geträumt. Nikolaus nah ihn etwas beiseite. „Hör auf zu sabbern, Krampus“, flüsterte er ganz leise. „Wenn du diese Dame belästigst, haut sie dich um!“ „Ganz gewiss tut sie das“, antwortete die Zwölfe gelassen. Sie hatte nämlich auch eine Zusatzausbildung im Gedankenlesen.

Man einigte sich darauf, es zu versuchen. Die Zwölfe sollte sofort anfangen, der Job war bis zum 06. Januar befristet. „Aber bis zum zweiten Weihnachtstag sollten Sie nach Möglichkeit schon irgendein Wunder vorweisen, Frau Zwölfe“, erklärte der Weihnachtsmann. „Die Öffentlichkeit hat hohe Erwartungen in unsere Arbeit. Und wegen der Einkleidung …“ „Keine Sorge, Chef, da besorge ich mir irgendwas. Diese kurzen pastellfarbigen Kleidchen stehen mir ohnehin nicht, die tragen furchtbar auf. Ich finde auch, dass diese Dinger furchtbar sexistisch sind – darüber sollten Sie vielleicht einmal nachdenken.“ „Hmmm, ja, meinen Sie? Ja, vielleicht.“ Dem Weihnachtsmann kam der Verdacht, dass diese Weihnachtszwölfe ganz schön Unruhe in seinen Laden bringen würde.

01.  Dezember, Geschenkwerkstatt

„Sie hat tatsächlich einen Betriebsrat gegründet, diese Verrückte?“ Krampus lachte laut und dröhnend. „Ich sag’s euch, die hat wirklich Pfeffer. Sogar, wenn sie einem eine runterhaut, tut das irgendwie gut!“ Er knurrte wohlig. Nikolaus und der Weihnachtsmann sahen sich an, sie wussten nicht so recht, was sie von der Begeisterung des ewigen Rüpels halten sollten. „Sie ist wirklich tüchtig“, räumte Nikolaus ein und berichtete von den Wundern, die die Zwölfe schon alle vollbracht hatte: Sie hatte in einigen Familien Streit geschlichtet, so dass diese Menschen einer schönen Weihnachtszeit entgegensahen. Einer einsamen alten Dame hatte sie einen Dackel zulaufen lassen und sie anschließend mit einem kultivierten Herrn bekannt gemacht, der ebenfalls einen kleinen Hund hatte. Und vier hartherzige Geizhälse hatte sie überredet, Arbeitslosen gut bezahlte Jobs zu geben, so das auch diese Menschen sich ein paar Freuden zu Weihnachten würden leisten können. Wie sie das genau gemacht hatte, wollte der Weihnachtsmann lieber gar nicht wissen, aber Krampus war von den durchschlagenden Methoden der Zwölfe begeistert. Sie wies tatsächlich schon nach zwei Wochen die höchste Wunderdichte des Elfenschwarms auf und war zudem allgemein beliebt. Das lag auch daran, dass sie die Arbeitsabläufe der Wichtel in der Geschenkwerkstatt neu durchstrukturiert und die Ställe der Rentiere durch pure Magie so richtig aufgemotzt hatte. Und für die Elfen hatte sie die freie Kleiderwahl durchgesetzt. Man sah ihr Wirken an jeder Stelle.

Die dicke Dame als Weihnachtszwölfe

„Wir sollten ihren Vertrag schon jetzt verlängern“, fand Nikolaus und Krampus hüpfte begeistert auf und ab. Der Weihnachtsmann stöhnte. „Hast du schon mal auf dem Schlitten gesessen, wenn sie am Zügel ist? Ich sage dir, das ist kein Spaß. Ich musste Tabletten gegen Übelkeit nehmen!“ „Memme!“, schimpfte Krampus und Nikolaus lachte. „Jaja, ich weiß, du leidest. Am meisten aber am Verlust deiner absoluten Autorität, stimmt‘s, alter Freund?“ Der Weihnachtsmann schmunzelte. Wie gut Niko ihn doch kannte. Ja, es stimmte, er war ein paar Mal mit dieser impertinenten Person aneinandergeraten. Er mochte es nicht, wenn man ihn kritisierte oder ihm in seine Arbeit hineinredete, und noch weniger mochte er es, wenn man ihm mit einem Ruck die rote Mütze über das Gesicht zog, um ihn zum Schweigen zu bringen. Andererseits hatten die anderen wirklich recht, diese Zwölfe war enorm fleißig. Ein echtes Arbeitspferd, innerlich und äußerlich.

„Also gut, wir werden den Vertrag verlängern. Ich denke auch, dass wir damit schnell sein sollten – es sind schon einige andere auf sie aufmerksam geworden. St. Martin hat nach ihr gefragt, und sogar der Osterhase hat sie kürzlich zum Rührei eingeladen.“

2. Dezember, Arbeitszimmer Weihnachtsmann

„Gut, Frau Zwölfe, dann sind wir uns also einig. Sie bleiben bei uns beschäftig, das freut mich sehr. Und wie ich von den Elfen gehört habe, sind die ganz begeistert davon, dass Sie die Abteilungsleitung übernehmen wollen. Nur mit Ihrer Bitte, ausgerechnet am Heiligabend frei haben zu wollen, bin ich nicht so recht glücklich …“ Die Zwölfe nickte verständnisvoll. „Ja, ich weiß, und ich kann Sie auch gut verstehen. Der Termin ist alles andere als günstig. Aber ich habe eine dringende private Verrichtung, die leider keinen Aufschub duldet, und das ist mein einziger freier Tag im Dezember.“ Der Weihnachtsmann nickte. „Also gut, dann sei es so. Nehmen Sie sich am besten alle drei Weihnachtstage frei – Sie haben es sich verdient.“

Heiligabend, Stadtcafe

Schlüter rührte nachdenklich in seinem Milchkaffee. Er ging Heiligabend immer frühstücken, das hatte Tradition. Früher war er mit seiner Frau gegangen, doch sie hatte ihn vor drei Jahren verlassen. Weil er langweilig war, ernst und pflichtbewusst, und weil sie sich das Leben anders vorstellte als er. Er war halt wie er war, ein Beamter ohne besondere Ambitionen. Noch während er seinen trüben Gedanken nachhing, hörte er, wie der zweite Stuhl an seinem Tisch hervorgezogen wurde. „Ist hier noch frei?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, plumpste eine dicke rothaarige Frau mit unordentlicher Frisur ihm gegenüber nieder. Er sah sie verblüfft an – das war doch die mit der magischen Macke und den Einhörnern? Sie lachte ihn an, das Lachen machte ihr rundes Gesicht hübsch.

„Erinnern Sie sich noch an mich? Sie haben mir einen Job vermittelt, als Weihnachtselfe. Und das, obwohl Sie dachten, dass ich spinne.“ Schlüter war verlegen. Offenbar hatte die Frau ihm seine Gedanken damals ansehen können. „Nein, ich kann Gedanken lesen“, korrigierte sie seine nicht ausgesprochenen Worte. „Und ihre Gedanken waren das Netteste und Fürsorglichste, das mir seit langer Zeit passiert ist. Wissen Sie, es ist nicht schön, mit einem Diplom in Magie vor einem Sachbearbeiter zu sitzen und ausgelacht zu werden. Da fühlt man sich irgendwie schutzlos, fast nackt. Sie aber haben mich mit Respekt behandelt und haben sich ehrlich über das Stellenangebot gefreut. Das habe ich nicht vergessen.“ „Ich habe Sie auch nicht vergessen“, entfuhr es ihm, bevor er darüber nachdenken konnte. Aber warum hätte er auch schweigen sollen, wenn sie ohnehin seine Gedanken lesen konnte? „Stimmt, verheimlichen können Sie mir nichts. Und deshalb weiß ich auch, dass Sie gar keine Lust haben, für heute Abend die traditionelle Weihnachtsgans in den Ofen zu schieben, weil Sie keine Lust haben, sie alleine zu essen. Was halten Sie denn davon, sie mit mir zu essen?“ Schlüter war verwirrt. Was passierte denn hier gerade? Er, der langweiligste Mensch der Welt, wurde angebaggert, aber wie. Und das von einer richtigen Wuchtbrumme! Er musste lächeln. „Das scheint mir eine gute Alternative zu einem Abend mit Dosenravioli zu sein.“ Die Weihnachtszwölfe lachte rau und herzlich. „Das ist zwar nicht das tollste Kompliment, das ich jemals bekommen habe, aber es ist ein Anfang.“

Im Labyrinth

Die folgende Geschichte schlummert schon eine ganze Weile auf meiner Festplatte. Sie schien mir etwas zu lang für den Blog zu sein, andererseits gibt es da auch schon auch längere. Und da ich sie schon ein paar Mal auf Lesungen mithatte und sie gerade als Gute-Nacht-Geschichte immer gut ankam, erscheint sie heute doch hier – viel Spaß damit.

Im Labyrinth

Das laute Schnarchen neben sich hatte Katja ungewöhnlich früh aufwachen lassen. Wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, hatte sie ohnehin kaum geschlafen. Die erste Nacht mit ihrem neuen Freund Ludwig, und sie war unruhig gewesen wie vor einer geplanten Gehirnoperation. Dabei war der Abend durchaus romantisch gewesen: Ludwig, ein Abkomme von echtem altem Adel, hatte ihr das Familienschloss gezeigt und anschließend im Kaminzimmer ein leckeres Essen serviert. Leicht angetrunken und in bester Laune war sie ihm ins Schlafzimmer gefolgt, wo ihr Galan zu ihrem Verdruss erst ewig im Bad herumgemacht hatte, dann im Dunklen hereingeschlichen und sofort eingeschlafen war. Katja hatte ihren Ärger geschluckt und versucht, ebenfalls zu schlafen.

Zugegebenermaßen kein Schloss, sondern das alte (Museums-) Gefängnis in Cork.

Sie war jedoch nicht recht zur Ruhe gekommen. Ludwig war ein unruhiger Schläfer, der schnarchte und sich viel bewegte. Er roch auch seltsam – der leichte Duft seines Rasierwassers, den sie so mochte, war verflogen. Und immer wieder hatte Katja an die mahnenden Worte ihrer Freundin Annika gedacht, die gemeint hatte, dass mit Ludwig irgendetwas nicht stimmen würde. Was genau, das wusste sie auch nicht, aber sie hatte behauptet, dass Ludwig zu oft neue Freundinnen abschleppen würde, um ein wirklich netter Kerl zu sein. „Erinnerst du dich nicht? Die Brasilianerin, die mit uns im Marketingseminar gesessen hat, und die kleine rothaarige Irin, die letztes Semester abgebrochen hat, wie hieß die noch? Jane?“ „Kate“, hatte Katja berichtigt und abgewiegelt. „Es ist doch kein Wunder, dass er mit denen nicht mehr zusammen ist. Die sind doch zum Semesterende gegangen.“ Katja fand nichts Verwerfliches daran, während des Studiums wechselnde Freundschaften zu haben. Sie wollte sich doch auch austoben, warum sollte ein Mann nicht das gleiche Bedürfnis haben? Und Ludwig war immer nett und höflich gewesen, und lustig war er noch dazu.

