Die Oma im Wolf

Als Kind habe ich Märchen geliebt: Bevor ich selber lesen konnte, bekam ich sie vorgelesen oder durfte sie auf Platten hören. Später las ich sie selber, ich hatte einige dicke Märchenbücher: Märchen der Welt und Tiermärchen. Am liebsten waren mir aber immer die altmodischen Märchen der Gebrüder Grimm. Zum einen, weil die – im Gegensatz zu denen von Hans Cristian Andersen – immer ein Happy End hatten (zumindest für die Hauptperson). Und zum anderen, weil sie simpel zu verstehen waren, gut und böse war klar abgegrenzt.

Ein stark vorgealtertes Rotkäppchen nebst Wolf auf Kürbis – Bild zur Verfügung gestellt von Ruth Rudolph / http://www.pixelio.de

Natürlich wusste ich, dass diese Märchen pure Erfindung waren: Zwar konnte ich mir noch vorstellen, dass man Stroh zu Gold spinnen kann – die Farbe passt ja schon mal. Auch konnte ich mir vorstellen, dass ein Esel Goldmünzen kackt – das ist sicher nur eine Sache der richtigen Fütterung. Und die Sache mit Dornröschen – nun ja, das mit den hundert Jahren war sicher nur eine Methapher. Die hatten ja damals noch gar nicht so genaue Kalender. Doch eine Frage bewegte mich schon früh, und die Erinnerung daran lässt mich immer wieder in dumpfes Brüten verfallen: Denn wie, ja wie nur hat die Großmutter in den Wolf gepasst? Eigentlich hätte sich jedes intelligente Kind diese Frage stellen müssen, und ich verstehe nicht, wieso dieses Märchen noch immer nicht verboten wurde.

Ich hätte mich wahrscheinlich gar nicht großartig gewundert, wenn der Wolf die Großmutter einfach nur gefressen hätte. Es gab ja viele große Tiere früher, man denke nur an das Mammut und den Tyrannosaurus Rex. Dieser Wolf aber musste die Oma ja auch noch im Ganzen hinunterwürgen, inklusive Nachthemd. Denn ansonsten hätte der Jäger sie nicht unversehrt wieder herausholen können, und im Text stand nichts davon zu lesen, dass sie nackt gewesen wäre oder dass der brave Mann sie erst wieder zusammensetzen musste.

Mein Misstrauen in dieses Märchen mag natürlich auch daran liegen, dass für mich eine handelsübliche Großmutter immer ein wenig … nun ja … nennen wir es „mollig“ zu sein hatte. Meine kleine Oma Hedwig war pummelig, meine große Oma Erna war dick. Also so richtig dick. Da hätte der Wolf wohl schon den Kürzeren gezogen, wenn er sabbernd im Schlafzimmer aufgetaucht wäre. Der arme Kerl wäre wohl auch schon allein von dem Nachthemd satt gewesen. Und wenn dann Oma ohne Nachthemd da gestanden hätte und ein Jäger wäre reingekommen – ohgottogott! Ich will mir diese Szene einfach nicht weiter ausdenken.

Oma Erna mit zwei Wölfen – Opa Carl und Onkel Fidi. Bild von der Hochzeitsfeier meiner Eltern.

2 Kommentare zu “Die Oma im Wolf

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