Prokrastination

Im Schreibworkshop gab es die Aufgabe, sich einen der vier Charaktertypen Choleriker, Melancholiker, Phlegmatiker oder Sanguiniker auszusuchen und damit eine Geschichte zu schreiben. Meine Wahl fiel auf den, der mir am nächsten steht. Wie immer war die Zeit knapp, es war keine Gelegenheit für …

Prokrastination

Uhr Dublin

Uhr irgendwo in Dublin

Ulf hatte lange über seine Diplomarbeit nachgedacht. Das Thema, dass ihm sein Biologieprofessor nach langem Hin und Her letztendlich zugeteilt hatte, war leidlich interessant: „Die Verbreitung des Buchbaumzünslers und dessen Auswirkungen auf den Buchsbaumbestand in Nord-und Mitteleuropa“, lautete es. Es ließ sich reichlich Material dazu finden, sogar im Internet – man musste nicht mal in die Bibliothek gehen dafür. Ulf hatte rund 500 Seiten Papier zum Thema ausgedruckt und wollte es irgendwann lesen.

Wenn nur die Zeit nicht so knapp wäre. Ulf sah auf die Uhr: Viertel vor zwölf war es, seine bevorzugte Zeit für den Arbeitsbeginn. Er holte sich noch eine Tasse Kaffee und zwei Bifi. Schließlich war schon bald Mittagszeit und er kochte nicht gerne. Kaffee und Bifi, das ergab eine warme, herzhafte Mittagsmahlzeit, so wie seine Mutter es von ihm erwartete.

Der Papierstapel wanderte aus dem Regal auf den Schreibtisch. Womit nun anfangen? In der Gliederung ging es los mit der Physiologie des Buchsbaumzünslers, den bekannten Unterarten und seiner Ernährungsweise. Er suchte die entsprechenden Materialien dafür zusammen: erst mal 28 Seiten. Er las drei davon, während er seine Bifis knabberte.

Wenn nur der Zeitplan nicht so eng gewesen wäre. In drei Wochen schon sollte das Werk abgegeben werden. Das war nicht zu schaffen: Schon für die Gliederung und die Stoffsammlung hatte Ulf mehrere Monate benötigt. Ob er den Prof mal anrief und um Verlängerung bat? Darüber hatte er gestern schon nachgedacht und sich die Nummer notiert.

Ein Blick zur Uhr: Viertel nach eins. Konnte man um diese Zeit bei einem Professor anrufen? Vielleicht hielt der einen Mittagsschlaf. Eine gute Idee, vielleicht sollte Ulf das auch tun. Zwei Stunden Ruhe nach der Mühsal des Vormittags – warum nicht?

Gegen halb fünf fasste Ulf sich doch ein Herz und rief bei Professor Krause an. Er meldete sich:

„Hallo Herr Krause, hier ist Ulf Schneider …“ Weiter kam er nicht.

„Nein, Her Schneider, sagen Sie nichts mehr. Ich weiß genau, was Sie wollen, und ich werden Ihren Termin nicht noch einmal verlängern. Liefern Sie diese verdammte Arbeit endlich ab oder ich schmeiße Sie raus!“

„Na gut“, sagte Ulf, grüßte freundlich und legte auf. Es war ein Versuch gewesen. Nun würde er sich einen Kaffee machen und weiterschuften.

10 Kommentare zu “Prokrastination

  1. Aus diesem Grund brauche ich ungefähr jedes 2. Jahr vom Finanzamt eine Fristverlängerung für die Abgabe unserer Steuererklärung – hüstel. Die ersten 5 Monate des Jahres verfliegen einfach so schnell, dass man gar nicht hinterherkommt – ächz. Dieses Jahr habe ich die Erklärung „schon“ am 26.05. innerhalb 1 Stunde zusammentippelt – vermutlich braucht man einfach das Gefühl, man habe noch was Wichtiges zu erledigen.

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  2. Für Prokrastination existiert auch ein psychodynamisches Erklärungs-Model(l). Dieses sieht das Aufschieben als Symptom von Persönlichkeitsstörungen und neurotischen Konflikten in den Bereichen Angst (vor Versagen, Erfolg, Alleinsein, Nähe, Ablehnung.) Zum Schlagwort „Erklärungs…“: Das Model (ein L) war ich.

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