Ja, lustig war er auch gestern Abend gewesen. Nur als Katja überlegt hatte, nach dem Essen doch noch nach Hause zu fahren, hatte er etwas ungehalten gewirkt. „Natürlich bleibst du hier“, hatte er nur gesagt und ihr noch Wein nachgeschenkt. Katja hatte sich etwas darüber geärgert, aber nur ganz kurz. Dann hatte sie mit ihrem Ludwig angestoßen und sich auf die Nacht gefreut. Diese Nacht, in der sie neben dem schlafenden, grunzenden Ludwig kaum Ruhe bekommen hatte.

Katja schielte auf ihr Handy – gleich fünf Uhr. Sie musste zur Toilette und krabbelte aus dem Bett. Das Bad fand sie leicht, es war direkt am Schlafzimmer. Es war riesig und Katja musste lächeln: Was für ein Unterschied dieses altehrwürdige, aber komplett sanierte Schloss doch zu ihrem Zimmerchen im Studentenwohnheim darstellte. Und wie angenehm, so ein großes Bad zur Verfügung zu haben. Katja betrachtete sich in dem großen Spiegel. Müde und zerzaust sah sie aus. Ihre Kleider lagen jedoch ordentlich auf einem schönen Hocker, sie nahm sich ihre Unterwäsche und begann, sich anzuziehen. Ludwig schnarchte ihr zu sehr, als dass sie Lust gehabt hätte, sich noch einmal hinzulegen. Sie hörte sich das Konzert kopfschüttelnd an. Das war ja nicht auszuhalten, so wurde das nichts mit einem gemeinsamen Schlafzimmer. Vielleicht brauchte er deshalb ständig neue Freundinnen?

Katja überlegte, was sie machen sollte. Einfach zu gehen fand sie blöd, den schlafenden Ludwig zu wecken aber auch nicht besser. Schließlich entschied sie sich, ihm einen Zettel auf den Nachtkasten zu legen, riss ein Blatt aus ihrem Kalender und schrieb einen kurzen Gruß. Sie schlich sich wieder ins Schlafzimmer und näherte sich dem Bett. Das laute Schnarchen hörte kurz auf, als sie auf eine knarrende Parkettbohle trat, setzte aber sofort wieder ein. Sie legte den Zettel ab und wandte sich zum Gehen. Ein letzter Blick auf den schlafenden Ludwig ließ sie verblüfft innehalten: Wie dunkel die langen Haare waren, die dort auf dem Kissen lagen, und wie wellig. Drahtig fast. Hatte Ludwig nicht noch gestern helles, glattes Haar gehabt? Und war das wirklich sein Arm, der dort auf der Decke lag? Lang und kräftig ja, aber so muskulös, und vor allem so behaart? Katja schüttelte sich. Behaarte Männer hatte sie noch nie gemocht, wieso war ihr das gestern nicht aufgefallen? Das konnte doch nicht Ludwig sein – wer war das in diesem Bett?

Katja beschloss, nicht herausfinden zu wollen, wer der Schnarcher war, neben dem sie geschlafen hatte. Sie nahm ihre Tasche und schlich hinaus, lief den langen Flur hinunter, von dem etliche Türen abgingen. Sie wusste den Weg noch und ging zielstrebig auf die letzte Tür zu, öffnete sie und betrat den hübschen kleinen Salon, in dem sie gegessen hatten. Hier standen noch ihre Weingläser und im Kamin glomm ein kleiner Rest Glut. Katja durchquerte den Raum, der dicke Teppich schluckte das Geräusch ihrer Schritte. Sie verharrte kurz am Fenster und sah unten ihren kleinen Wagen im fahlen Licht des Morgens stehen: Einen alten Fiat Panda in giftgrün, der neben Ludwigs Porsche und einem großen Fahrzeug, dessen Marke sie nicht erkennen konnte, wie ein Fremdkörper wirkte. „Gleich sind wir zuhause, kleiner Frosch“, flüsterte sie dem Wagen durch das Fenster zu und betrat den kühlen Flur, der sie nach draußen bringen sollte.

Zu Katjas Überraschung war die Tür, durch die sie gekommen waren, abgeschlossen. Sie runzelte die Stirn – vielleicht hatte sie die falsche Tür gewählt? Sie entschloss sich für die daneben und kam in ein kleines Zimmer, in dem sie definitiv noch nicht gewesen war. Es war ein schlichtes kleines Arbeitszimmer mit einem Computer auf einem altertümlichen Eichenschreibtisch. Sie durchquerte den Raum und öffnete eine schmale Tapetentür – aha, da ging es weiter. ‚Was für ein Labyrinth‘, dachte Katja grinsend und ging weiter. Die Tür schloss sich mit einem merkwürdig klackenden Geräusch hinter ihr und sie sah über die Schulter zurück. Von dieser Seite war die Tür himmelblau – und sie hatte keine Klinke. Katja runzelte die Stirn. Was war denn das? Sie trat zurück und betrachtete die Tür genauer: Sie war genau in die Wand eingepasst und fast nicht zu sehen. Wäre sie hier nicht gerade hindurchgegangen, wäre sie ihr nicht aufgefallen. Ob es einen geheimen Mechanismus gab, der die Tür von dieser Seite her öffnete? Sie tastete ein wenig herum, ließ es dann aber bleiben. Sie wollte nach Hause. Es reichte ihr schon, dass sie die Nacht neben diesem wildfremden Orang Utan verbracht hatte. Wer das wohl war, Ludwigs Bruder vielleicht? Oder gar sein Vater? Egal, sie fand das Verhalten der Männer unmöglich.

Katja sah sich im blau tapezierten Zimmer um und bemerkte, dass es einen Ausgang an der gegenüberliegenden Wand gab: Eine schöne, alte Tür mit Oberlicht. Sie durchquerte sie und stand in einem etwas größeren Salon, der zwar gemütlich eingerichtet, aber kalt und ungeheizt war. Es roch auch etwas muffig, so wie früher in Omas guter Stube, die nur benutzt wurde, wenn Besuch kam. Sie lief hindurch und öffnete die zweite Tür – kam hier nun endlich eine Treppe? Erleichtert sah sie, dass sie auf einen Flur kam, an dessen Ende eine breite Treppe folgte. Sie eilte hinunter, zählte dabei wie immer routinemäßig die Stufen – ihre Freundin Annika nannte diese Gewohnheit „zwanghaft“ – und wunderte sich über ihre Anzahl: Drei Absätze mit jeweils 16 Stufen, das gab 48. Waren das gestern auch so viele gewesen? Katja dachte nicht lange darüber nach, sie wollte nach Hause und ging zu einer großen Metalltür, die zwar schwer aussah, sich aber überraschend leicht öffnen ließ. „Brandschutztür bitte geschlossen halten“ stand darauf. Katja trat hindurch und ging die beiden Stufen hinunter, die sie in einen halbdunklen Wirtschaftsraum mit Waschmaschine und Trockner führten. Die Brandschutztür fiel mit einem Knall hinter ihr zu. „Die ist dicht“, murmelte Katja und ging weiter. Schon wieder kam ein Flur – fast ein Tunnel. Dunkel war es hier, sie fand jedoch unschwer einen rot leuchtenden Lichtschalter. Die einsame Glühbirne erhellte den langen Gang nur unzureichend und Katja verspürte wenig Lust, ihn zu erkunden. Offenbar hatte ihr Gefühl sie nicht getrogen, es waren zu viele Stufen gewesen: Sie war in einem Keller gelandet. Es half nichts, sie musste zurück. Frustriert wandte sie sich wieder der schweren Metalltür zu und fand statt einer Klinke nur einen runden Knauf. Man brauchte einen Schlüssel, um die Tür von dieser Seite zu öffnen. „Was soll das?“, flüsterte sie sie zu und dann, plötzlich verärgert, rief sie es noch einmal in den Raum hinein: „Was soll dieser Mist hier?“

Beeindruckend: die hohen Bäume im Gefängnisgarten

Wütend stapfte sie in den schwach erleuchteten Gang. Hätte sie geahnt, dass sie solch einen Marsch durch dieses doofe Schloss würde machen müssen, hätte sie andere Schuhe angezogen: Der raue Zementestrich ließ ihre hohen Pfennigabsätze wie vorwurfsvoll klappern. Sie durchschritt den langen Gang mit langen, energischen Schritten, sie wollte nur noch weg. Irgendwo musste es hier doch rausgehen.

Und tatsächlich merkte sie, dass es langsam bergauf ging. Der Gang hatte eine leichte Steigung, wie eine flache Rampe. „Immerhin geht es hier nicht ins Verließ“, machte sie sich selber Mut, während sie eine neue Brandschutztür öffnete. Bevor sie sie zufallen ließ, versicherte sie sich, dass die eine Klinke hatte und dass die auch funktionierte. Dann sah sie sich um: Sie stand in einer Art Lagerraum. Hier gab es alles Mögliche: Leere Mineralwasserkisten, alte Autoreifen, Werkzeug, Blumenzwiebeln. Wahrscheinlich gehörte dieser Raum dem Hausmeister, oder wie das in einem Schloss hieß. Sie atmete tief durch. Längst hatte sie die Orientierung verloren. Wahrscheinlich würde sie um das ganze Schloss herumlatschen müssen, um zu ihrem Auto zu kommen, wenn sie erst einmal aus dem Gebäude heraus war. Sie hatte Kaffeedurst. Sechs Uhr war es inzwischen – sie rannte schon eine halbe Stunde hier herum. Und zu ihrem Verdruss war die Tür, die aus dem Lagerraum herausführen sollte, abgeschlossen.

Katja setzte sich auf eine Werkbank und dachte nach. Was sollte sie tun? Zurück in den Gang nützte ihr nicht, denn die Tür an dessen Ende hatte keine Klinke. Hier zu warten hatte aber auch keinen Sinn. Es war Samstag, gewiss hatte der Hausmeister oder Gärtner oder wer auch immer der Besitzer dieses Raumes war, frei. Sie überlegte, Ludwig anzurufen und sich von ihm hier herausführen zu lassen. Auch wenn er ein elender Schuft war, der ihr einen behaarten Fremden ind Bett gelegt hatte, war das besser, als hier auf der Werkbank zu verschmachten. Sie nahm ihr Handy heraus – es hatte keinen Empfang.

Allmählich wurde Katja wütend. Sie betrachtete die Tür, die sie von der Freiheit trennte. Die wirkte nicht besonders stabil und war aus Holz. Also gut, dann eben Vandalismus. „Selbst ist die Frau!“, motivierte sie sich und wählte aus den verschiedenen Werkzeugen etwas, das ihr unter dem Namen ‚Kuhfuß‘ bekannt war. Sie bearbeitete die Tür, brach sich zwei Fingernägel ab, fluchte wie ein Bauarbeiter und sprengte schließlich das alte Schloss der Tür. „Chakka!“ Katja rannte fast den kurzen Flur hinab, achtete aber darauf, mit ihren hohen Absätzen nicht auf dem unregelmäßigen Boden umzuknicken. Kopfsteinpflaster im Haus, das war anscheinend der unsanierte Teil des Schlosses, der Dienstbotentrakt. Am Ende des Flures eine kurze hölzerne Treppe nach oben, dahinter ein kleiner runder Raum mit einer Metalltür. Und die war zu. Richtig feste zu. Katja schimpfte wie ein Rohrspatz, rannte zurück – auf Strümpfen dieses Mal – und holte den Kuhfuß. Es war jedoch nichts zu machen, die Tür blieb zu. Fast hätte Katja geweint. Doch sie war nicht die Frau, die sich hinsetzte und heulte. Sie untersuchte den Raum: Er war fast leer bis auf eine alte Truhe und einen wackeligen Stuhl. Die Truhe war leer. Katja hockte sich darauf und grübelte. Ihr Blick fiel auf das kleine, schmale Fenster fast unter der Decke, durch die die ersten Sonnenstrahlen des Tages schienen. Ob sie da durchpasste? Sie war ja sehr schlank, und sportlich war sie auch. Aber ob sie es erreichen konnte?

Katja schob die Truhe unter das Fenster und kletterte hinauf.  Es reichte nicht, mindestens dreißig Zentimeter fehlten. Sie musterte den Stuhl. Der wirkte so wenig vertrauenserweckend, dass Katja davon absah, ihn auf die Truhe zu stellen und hinaufzuklettern. Sie wollte hier heraus, ja, aber so dramatisch, dass sie sich dabei die Knochen brechen wollte, war die Lage wohl eher nicht.

Katja erinnerte sich an das Hausmeisterzimmer – gab es dort etwas, was sie verwenden konnte? Sie lief nochmals zurück, auf inzwischen total kaputten Strümpfen, und holte zwei von den Mineralwasserkisten. Die stellte sie auf die Truhe und stieg vorsichtig hinauf. Es ging! Katja konnte das Fenster erreichen und den Griff umdrehen. Es ließ sich hochklappen. Sie klemmte den Kuhfuß zwischen Fenster und Fensterbrett, so dass sie die Hände frei hatte zum Klettern. Dann zog sie sich hinauf. Als sie den frischen Morgenwind an ihrer Nase spürte, musste sie lächeln. Sie lächelte noch, als ihr klar wurde, dass sie ihre Schuhe unten vergessen hatte. „Macht nichts, so hohe Absätze sind sowieso ungesund!“ Sie arbeitete kräftig mit den Beinen, drehte sich halb in der schmalen Öffnung und schaffte es endlich, mit den Füßen voran nach außen zu baumeln. Wie weit mochte es nach unten sein? Es hatte nicht hoch ausgesehen. Katja nahm allen Mut zusammen und ließ das Fenstersims los. Sie fiel etwa einen Meter in die Tiefe und landete weich auf einem Rasen.

Irgendwo in Brügge

Katja lachte und rieb sich ihre schmerzenden Hände an der Hose. Dann sah sie sich in dem Garten um, in dem sie gelandet war: Es war ein Innenhof mit einem Rasen, Rosenbeeten und einer kleinen gemauerten Bank. Ringsum sah sie die Steinmauern des alten Schlosses, und nirgendwo sah sie einen Durchgang.  Keine Tür, kein Tor, nichts. Nicht mal ein Fenster, das sie hätte erreichen können. Ihr wurde eiskalt, entsetzt sah sie herum. Kein Ausgang, nirgends. Panisch sah sie hoch zu dem kleinen Fenster, aus dem sie geklettert war. Es war viel zu hoch als dass sie es hätte erreichen können. Und es wurde soeben geschlossen, von einem hellblonden Mann, der danach einfach aus ihrem Blickfeld verschwand. Ludwig?

Katja wollte schreien, nach Ludwig rufen. Doch sie sah ihn nicht mehr. Hektisch sah sie herum, starrte in jedes Fenster im ersten Stock, und suchte nach ihm. Sie fand ihn nicht. Stattdessen sah sie, dass an der gegenüberliegenden Seite ein Mann an einem Fenster stand: Sicher zwei Meter groß, bärtig und mit dunkelbraunem Drahthaar stand er da wie eine Salzsäule und starrte sie an. Sie lief in Richtung des Fensters und wäre fast über etwas gestolpert, dass sich im hohen Gras verborgen hatte: Es war eine bunte Patchworktasche. Katja kannte diese Tasche: Sie gehörte Kate, der Irin, die im letzten Semester plötzlich die Uni verlassen hatte.

Der kleine große Lottokönig

Wir hatten mal wieder eine Lesung: „Märchen“ lautete das Thema. Und mir wollte so  gar nichts einfallen. Ich bat also den Workshopkollegen Robert Maier um ein Wort als Anregung und er schickte mir den Begriff „Lottogewinn“. Nun, hier ist also

Der kleine große Lottokönig

Sektgläser

Auf das Glück!

Es war einmal ein ganz normaler, unbedeutender Mann, der hieß Herr Schmidt. Er war nicht schön, er war nicht hässlich, er war nicht dumm und er war nicht klug. Er war recht kurz gewachsen und ein bisschen pummelig, und er sah gutmütig aus. Er war einfach so, wie die meisten unbedeutenden Männer sind. Und wie sie gehörte er zu den kleinen Leuten, zu denen, die nicht ganz arm sind, aber auch überhaupt nicht reich.

Herr Schmidt wohnte in einer nicht zu kleinen Wohnung in einem großen Haus. Es gab viele Wohnungen in diesem großen Haus, und in allen wohnten kleine Leute wie Herr Schmidt. Es war eine Wohngegend für kleine Leute, und viele dort hatten große Probleme.

Herr Schmidt hatte keine Probleme. Er lebte ohne Sorgen in seiner Wohnung, ging morgens ins Büro, war beliebt bei seinen Kollegen und dachte nicht allzu viel über seine Arbeit nach. Es war nämlich nicht besonders schwer, was der Herr Schmidt in dem Büro zu tun hatte: Er verwaltete Papier und Bleistifte, Druckerpatronen und Briefumschläge. Wenn jemand einen Bleistift brauchte, suchte Herr Schmidt ihm einen passenden aus und gab ihn durch ein kleines Fenster hinaus. Dann machte er einen Strich auf einer Karteikarte, und wenn er Zeit hatte, hielt er noch einen Schwatz.

Herr Schmidt hatte fast immer Zeit, und er schwatzte gern. Wenn Herr Schmidt einmal nicht da war, brach der Betrieb nicht zusammen, aber man vermisste ihn, denn sein Vertreter Herr Meier war ein alter Sauertopf. Der plauderte nicht, während er einen Bleistift aussuchte. Herr Meier war nämlich wichtiger als Herr Schmidt, zumindest fand er das, und deshalb hatte er keine Zeit. Herr Schmidt und Herr Meier vertrugen sich, ohne sich zu mögen, denn sie saßen schon seit vielen Jahren gemeinsam in einem Büro. Immer schon war Herr Meier wichtiger gewesen als Herr Schmidt, und dem war das egal.

Die Abende verbrachte Herr Schmidt zumeist zu Hause. Er ging wenig aus, denn er hatte keine Frau, trieb keinen Sport und betrank sich nicht gerne. Ab und an ging er mit Kollegen kegeln oder ins Kino, dann hatte er Spaß. Meistens aber ging er nach der Arbeit nach Hause, werkelte noch ein bisschen herum, aß dann ein paar Butterbrote und eine Tomate und sah dabei fern. Manchmal schlief er vor dem Fernseher ein und war ein wenig durcheinander, wenn er wieder aufwachte. Aber auch das bekümmerte ihn wenig.

Eines Abends, als er wieder einmal vor dem Fernseher eingeschlafen war, erwachte er davon, dass ihm jemand mit einem Stöckchen in die Seite piekste. „Hmmm?“, machte Herr Schmidt und sah sich verwirrt um. Vor ihm stand eine blonde Frau in einem seltsamen glitzernden Röckchen. Sie sah nicht bedrohlich aus, eher wie ein Funkenmariechen, doch Herr Schmidt erschrak trotzdem ein wenig.

„Wer sind Sie denn? Und wie kommen Sie hier herein?“

„Guten Abend, Herr Schmidt! Heute ist Ihr Glückstag! Ich bin Karin, Ihre gute Fee, und Sie haben einen Wunsch frei!“

„Ich, einen Wunsch? Wieso das denn?“

Karin erklärte es ihm: „Wir vergeben monatlich einen Wunsch an kleine Leute. Dieses Mal ist die Wahl auf Sie gefallen, weil Sie den Inhalt der Kegelkasse, die Sie gewonnen haben, an das Kinderdorf gespendet haben. Das täten nicht viele Leute in Ihrer Situation.“

Herr Schmidt wunderte sich, protestierte aber nicht. Einen Wunsch freizuhaben, das klang doch ganz angenehm. Aber was sollte er sich wünschen?

„Was soll ich mir denn wünschen?“, fragte er die gute Fee und die zuckte die Achseln.

„Keine Ahnung. Was können Sie denn gebrauchen, oder was wollten Sie schon immer mal haben?“

Herr Schmidt überlegte. So eine Frage wollte gut durchdacht werden, und er war kein besonders schneller Denker. Karin, die gute Fee, versuchte ihn zu beraten: ein Auto vielleicht? Aber nein, Herr Schmidt brauchte kein Auto, er hatte ja die Straßenbahn, und Parkplätze gab es hier ohnehin nicht. Dann eine größere Wohnung oder eine Einbauküche? Dafür hatte Herr Schmidt jedoch auch keine Verwendung, er kochte selten und hielt seine Wohnung für ausreichend. Die Fee hatte noch eine Idee: Wie wäre es denn mit einer schlankeren Figur? Herr Schmidt sah an sich herunter, klopfte sich das Bäuchlein und verneinte. Mit einer anderen Figur bräuchte er eine neue Garderobe, und er ging so ungern anprobieren.

Irgendwann, nach über zwei Stunden intensiver Diskussion, reifte in Herrn Schmidt ein kleiner, zaghafter Gedanke. Er fasste sich ein Herz und sprach es endlich aus: „Ich hätte gerne, wenn es nicht zu viel Mühe macht, eine nette Frau. Sie muss nichts Besonderes sein, kein Model oder so, auch zu groß sollte sie nicht sein. Nur lieb sollte sie sein, und sie sollte mich mögen.“

„Na, das ist doch mal ein vernünftiger Wunsch“, sagte Karin und notierte sich das. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Es kann aber ein wenig dauern, für richtig nette Frauen muss man manchmal Umwege gehen.“ Her Schmidt nickte und verstand.

Am nächsten Morgen dachte er kaum noch an die gute Fee, denn er nahm an, er hätte vor dem Fernseher schlafend einen Blödsinn geträumt. Fast hätte er die Episode ganz vergessen. Doch dann, an einem frühlingshaften Samstagvormittag, klingelte es bei ihm und ein netter älterer Herr kam zu Besuch. Er brachte Herrn Schmidt die Mitteilung, dass er 50 Millionen Euro im Lotto gewonnen hätte, sowie einen versiegelten Brief. Den schwachen Protest von Herrn Schmidt, der beteuerte, dass er gar keinen Lottoschein ausgefüllt habe, wischte er beiseite, ermahnte den widerstrebenden Gewinner, nicht alles auf einmal auszugeben und verschwand. Herr Schmidt saß da mit einem Verrechnungsscheck über 50 Millionen Euro und diesem seltsamen Brief. Er öffnete das Siegel und eine Wolke von Sternenstaub flog ihm entgegen. Nachdem er aufgehört hatte zu niesen, begann er zu lesen:

„Mein lieber Herr Schmidt,

vielen Dank für die anregenden Gespräche mit Ihnen sowie für Ihren sehr vernünftigen Wunsch nach einer passenden Gefährtin. Leider sind nette Frauen derzeit nicht ohne Weiteres lieferbar, sodass ich Sie bitten muss, sich Entsprechendes selber zu besorgen. Der anbei gelieferte Lottogewinn soll Ihnen dabei behilflich sein.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Suche nach einer netten Frau,

Ihre gute Fee Karin“

Herr Schmidt saß da wie vom Donner gerührt. Die Fee war also doch kein Traum gewesen. Aber was sollte er denn mit so viel Geld anfangen? Sollte er sich eine Frau kaufen, wie im Lied „Das schöne Mädchen von Seite eins“? Sollte er sich ausstaffieren wie ein Gockel, das Fett absaugen und die Lider straffen lassen, um einer Frau zu gefallen? Das gefiel Herrn Schmidt nicht. Er zahlte deshalb das Geld erst mal auf sein Girokonto ein, ignorierte die aufgeregten Anrufe seines Bankbearbeiters und lebte weiterhin sein kleines, bescheidenes Leben.

Es geschah aber gerade zu dieser Zeit, dass der Kindergarten in dem Viertel, in dem Herr Schmidt wohnte, so alt und marode wurde, dass Wasser durch das Dach lief und die Wände schimmelten. Das war schlimm, aber die Gemeinde hatte kein Geld für einen neuen Kindergarten und es wollte keinem eine Lösung einfallen. Herr Schmidt wusste, wie wichtig eine gute Bildung für Kinder ist, dachte dann an das viele Geld auf seinem Konto und kaufte ein leer stehendes Haus gleich in seiner Nähe, dass er der Gemeinde schenkte. Die Menschen in seinem Viertel freuten sich und nannten den Kindergarten „Lottokönigs Kinderparadies“. Und das freute Herrn Schmidt.

Dem Kindergarten folgten Lottokönigs Sportplatz, Lottokönigs Spielwiese und die Lottokönig-Grundschule, der Lottokönig-Park und das Lottokönig-Tierheim. Das Viertel wurde viel ansehnlicher, und die kleinen Leute in den Wohnhäusern hatten plötzlich weniger Probleme. Und das Schönste war, dass niemand wusste, wer dieser geheimnisvolle Lottokönig war, der all diese guten Taten vollbrachte, der für die Notleidenden und Obdachlosen spendete und wie ein guter Geist über das Viertel wachte. Herr Schmidt fühlte sich tatsächlich wie ein kleiner unbekannter König, der täglich sein Bad in der Menge nahm und dabei doch seine Privatsphäre genießen konnte.

Der Einzige, der eine Veränderung an Herrn Schmidt bemerkte, war der sauertöpfische Herr Meier. Der fand nämlich, dass der kleine Herr Schmidt irgendwie ein bisschen größer aussah, fast so, als würde er sich wichtiger nehmen als sonst. Und damit hatte er auch recht: Immer, wenn Herr Schmidt jetzt durch sein Stadtviertel lief, sah er mit Stolz, wie schön alles geworden war. Dieses Gefühl nahm er mit in die Arbeit, und wenn Herr Meier wieder einmal schlecht gelaunt war oder jemandem den längeren Bleistift neidete, sah er ihn tadelnd an. Das hatte er früher nie getan. Herr Meier hatte nicht mal gewusst, dass der harmlose Herr Schmidt tadelnd gucken konnte. Dass er es konnte, gefiel Herrn Meier nicht. Deshalb kaufte er sich einen unauffälligen grauen Mantel und ganz weiche Schleichschuhe und begann, den Kollegen Schmidt zu bespitzeln. Immer schlich er hinter ihm her und guckte, was er machte.

Eines Tages kam Herr Schmidt wieder einmal mit der Straßenbahn von der Arbeit und stieß beim Aussteigen mit einer Frau zusammen. Er erkannte sie nicht, aber sie erkannte ihn:

„Sie sind doch der Herr Schmidt? Ich habe sie gesehen, als Sie gestern nach Hause kamen. Ich bin Sarah, Ihre neue Nachbarin.“

Tauben Trier

Turteltäubchen

Herr Schmidt sah Sarah an und musste lächeln. Sie war nicht hässlich, aber auch nicht schön, doch sie lächelte so warm und ihre Augen leuchteten in dem schönsten Braun, das er je gesehen hatte: ein dunkles Bernsteinbraun mit goldenen Punkten. Ohne Zweifel, sie war eine richtig nette Frau. Er stellte sich vor und blickte verlegen zu Boden, als sie ihn für den Abend zum Tee einlud. Zum ersten Mal in seinem fast fünfzigjährigen Leben war Herr Schmidt nervös wegen einer Frau. Und auch Herr Meier war nervös, als er am Abend im Flur lauerte und sah, dass Herr Schmidt mit einer Flasche Wein in der Hand und im guten Hemd zu seiner Nachbarin herüber ging. Denn dass der unbedeutende Kollege ein Rendezvous hatte und er selber nicht, konnte Herr Meier kaum ertragen.

Herr Schmidt verbrachte einen schönen Abend bei Sarah, und er hatte richtig Spaß – sogar noch mehr als beim Kegeln. Das lag nicht nur an der netten Frau, sondern auch an ihren zwei wohlerzogenen Kindern, einem Jungen von acht und einem Mädchen von fünf Jahren. Sarah erzählte ihm, dass sie nie in diesem Viertel hatte wohnen wollen und dass sie die neue Wohnung nur genommen hatte, weil es hier einen schönen Kindergarten und eine gute Grundschule gab. „Eine gute Bildung ist wichtig für die Kinder, weißt du, Herr Schmidt?“ Herr Schmidt wusste das.

Von nun an traf er sich immer öfter mit Sarah, ging mit ihr aus, mal mit und mal ohne Kinder, und beauftragte irgendwann einen Handwerker, um einen Durchgang zwischen ihrer beider Wohnungen zu bauen. So lebten sie wie eine Familie zusammen und waren glücklich. Und eines Tages, als Herr Schmidt gerade am Spielplatz auf die Kinder wartete, spürte er wieder dieses Pieksen eines Feenstabs in seiner Seite. Er sah sich um und erblickte Karin, die gute Fee. Herrn Meier, der in einem unauffälligen Trainingsanzug aus dunkelgrauer Ballonseide und mit einer Schirmmütze hinter ihm stand, bemerkte er nicht.

„Und“, fragte Karin, „sind Sie zufrieden?“

Er nickte und sagte „Oh ja, besser hätte ich es nicht treffen können. Es war ja ein bisschen umständlich mit diesem Lottogewinn, aber besser so, als gar nicht.“

Karin stimmte ihm zu. „Und ist es in Ordnung für Sie, dass Sie nicht nur eine Frau, sondern auch gleich zwei Kinder geliefert bekamen?“

Wieder nickte Herr Schmidt. „Aber ja. Erst, als ich mich für den Kindergarten eingesetzt habe, wurde mir klar, wie wichtig mir Kinder sind. Das habe ich ja alles gar nicht gewusst.“

Karin wirkte beruhigt, die Sache mit den Kindern hatte sie doch ein wenig nervös gemacht. Eine letzte Frage hatte sie aber noch: „Und sind sie mit dem Geld ausgekommen?“

Eifrig nickte Herr Schmidt. „Oh ja, es sind sogar noch ein paar Millionen übrig. Wenn Sie mir sagen, wohin ich das überweisen soll, zahle ich das gerne zurück.“

Karin schüttelte den Kopf. „Oh nein, das wird nicht nötig sein. Wie ich hörte, wollen Sie bald heiraten – gönnen Sie sich doch einmal was.“ Herr Schmidt versprach, darüber nachzudenken.

Herr Meier aber bekam vor Neid einen roten Kopf und eine Gallenkolik: Herr Schmidt hatte im Lotto gewonnen und hatte den Kollegen nichts von dem Geld abgegeben! Nicht einmal davon erzählt hatte er! Statt dessen hatte er das Vermögen irgendwelchen Arme-Leute-Kindern gegeben und poussierte mit einer jüngeren Frau herum – wenn das kein Skandal war! Wie konnte jemand nur so viel Glück haben! Herr Meier beschloss, das Verhalten des Herrn Schmidt öffentlich und den Kollegen so unmöglich zu machen.

Gleich am nächsten Tag erzählte Herr Meier also jedem, der es hören wollte oder auch nicht, dass Herr Schmidt heimlich ein Lottokönig sei und dass er sein ganzes Geld für unnützes Zeug ausgegeben habe, anstatt es mit dem Kegelklub oder den Kinofreunden zu vertrinken. In irgendeinen Kindergarten habe Herr Schmidt investiert, schimpfte Herr Meier, und die Kollegen hörten aufmerksam zu.

Die Nachricht machte wie ein Lauffeuer die Runde in der Firma: Zwei Jahre lang hatte sich die ganze Stadt gefragt, wer der unbekannte Lottokönig war, der sich so für das Gemeinwohl eingesetzt hatte. Jetzt wussten plötzlich alle, dass es ihr Herr Schmidt war: Ja, sie hatten es immer gewusst, der kleine Herr Schmidt war ein ganz Großer. Und wie schön, dass er endlich eine nette Frau gefunden hatte.

Die Kollegen von Herrn Schmidt überlegten, wie sie ihm und seiner Sarah eine Freude machen konnten. Und weil ihnen nichts Besseres einfiel, richteten sie für die beiden eine Verlobungsfeier aus: Herr Schmidt tanzte mit allen Damen und Sarah mit allen Herren, nur nicht mit Herrn Meier. Den plagte schon wieder die Galle und er war zu Hause geblieben, um sich ordentlich zu grämen.

 

Nachtrag: Manchmal werde ich gefragt, warum die Leute in meinen Geschichten so heißen, wie sie heißen. Meistens hat das keinen Grund, sie bekommen halt den Namen, der mir gerade einfällt. Dieses Mal ist das etwas anders: Herr Schmidt heißt Schmidt, weil das der häufigste Name in Deutschland ist (fasst man alle gleich klingenden Namen zusammen). Und die Meiers, zusammen mit den Mayers, Maiers oder Mayers, landen auf Platz 2. Es gibt also verdammt viele Schmidts und Meiers da draußen, und ich bin trotz allem optimistisch, dass die Schmidts ein paar mehr sind.

Der Lumpensammler und die Tänzerin

Mit meinem Schreibgrüppchen „Die Frankfurter Schreibweisen“ hatte ich mal wieder eine Lesung. Dieses mal war die hübsche kleine Buchhandlung „Weltenleser“ unser Gastgeber. Hier gibt es ein schönes, ungewöhnliches Buchsortiment und eben ab und zu auch Lesungen. Da wir das erste Mal dort zu Gast waren, wählten wir uns als Thema ebenfalls den Begriff „Weltenleser“ und es entstanden sehr unterschiedliche Geschichten und sogar ein Gedicht. Ich las die Geschichte …

Der Lumpensammler und die Tänzerin

Berlitz hatte sie schon oft gesehen: Eilig, mit blicklosen Augen, war sie an ihm vorbeigehastet, das Gesicht bleich, die Lippen zusammengepresst. „Keine Zeit“, sagte dieses Gesicht, „sprich mich nicht an, ich habe keine Zeit.“ Viele liefen so herum. Wieso gerade sie ihm aufgefallen war, konnte Berlitz nicht so genau sagen. Sie hatte nichts Besonderes an sich, war vielleicht sogar etwas farblos. Auch entsprach sie nicht im entferntesten dem Typ Frau, den Berlitz in Zeiten, in denen er sich noch nach Frauen umgedreht hatte, bevorzugt hatte. Er mochte üppige Frauen mit kräftigen Rundungen, die laut und herzlich waren und lachten wie ein wieherndes Pferd. Seine Anna war so eine Frau gewesen, eine mit Mutterbrust und einer Stimme wie ein Nebelhorn. Aber Anna war nicht mehr, die Zeit mit ihr war ein anderes Leben gewesen. Nach ihrem Tod hatte auch Berlitz körperlich abgebaut, kein Wunder, schließlich war er deutlich über siebzig. Eigentlich sogar über achtzig, aber das sagte er nie, denn das klang so alt. Seit er nicht mehr richtig laufen konnte, verbrachte er seine Zeit in der Stadt, oft im Eingang zum Kaufhof. Im warmen Luftstrom stand er trocken und sicher, immer gut bewacht von einem Sicherheitsmann, der es zunächst gar nicht hatte glauben können, dass der Mann mit Rollstuhl und Kaschmirmantel nicht dort stand, um zu betteln, sondern um zu gucken: Er wollte sehen, wie das Leben vorbei lief, wollte mit dem einen oder anderen ein Schwätzchen halten und nicht alleine in seiner Wohnung sein. Bei gutem Wetter saß er am Stadtbrunnen und sah den Kindern beim Planschen zu, an kühleren Tagen aber wurde es der Kaufhof.

Wunderschöne Pfingstrosen stellten die Blumendekoration im Weltenleser dar.

Berlitz hatte noch immer einen guten Blick und ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Er hatte gemerkt, dass die unscheinbare Frau schon seit einigen Tagen nicht mehr vorbeigehastet war. Ob sie Urlaub hatte, oder gar krank war? Er dachte jeden Abend ganz kurz an sie, gerade lange genug, um sie nicht ganz zu vergessen. Und dann, eines Abends, sah er sie. Zunächst glaubte er an eine Verwechslung, denn das, was dort die Fußgängerzone herunter gesprungen kam, konnte unmöglich die gehetzte Frau sein. Sie tanzte und hüpfte, das Gesicht vom Lachen ganz hell. Und das, obwohl es regnete wie aus Kübeln. Bei einem solchen Wetter hatte Berlitz schon ganz andere Leute mit schlechter Laune gesehen. Er lächelte, nickte ihr zu und rief sie an.

„Hallo meine Liebe! Das ist ja eine Freude, Sie so zu sehen! Geht es Ihnen gut?“

Sie trat zu ihm unter das Vordach des Kaufhofs, nahm die nasse Kapuze ab und schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Aber ich versuche alles und ich lerne.“

„Sie lernen? Das ist immer gut. Was lernen Sie denn?“

„Ich lerne das Glücklichsein. Mein Therapeut sagt, man kann das üben. Lächle die Welt an und sie lächelt zurück. Durch die Stadt tanzen soll ich und dabei lachen. Und mit den Leuten reden – so wie jetzt mit Ihnen.“

Berlitz schmunzelte. „So, dann bin ich also ein Teil Ihrer Hausaufgabe. Ich fühle mich geehrt. Leider muss ich Ihnen sagen, dass ich eine einfache Aufgabe war – das gibt höchstens einen Punkt. Denn ich rede viel, gerne und fast mit jedem.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Nun, ein Punkt ist besser als keiner. Gestern bin ich leer ausgegangen. Aber jemand, der bei diesem Mistwetter durch die Stadt tanzt, fällt natürlich auf, da fragen sich die Leute, ob man vielleicht einen Sprung in der Schüssel hat.“

Berlitz nickte verständnisvoll. „Und, haben Sie?“ Sein Blick war trotz seiner leicht trüben Augen unverhohlen neugierig.

„Mein Therapeut sagt, nein. Er meint, ich sei erschöpft und hätte eine leichte Depressionsneigung, aber ohne krankhafte Ausprägung. Außerdem sei ich zu ernst und zu schüchtern und finde deshalb keinen Anschluss in dieser beschissenen Stadt.“

„Warum gehen Sie nicht zurück nach Hause?“

„Weil ich da auch keinen Anschluss hatte“, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. „Meine Eltern sind gestorben, als ich Anfang zwanzig war. Meine Schwester kriegt ein Kind nach dem anderen und mein Bruder lebt in Kanada. Und mein Freund hat sich eine Jüngere gesucht – weil eine Freundin von 30 Jahren ja auch wirklich uralt ist.“

Berlitz lachte. „Ja, da haben Sie Glück gehabt. Also damit, dass Sie den Kerl so früh losgeworden sind. Stellen Sie sich vor, das wäre 15 Jahre später passiert.“

Sie runzelte die Stirn. „So habe ich das noch nie gesehen. Das muss ich mir aufschreiben. Mein Therapeut sagt immer, man kann die Dinge von mehreren Seiten sehen und aus allem was Gutes ziehen.“

„Da hat er wohl Recht“, meinte Berlitz und dachte an Anna. Sie war gegangen, aber erst, nachdem sie über 50 Jahre bei ihm geblieben war.

„Was ist denn mit Ihnen?“, fragte sie und sah den alten Mann im Rollstuhl fragend an. Der sah wohlhabend aus, nicht so, als hätte er eine feuchte Bude. „Warum stehen Sie hier immer?“

Er lächelte und zuckte die Achseln. „Ich stehe hier, um Gesellschaft zu haben. Ich rede gerne mit den Leuten, erzähle Ihnen aus meinem Leben, etwas über die Welt. Zuhause bin ich allein. Dafür bin ich nicht gemacht.“

„Warum gehen Sie nicht in ein Heim?“ Kaum hatte sie die Frage gestellt, biss sie sich auf die Lippe. „Entschuldigung, ich wollte nicht indiskret sein.“

„Aber nicht doch, meine Liebe. Wer etwas über die Welt erfahren möchte, muss sich ihr nähern. Und es ist ganz einfach: In einem Heim gibt es nicht genug Platz für all das, was mir wichtig ist. Da bleibe ich lieber in meiner Wohnung, bezahlen einen Pflegedient und eine Haushaltshilfe und verbringe meine Tage hier mit Ahmed und Dieter vor dem Kaufhof.“

„Ahmed und Dieter?“

Er deutete auf den uniformierten Wachmann, der ganz in ihrer Nähe stand. „Die vom Wachdienst. Heute ist Dieter dran. Er hat Spätschicht. Nach Feierabend fährt er heim zu seiner Frau und den zwei Kindern. Morgen früh kommt Achmed. Er wohnt noch zuhause, obwohl er schon über dreißig ist – Tradition, wissen Sie?“

Sie nickte, obwohl sie nicht so aussah, als ob sie viel von Traditionen hielte. Dann sah sie mit einem leichten Bedauern nach draußen.

„Es hat aufgehört zu regnen. Ich denke, ich sollte nach Hause rennen – vielleicht schaffe ich es trockenen Fußes. Und Sie, bleiben Sie hier?“

„Ach, ich habe es nicht weit. Ich wohne keine fünf Minuten von hier. Aber ich gehe mit Ihnen bis zur Kreuzung.“

Berlitz startete seinen elektrischen Rollstuhl und rollte neben der jungen Frau her. Sie hatten die Kreuzung noch nicht erreicht, als ein Blitz vom Himmel zu krachen schien und gleich sie es darauf donnern hörten.

„Donnerwetter, Mädchen, die Welt geht unter. Kommen Sie, wir rennen zu mir!“ Er beschleunigte und tatsächlich rannte die Frau neben ihm her. Nach wenigen Augenblicken hatten sie einen modernisierten Altbau erreicht. Berlitz betätigte einen Türöffner, die Tür schnappte auf und sie hielt sie ihm auf.

„Falle ich Ihnen auch nicht zur Last?“, wollte sie wissen und er schüttelte den Kopf.

„Ne. Ich habe gerne mal Besuch, und solange Sie nicht bei mir einziehen wollen, sind Sie mir willkommen.“

Sie musste lachen – schon zum zweiten Mal an diesem Tag. „Nein, keine Sorge, einziehen will ich nicht bei Ihnen. Ich habe eine gemütliche Einzimmerwohnung mit Blick auf die Autobahn. Was will man mehr?“

„Ja, ein Autobahnblick ist nicht zu verachten“, bestätigte Berlitz ernst. „Da sieht man zumindest, dass die Dinge voran gehen.“

Sie hatten seine Wohnung erreicht und er öffnete die Tür. „Herzlich willkommen im Paradies des Lumpensammlers.“ Er ließ sie vorbei, machte Licht und hörte, wie sie aufgeregt die Luft einsog.

„Aber … was ist das denn?“, fragte sie und sah sich fasziniert im geräumigen Flur um. Vom Boden bis zur Decke sah sie Bücherregale, die bis in die letzte Ecke gefüllt waren. Sie sah Bücher verschiedensten Alters, Antiquarisches neben Modernem, und dazwischen die sonderbarsten Dinge: Kunstgegenstände, Schnitzereien, einige afrikanische Masken.

„Tscha“, sagte er und lächelte ein bisschen, „das ist einer der Gründe, warum ich nicht ins Heim gehe. Die anderen Gründe verstecken sich in den anderen sechs Zimmern.“

Ihre Neugier war geweckt. Begleitet von ihrem sonderbaren Gastgeber bewegte sie sich vorsichtig, fast andächtig, von Zimmer zu Zimmer. Überall gab es Bücher, Skulpturen, Interessantes und Sonderbares. Einiges nahm sie in die Hand, vorsichtig zunächst, dann immer mutiger. Und er erzählte ihr die Geschichten dazu: Wie er mit seiner Frau gereist war, wie sie gesammelt hatten, und wie viel Freude beide an den ganzen Dingen gehabt hatten. Die Stunden vergingen und natürlich hatte sie erst einen Bruchteil all dieser Schätze gesehen, die sie so sehr interessierten – fast so sehr, wie der alte Mann an ihrer Seite sie interessierte.

Das Paradies der Lumpensammlers: Bild zur Verfügung gestellt von Susanne Schmich / http://www.pixelio.de

„Ich muss gehen“, sagte sie irgendwann und klang traurig dabei. Berlitz sah auf die Uhr.

„Oh ja, es ist nach zwölf. Ich rufe Ihnen ein Taxi, Sie sollen jetzt nicht laufen.“ Sie konnte sich kein Taxi leisten, sagte aber nichts – zu klar war, dass er es bezahlen würde und keinen Widerspruch dulden würde.

„Darf ich einmal wiederkommen?“, traute sie sich zu fragen und er nickte.

„Aber natürlich, meine Liebe. Wir wissen doch noch fast gar nichts voneinander. Aber ich habe auch eine kleine Bitte.“

„Was denn?“, fragte sie ein wenig eingeschüchtert.

„Tanzen Sie noch einmal für mich. Sie haben so hübsch ausgesehen heute Nachmittag, wie Sie so die Stadt hinunter getanzt sind. Und wir haben früher so gerne getanzt, meine Anna und ich. Nun ist Anna in der nächsten Welt und auch ich tanze nicht mehr. Das heißt aber nicht, dass ich mich nicht daran erfreuen kann, wenn andere es tun.“

Sie war bei seinen ersten Worten bereits rot geworden. In der Tat tanzte sie eigentlich gerne, aber nur heimlich, wenn es keiner sah. Doch diesen schönen Abend würde sie mit ein paar kleinen Takten beschließen, wenn es den alten Mann glücklich machte. Fasziniert sah sie, wie er zu einem Schrank rollte und eine Geige herausholte.

„Zwar bin ich kein Teufelsgeiger, aber für den Hausgebrauch reicht es“, meinte er und stimmte eine lustige kleine Weise an. Und sie tanzte, verhalten zunächst, dann aber zunehmend entspannt. Und sie lachte – schon wieder.

„Ich danke Ihnen“, sagte er und gab ihr zum Abschied die Hand. „Verraten Sie dem alten Herrn Berlitz noch Ihren Namen?“

„Ich heiße Kristina“, sagte sie nur und wunderte sich, dass sie nicht schon vorher darauf gekommen waren, sich einander vorzustellen.

„Kristina, was für ein schöner Name. Besuchen Sie mich bald wieder, meine Liebe, und tanzen Sie für mich. Wir haben uns noch so viel zu erzählen.“

Sie verließ das Haus, als der Taxifahrer klingelte. Dieses Mal nahm sie nicht den Lift, sondern tanzte die vier Treppen nach unten. Sie freute sich auf den nächsten Besuch bei dem alten Mann. Noch nie hatte sie so einen fesselnden Erzähler erlebt, noch nie so viele interessante Dinge an einem Ort gesehen. Und noch nie zuvor war ihre Fantasie derartig angeregt worden: Was es alles gab, was man alles tun konnte, und was man alles aus Büchern herauslesen konnte! Die Wohnung des alten Mannes, das Paradies des Lumpensammlers, wie er es nannte, war für sie eine faszinierende Welt, die es zu erkunden galt. Und er selber, der Lumpensammler mit dem Stammplatz vor dem Kaufhof, war die interessanteste Person, die sie jemals kennengelernt hatte.

Berlitz sah ihr aus dem Fenster nach. Sie hatten keine Kinder haben können, Anna und er, und diese junge Frau hätte auch schon eher eine Enkelin als eine Tochter für ihn sein können. Kein Anschluss gefunden und das Glücklich sein lernen wollen, das klang alles ein bisschen verrückt für ihn. Vielleicht war sie verrückt. Aber wer war das nicht? Für Anschluss würde er schon sorgen, und wenn er sie mit Achmed vom Sicherheitsdienst verkuppeln würde. Der kam nämlich auch manchmal zu ihm, um in seinen Büchern zu lesen. Wer weiß, vielleicht passten die beiden ja zusammen? Und wenn nicht, würde sich schon etwas anderes ergeben. Da war sich der Lumpensammler ganz sicher – denn irgendetwas ergab sich immer.

Dantes Traum

Im Rahmen meines Schreibworkshops mit der Autorengruppe „Springender Punkt“ hatten wir in diesem Jahr Lesungen zum Thema Dante. Der große Meister würde nämlich in diesem Jahr 750 Jahre alt und wird entsprechend gefeiert.

Unsere Inspiration sollte die berühmte „Göttliche Komödie“ sein. Leider brachte ich es nicht fertig, das vielseitige, in Versen verfasste Werk zu lesen und scherte deshalb ein wenig aus: Viel interessanter als das Buch erschien mir Dantes Beziehung zu seiner geliebten Beatrice, mit der er nicht zusammenkam, da er schon im Kindesalter mit einem anderen Mädchen verlobt wurde. Ob Dante und Beatrice häufig zusammenkamen, wird bezweifelt, doch genau kann man es nicht wissen. Denn es könnte auch so gewesen sein:

Dantes Traum

Dante hatte wieder einmal schlecht geschlafen. Ihn plagten seit früher Kindheit schlechte Träume, die ihn wachhielten. Daher ging er nach dem Frühstück hinaus in den Garten, um ein wenig frische Luft zu schnappen, bevor sein Lehrer eintreffen würde. Dante lernte gerne, aber nach einer fast durchwachten Nacht stand ihm der Sinn noch nicht so recht nach der Literatur von Vergil oder lateinischer Grammatik.

Die Morgensonne schien mild in den Rosengarten. Es war für Mai ungewöhnlich warm in Florenz und viele der Blumen standen bereits in voller Blüte. Dante verlor sich fast ein wenig in ihrem Duft und hätte das Mädchen, das sich im Schatten eines Rosenbogens auf eine Bank gesetzt hatte, fast übersehen.

„Willst du mir nicht guten Morgen sagen, Durante Alighieri?“ Die helle Stimme Beatrices riss ihn aus seinen Gedanken und er beeilte sich, sie zu begrüßen.

„Oh, guten Morgen, Beatrice. Wie geht es dir?“

Das junge Mädchen lächelte und fächelte sich gespielt geziert mit einem Fächer ein wenig Luft zu. „Danke, sehr gut. Aber was ist mit dir? Hast du keinen Unterricht heute? Und warum siehst du so übernächtigt aus?“

Sie rückte ein wenig zur Seite und er setzte sich neben sie auf das kleine Bänkchen. „Ich habe wenig geschlafen“, räumte er ein, „ich träume manchmal schlecht. Und Unterricht habe ich erst in einer Stunde.“

„Du träumst schlecht?“, fragte sie erstaunt. „Was denn?“

Er sah etwas verlegen aus. „Ach, eigentlich nichts Besonderes. Dummes, kindisches Zeug von Dämonen und Engeln, von Menschen, die das Gesicht hinten tragen, gegeißelt werden und in der Hölle brennen.“

Beatrice sah ihn skeptisch an: „Du träumst von der Hölle? Aber wieso denn das, du bist doch gar kein Sünder, und in die Kirche gehst du auch immer!“

Dante lächelte schmerzlich: “Findest du? Ich bin mir da ja nicht so sicher. Meine Mutter sagte mir früher schon, wenn ich nicht lerne, zu gehorchen, komme ich in die Hölle. Und ich gehorche nicht immer. Diese Träume kommen wieder und wieder, schon seit Jahren.“

„Das ist ja grausig.“ Beatrice nahm für einen Moment Dantes Hand und drückte sie. „Ist es immer gleich, was du träumst?“

Er schüttelte den Kopf. “Nein, leider nicht. Dann könnte man sich ja daran gewöhnen. Aber es ist immer wieder anders, was mit den Menschen geschieht und wie die Dämonen aussehen. Es ist ein bisschen so, als wäre man in einem Labyrinth oder in verschiedenen Höhlen. Je weiter man geht, desto schlimmer wird es. Teilweise sind die Menschen im Boden festgewachsen und werden von höllischen Kreaturen gequält. Und andernorts schwimmen Menschen in Pech oder Kot.“

Beatrice drückte noch mal seine Hand und kicherte ein bisschen. „Das mit dem Pech klingt furchtbar“, sagte sie, „aber das mit dem Kot würde ich dem einen oder der anderen schon mal wünschen.“ Sie dachte dabei ganz speziell an Gemma, die Dante einmal heiraten würde. Sie kannte sie zwar nicht persönlich, fand jedoch ein Kleid aus stinkendem Mist für dieses Mädchen gerade angemessen. Dante lächelte und erwiderte den Händedruck. Er wusste genau, an wen Beatrice dachte. Auch er war nicht glücklich bei dem Gedanken, sein Leben an der Seite einer anderen Frau als Beatrice verbringen zu müssen, aber Vertrag war Vertrag. Und seine Verlobung mit Gemma war schon vereinbart worden, als er gerade einmal fünf Jahre alt gewesen war.

„Du, Dante? Hast du mal darüber nachgedacht, deine scheußlichen Träume aufzuschreiben? Vielleicht verliert es etwas von seinem Schrecken, wenn du die Dämonen beschreibst und sie so besser kennenlernst. Gewiss ist das wie mit dem dicken Metzgershund, vor dem ich mich immer so gefürchtet habe: Seitdem ich ihn kenne, ist er ganz lieb und frisst sogar die Würstchen, die ich ihm hinhalte.“

Dante schüttelte den Kopf. Mädchen kamen schon auf komische Ideen. „Oh nein, lieber nicht. Ich will mich damit eigentlich nicht beschäftigen. Und sobald die Sonne wieder scheint, werden die Dämonen vertrieben.“

Beatrice sah den Fünfzehnjährigen nachdenklich an. Er tat so stark, ihr geliebter Dante, doch als er sich vorhin unbeobachtet glaubte, hatte sie Angst und Sorge in seinen Augen gesehen.

„Aber du könntest doch Tagebuch schreiben, oder Gedichte. Männer, die Gedichte schreiben, finde ich wunderbar!“

Dante schmunzelte. Er schrieb in der Tat Gedichte und auch Tagebuch, aber alles musste er diesem neugierigen Mädchen nicht erzählen. Am Ende wollte sie noch etwas von seinen Werken lesen – das fehlte ihm noch. Er fühlte sich noch immer sehr unvollkommen und wollte keineswegs, dass jemand etwas über seine tiefsten Gedanken erfuhr. Es war für Beatrice schon eine große Auszeichnung, dass er ihr überhaupt von seinen Träumen erzählt hatte.

„Gewiss findet dein Vater für dich einen Mann, der Gedichte schreibt“, wechselte er das Thema. Doch Beatrice gab noch nicht auf:

„Vielleicht kannst du diese Höllenträume ja auch weiter schreiben: Sodass die armen Sünder irgendwann ausreichend gebüßt haben und dann, wenn sie nachweisen können, dass sie geläutert sind, doch aufsteigen in den Himmel. Vielleicht mit einem kurzen Aufenthalt im Fegefeuer, damit man ganz sicher gehen kann, dass sie es verstanden haben.“

Nun musste Dante doch lachen. Sein erster Lehrer, ein Klosterbruder, hatte ihm immer wieder vom Fegefeuer erzählt, in dem die Menschen von den Todsünden gereinigt werden. „Du meinst, wir brennen noch die sieben Todsünden aus ihnen heraus? Geiz, Hochmut, Völlerei, Neid und Zorn?“

„Das waren nur fünf!“, berichtigte ihn das Mädchen. „Da fehlen zwei. Faulheit hast du nicht gesagt. Und was fehlt noch?“

Dante überlegte. Dann fiel es ihm ein, doch war es schicklich, so etwas gegenüber einem jungen Mädchen zu erwähnen? Er sah, dass Beatrice intensiv nachdachte und selbst die Antwort fand: „Jetzt habe ich es, die Wolllust fehlt!“ Zufrieden, aber auch ein wenig kleinlaut sah sie jetzt aus.

„Was ist denn, liebe Beatrice?“

„Ich weiß nicht so recht. Ist nicht jeder von uns schuldig, in irgendeiner Weise? Bis du niemals faul oder neidisch?“ Wieder dachte sie an Gemma, und dann an Dante, und sie fragte sich, ob ihre unkeuschen Gedanken vielleicht sogar den Tatbestand der Wollust erfüllten. So ganz genau wusste sie nicht, was damit gemeint war, hatte aber so eine Ahnung.

Dante zögerte mit seiner Antwort. Faul war er eigentlich nicht, im Gegenteil, seine Lehrer lobten seinen Fleiß. Aber neidisch war er manchmal schon, und wenn er Beatrice ansah, zogen ebenfalls sündige Gedanken durch sein Gehirn. Zornig war er manchmal auch, besonders, wenn er daran dachte, dass sein Glück für eine hohe Mitgift verkauft worden war. Aber sollte er Beatrice das sagen? Es war doch nicht zu ändern.

„Ich bekenne mich der Völlerei schuldig!“, behauptete er deshalb und klopfte sich den Bauch. „Wenn es kandierte Früchte oder Käse gibt, ist mir hinterher immer schlecht, weil ich so viel davon nehme.“

Beatrice legte ganz kurz eine kleine Hand auf seinen flachen Bauch. „Dann pass nur auf, dass du kein Fettwanst wirst. Sonst wird Gemma dich nicht mehr haben wollen!“ Dann wurde sie wieder nachdenklich. „Gut, wir sind alle Sünder. Selbst die Mönche geben sich der Sünde hin, sie sind fast alle dick und rund. Wenn es das Fegefeuer also wirklich gibt, wäre es gut, wenn es nicht allzu lange dauert.“

Dante seufzte theatralisch. „Gewiss dauert es ein paar Hundert Jahre! Aber danach geht es weiter ins Paradies!“

„Und wie ist das?“, wollte Beatrice wissen.

Dante zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht. Davon habe ich noch nicht geträumt.“

Sie runzelte die Stirn: „Dann solltest du das aber mal tun. Und ich sage dir, was ich mir vom Paradies erwarte: Eine tiefe Weisheit, so dass ich nie mehr unwissend sein muss. Außerdem möchte ich dem Herrn nahe sein, seine Liebe spüren und keine Angst mehr haben müssen.“

Bewundernd sah Dante sie an. Wie klug sie war, und wie einfach und klar sie in wenigen Worten ihre Vorstellung vom Paradies ausdrücken konnte. Ihm hatten eben noch gebratene Tauben vorgeschwebt, kandierte Früchte im Überfluss und Betten so weich wie die Wolken am Himmel. Und nun kam dieses Mädchen daher und zeigte ihm, wie oberflächlich er doch war.

„Du hast Recht, Beatrice. Genau so wird es sein im Paradies. Und gewiss wird man dort von seinen Lieben erwartet, von denen, die vorher diesen schweren Weg gehen mussten.“

Sie schwiegen eine Weile. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Dante genoss diese Zeit, auch wenn sie ihn wieder mit Wehmut erfüllte: Denn nach seiner Erfahrung gab es nur eine einzige Frau, die so lange schweigen konnte, nur ein Mädchen, das nicht dumm und albern war. Und das war Beatrice. Sie würde gewiss nicht in die Hölle kommen, denn neben ihr musste jeder Teufel, jeder Dämon seine Schlechtigkeit verlieren.

„Eigentlich ist es eine Komödie“, hörte er sie sagen und sah fragend in ihr zugewandtes Gesicht.

„Was meinst du?“

„Das, was wir uns hier ausgedacht haben, ist eine Komödie: wilde Dämonen, die Menschen einpflanzen und in Kot baden, nur damit sie irgendwann gereinigt ins Paradies kommen. Stell dir das doch Mal vor: Der dicke Koch verfolgt von Höllenhunden, oder die unfreundliche Hausdame mit der komischen Frisur, kopfüber eingepflanzt. Wenn man darüber nachdenkt, ist das ziemlich komisch.“

„Meine Träume sind nicht komisch!“ Dante klang etwas beleidigt.

„Ja, weil du sie nicht weiter denkst. Du lässt dich erschrecken. Schreibe sie auf, denke darüber nach. Du wirst sehen, das wird eine Komödie. Vielleicht keine ganz Lustige, aber doch so, dass du dich nicht mehr fürchten musst.“

Dante schüttelte den Kopf. Sie hatte vielleicht Ideen, seine Beatrice. Ein Stich durchzog seine Brust, denn Beatrice war nicht die Seine und würde es nie werden. Dann horchte er auf – die Turmuhr schlug.

„Ich muss mich beeilen, ich habe Unterricht!“

Sie gaben sich zum Abschied die Hand. „Bis bald, Durante Alighieri!“

„Hab einen guten Tag, schöne Beatrice!“

Er ging über den Gartenweg zurück zum Haus. Er war ein wenig traurig, wie immer, wenn er Beatrice verlassen musste, und doch lächelte er. Eine Komödie sollte er aus seinen Albträumen machen, so etwas Verrücktes. Auf so eine Idee konnte auch nur eine Frau kommen.

 

Wolkenhimmel

Es wird mal wieder Zeit für eine längere Geschichte: Diese Kurzgeschichte entstand für eine Lesung, die unter dem Titel „Woanders regnet’s“ stattfand. „Woanders regnet’s“ ist ein Ausspruch aus Griechenland, der gerne verwendet wird, wenn Menschen aneinander vorbeireden. Ich habe mich mit diesem Thema recht schwer getan, es dauerte lange, bis mehr als nur eine Miniatur dabei herauskam. Dafür habe ich jedoch ein paar Bilder aus Frankfurt zur Illustration – auch was wert 🙂

Wolkenhimmel

Was für ein trister Tag! Elisa warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, während sie Tims Kopfkissen aufschüttelte. Grau war es draußen, der Himmel bedeckt, die Luft feucht. Es war Novemberwetter, in jeder Hinsicht, und das schon die ganze Woche. Irgendwie drückte dieses grau in grau auf ihr Gemüt.

Frankfurt Dreikönigskirche

Wolkenhimmel über der Dreikönigskirche

Seufzend strich Elisa die Bettdecke zurecht und wechselte auf die andere Seite des Schlafzimmers. So machte sie es immer: Zuerst Tims Bett, dann ihres. Normalerweise mochte sie diese Zeit am Vormittag, wenn Tim schon aus dem Haus und die Kinder im Kindergarten waren. Sie brachte sie früh um acht dorthin, damit sie etwas Zeit für den Haushalt hatte. Zweieinhalb Stunden blieben ihr zwischen Kindergarten und dem Aufbruch zur Arbeit. Sie arbeitete Teilzeit in einem Laden, von elf bis sechzehn Uhr. Dann holte sie die Kinder, ging mit ihnen raus, erledigte gleich die Einkäufe. Und dann begann schon das Abendprogramm: Essen machen, Kinder waschen und ins Bett bringen. Wenn er früh genug kam, kümmerte Tim sich gerne um die Kinder und half im Haushalt. Und wenn er später dran war, hielt sie ihm das Essen warm und versuchte, ihm den kurzen Abend möglichst angenehm zu gestalten. Ihrer beider Tage waren voll: Voll mit Verpflichtungen und Arbeit, aber auch voller Freude, die die Kinder ihnen bereiteten. Immer wieder machte Elisa sich bewusst, wie froh sie sein konnte, zwei so gesunde, lebhafte Kinder zu haben.

Das Telefon klingelte. Elisa ging ran, meldete sich. Es war ihre Freundin Katja, die nur ein wenig reden wollte. Wirklich, ganz kurz nur. Elisa setzte sich ins Wohnzimmer, hörte der Freundin zu. Sie wusste, Katja hatte es schwer zur Zeit. Das Trennungsjahr lief, noch vier Monate bis zur Scheidung, und noch immer war alles völlig ungeregelt. Die Kinder, das Haus, wer kümmerte sich um was und wie viel Geld würde jeder zur Verfügung haben? Elisa hörte zu und gab Rat, was nicht so leicht war. Schließlich mochte sie auch Jan, Katjas Mann, und wollte sich nicht komplett auf Katjas Seite stellen. Es war ja niemandem etwas vorzuwerfen, fand sie, keiner hatte den anderen betrogen oder schlecht behandelt. Sie hatten sich einfach auseinander gelebt, Katja und Jan, nach acht Jahren Ehe war die Liebe am Ende gewesen. Eigentlich ein erschreckender Gedanke – wohin verschwand Liebe, wenn sie ging?

Nach guten zehn Minuten beendete Elisa das Telefonat. Sie wusste, wenn sie sie ließ, redete Katja den ganzen Vormittag. Elisa aber mochte es nicht so gerne, wenn der ganze Morgen für Gerede draufging. Sie hatte es gerne ordentlich und wollte noch ein wenig schaffen. „Katja, nichts für ungut, aber ich muss weiter. Lass uns demnächst mal was trinken gehen – vielleicht am Donnerstag?“ Der Donnerstag war Elisas freier Abend. Donnerstags kam Tim immer pünktlich heim und übernahm die Kinder. Dafür hatte er am Dienstag frei und ging mit einem Freund zum Tennis. Es war ihnen wichtig, dass jeder ein wenig freie Zeit für sich hatte und einem Hobby nachgehen konnte.

Der Donnerstag wurde vereinbart und Elisa nahm ihre Hausarbeit wieder auf. Die Wäsche war trocken und wollte gefaltet werden. Während ihre Hände arbeiteten, gingen die Gedanken eigene Wege. Wie schön, dass jeder von ihnen etwas freie Zeit hatte. Sie nahmen Rücksicht aufeinander. Es war wichtig, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Manchmal aber sagten sie einander vor lauter Rücksichtnahme nicht die Wahrheit, zum Beispiel dann, wenn Tim seine Patentante einlud – am einzigen ganz freien Wochenende in diesem Monat. Elisa war davon alles andere als begeistert gewesen, hatte Tim das aber nicht gesagt. Schließlich mochte der seine Tante Isolde. Und Elisa mochte sie auch, natürlich, Isolde war eine nette alte Dame. Sie war auf der Durchreise, wollte in irgendein Wellness-Hotel in Bad Doberan, deshalb passte es ihr zu diesem Datum so gut. Aber gerade an diesem Wochenende hätte Elisa gerne einmal Zeit mit ihrem Mann verbracht. Gesagt hatte sie nichts, schließlich wollte sie nicht als ewig unzufriedene Meckerliese dastehen, die ihrem Mann seinen Verwandtenbesuch nicht gönnte.

Sie meckerte sowieso viel zu viel zur Zeit. Zum Beispiel über Tims Socken, die er gerne abends auszog und in die Sofaecke knüllte. Das machte er schon immer so, aber früher hatte diese Macke sie nicht gestört. Jetzt murrte sie, wenn sie die Socken in die Wäschetonne brachte – konnte er das nicht selber tun? Die Kinder sollten auch lernen, aufzuräumen, und die waren noch klein. Ein fast vierzigjähriger Mann sollte doch wohl seine Socken wegtragen können? Und das war nur eine der Kleinigkeiten, die sie inzwischen an ihrem Mann aufregte.

Frankfurt Main

Wolkenhimmel über dem Main

Früher, als der Himmel noch voller Geigen gehangen hatte, hatte sie seine kleinen Eigenarten süß gefunden. Sie hatte gerührt geguckt, wenn er am Frühstückstisch eine Schweinerei mit seinem geliebten Honig anstellte. Jetzt nörgelte sie – warum nahm er denn auch immer so viel davon, und was für ein Beispiel war das für die Kinder? Sie fand es nicht mehr charmant, wenn er für sie kochte, sondern sah das Schlachtfeld, das er in der Küche anrichtete, mit den kritischen Augen derer, die es wegputzen durfte. Und seine langen Arbeitstage, früher ein Zeichen seiner Zielstrebigkeit und seines Fleißes, gingen ihr zunehmend auf die Nerven, einfach weil er ihr fehlte.

Und auch Tim veränderte sich: Früher hatte er sie oft liebevoll seine Rubensfrau genannt und ihre Rundungen zärtlich gestreichelt. Doch in der letzten Woche hatte er eine Waage ins Bad gestellt. Eine, die den Körperfettanteil messen konnte und die Muskelmasse, und die einem eine Statistik erstellte und die auf das Smartphone sendete. Er selber war schlank wie immer, er brauchte keine Waage. Elisa hatte den Wink verstanden – sie war ihm zu dick, was denn sonst. Dabei hatte sie nicht zugenommen in den letzten Jahren, ihre Kleider passten alle noch, trotz der zwei Kinder. Sie hasste diese Waage und hatte überlegt, sie in den Müll zu werfen. Aber das Ding hatte Geld gekostet, sicher nicht wenig, und das warf man nicht in den Müll.

Elisa brachte einen Stapel frisch gefalteter Handtücher ins Bad und verpasste der Waage dabei einen Tritt. „Keine Messung möglich!“, sagte eine blecherne Stimme und Elisa lächelte wehmütig. Immerhin sprach die Waage mit ihr, wenn sonst schon keiner hier war. Wobei das natürlich dummes Zeug war – Selbstmitleid. Sie rief sich zur Ordnung. Nur, weil sie heute schlechte Laune hatte und es draußen nieselte, musste sie nicht anfangen, ihr ganzes Leben in Frage zu stellen!

Damals, zu Zeiten des rosaroten Geigenhimmels, hatte sie sich nichts Schöneres vorstellen können als Hausfrau und Mutter zu sein. Dann, nach drei Jahren in Elternzeit, hatte sie wieder Lust bekommen zu arbeiten und war froh gewesen über den Arbeitsplatz gleich in der Nähe des Kindergartens. Sie arbeitete gerne dort, es machte ihr Spaß, Mode zu verkaufen. Und einen anständigen Personalrabatt gab es dort auch noch, so dass das eine oder andere hübsche Teilchen in ihren eigenen Schrank wanderte. Tim lachte immer über ihre Freude beim Kleider kaufen. Er selber zog immer einfach irgendwas an und fand es völlig in Ordnung, wenn sie ihm seine neue Kleidung mitbrachte. Komisch eigentlich, dass ihm sein Äußeres so egal war.

Das Telefon klingelte schon wieder. Tante Isolde war dran: Sie wollte gerne schon am Donnerstag kommen, erklärte sie, damit die Kinder sich an sie gewöhnen könnten. Elisa musste lächeln: Sie war schon eine Gute, die Tante Isolde, und so eine Schreckschraube, dass die Kinder langsam auf einen Besuch vorbereitet werden mussten, war sie wahrlich nicht. Sie versprach, Isolde am Donnerstag Nachmittag vom Zug abzuholen, und legte ein Lächeln in ihre Stimme. Und wirklich, allmählich freute sie sich auf diesen Besuch. Sie fand es schön, dass ihr Mann noch immer so an seiner alten Tante hing. Das zeigte ihr wieder einmal, was für ein treuer, warmherziger Mensch er doch war. Einer, der nicht einfach losließ, wenn er einmal jemanden lieb gewonnen hatte.

Wohin ging die Liebe, wenn sie erkaltete? Schon zum zweiten Mal ging diese Frage Elisa durch den Kopf, während sie die Strümpfe der Kinder sortierte und rollte. Sie wusste es nicht. Bei Katja und Jan war sie offensichtlich verschwunden, die starke Zuneigung, die sie einst füreinander verspürt hatten. Sie wollten ohne einander weiterleben. Elisa konnte das nicht verstehen: Auch wenn die Phase der wilden Verliebtheit verschwunden war, konnte und wollte sie sich ein Leben ohne Tim nicht vorstellen. Ihre Liebe war ruhiger geworden, glühte nicht mehr so heiß. Aber sie wärmte noch, gab ihr Sicherheit und Kraft. Und das, obwohl sie weniger redeten, sich seltener sahen und kaum noch Sex hatten. Sie wussten einfach, was sie aneinander hatten.

Maintower Frankfurt Horizont

Wolkenhimmel vom Maintower aus gesehen

Wohin zog sich die Liebe zurück, wenn die Routine ihr keinen Platz mehr ließ? Darüber dachte Elisa nach, während sie routiniert die Regale im Wohnzimmer abstaubte. Gut möglich, dass die Unzufriedenheit, die sie manchmal verspürte, durch ihren durchgetakteten Alltag kam. Tim ging es doch genauso: Von morgens bis abends war sein Tag verplant. Kein Wunder, dass er kaum noch Zeit fand für ein nettes Wort. Fast alles, was sie sprachen, bezog sich auf den Alltag: Die Arbeit, der Haushalt, die Kinder. Früher waren sie immer wieder ausgebrochen, hatten spontane Kurztrips nach London und Paris gemacht oder waren auch unter der Woche abends mal ausgegangen. Das hatte die Geigen am Himmel zum Singen gebracht. Doch so etwas war inzwischen alles nicht mehr so einfach, Kinder von drei und fünf Jahren konnte man ja nicht einfach in den Schrank hängen. Ein gemeinsamer DVD-Abend musste da oft reichen, und wenn sie Pech hatten, war einer von ihnen dann schon so müde, dass er beim ersten Film auf dem Sofa einschlief. So war es halt, wenn man arbeitete und Kinder hatte. Sie waren erwachsen und benahmen sich so.

Elisa war fertig mit allem. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie noch Zeit für eine schnelle Tasse Kaffee hatte. Während sie sie trank, sah sie nachdenklich aus dem Fenster: Es war heller geworden, der leichte Regen hatte ausgehört. Gewiss würde sie heute Nachmittag mit den Kindern in den Park gehen können. Es war Gummistiefelwetter – eigentlich gar nicht so schlecht. Schon der Gedanke an das Pfützenspringen mit den Kleinen ließ Elisa lächeln und ihre schlechte Laune verschwand. Als das Handy klingelte und sie Tims Namen im Display sah, lächelte sie und ihre Stimme klang warm und froh, als sie sich meldete.

„Hallo mein Tim!“

„Hallo meine liebe Elisa! Bist du noch zuhause? Was machst du?“ Tim klang ausgesprochen fröhlich.

„Hmm, ja, Kaffeetrinken.“

„Du hast es gut. Du, sag, kannst du meine graue Jacke heute noch in die Reinigung bringen? Ich habe sie gestern am Auto ganz dreckig gemacht und würde sie am Freitag gerne mitnehmen.“

„Ähh, ja, kann ich machen, klar. Aber was ist denn am Freitag?“ Elisa war verwirrt.

„Am Freitag fahren wir doch nach Bad Doberan, du Schussel!“

„Nach Bad Doberan? Du fährst mit Isolde da hin?“

Am anderen Ende entstand eine Pause. „Hä? Mit Isolde? Nein, mit Dir. Tante Isolde passt auf die Kinder auf!“

„Ach sooo …“ Elisa schluckte. Offenbar hatte sie nicht richtig zugehört, als Tim ihr die Sache mit Isolde erklärt hatte. Sie telefonierte noch ein paar Minuten mit ihrem Mann – so lange, dass sie sich beeilen musste, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. „Ich liebe dich“, sagte er zum Abschied, und sie sagte: „Ich dich auch!“.

Als sie die Wohnungstür abschloss, hörte sie aus der Nachbarwohnung einen Streit. Das ließ sie an Katja und Jan denken. Und sie lächelte, als sie den Weg zum Tor hinunterlief – ohne Schirm, denn die Wolkendecke war aufgerissen und ließ erste blaue Stellen am Himmel sehen. Elisa spürte wieder, wie gut es ihr ging. Zwar war die rosarote Geigenhimmelzeit vorbei, auch zeigten sich manchmal Wolken an ihrem Horizont. Doch die zogen immer wieder vorbei, und woanders regnete es schon lange.

Skyline Abendrot Frankfurt

Wolkenhimmel über der Skyline von Oberrad aus gesehen