Komische Gewohnheiten – die Toten lesen

Hier ruhen die Toten von Glendalough, Irland

Manchmal fährt man arglos mit dem Zug, lässt müde den Blick schweifen und sieht plötzlich etwas, das einen an früher erinnert. Das ging mir so auf meiner Fahrt nach Usedom, als mir schräg gegenüber ein Mann saß, der in einer Tageszeitung las. Er blätterte achtlos über die wenigen Familienzeigen hinweg – das wäre bei uns früher nicht vorgekommen.

Komische Gewohnheiten 16 – die Toten lesen

„Gibst du mir mal bitte die Toten?“ „Gerne!“ Mit diesem Gespräch am Frühstückstisch bin ich aufgewachsen. Was dann quer über den Tisch gereicht wurde, waren jedoch keineswegs die Gebeine von Uropa William, sondern ein Teil der Nordwest-Zeitung. „Regionales“ stand dort oben fett gedruckt drauf, nicht „die Toten“. Und doch hieß dieser Teil der Tageszeitung bei uns nie anders.

Familienanzeigen haben bei uns in Norddeutschland einen extrem hohen Stellenwert. Verstorbene werden mit einer Anzeige bedacht, in der u. a. der Beerdigungstermin bekannt gegeben wird (wenn Besucher außerhalb des engsten Familienkreises gewünscht sind), es erfolgt in der Regel keine weitere Information darüber. Einige Wochen später erscheint dann eine weitere Traueranzeige mit dem Titel „statt Karten“, mit der man sich für sämtlichen erhaltenen Aufmerksamkeiten und Kondolenzen bedankt. Früher waren diese Anzeigen eine schlichte Sache mit schwarzem Rand und wenig Text, inzwischen sehen manche Inserate aus, als hätte ein Werbefachmann, der ansonsten nur Schweinebauchanzeigen machen darf, sich hier ausgetobt. Aber das ist Geschmacksache – ich mag es eher schlicht.

Auch heiterere Anlässe verdiene eine Anzeige: Verlobungen, Hochzeiten und Geburten werden inseriert. So erfährt man quasi ganz nebenbei beim Frühstückskaffee, dass die Schreckliche aus der Parallelklasse den Dünnen aus dem Jahrgang über uns heiratet und dass sie künftig Müller-Schmidt heißen wird. Oder man bekommt mit, dass der Mädchenname des Jahres anscheinend Mia ist und lacht sich kaputt über das Baby mit dem Namen Franko-Kevin Riesenbichler (53 cm, 3680 g), dessen Schwester Miranda-Lolita sich laut Anzeige ebenfalls wie besessen über seine Ankunft freut.

Drollig aber sind die vielen Anzeigen, die eigentlich für nichts anderes gut sind außer den Stolz des Inserierenden auszudrücken: „Unser kleiner Finn wird ein Jahr – es freut sich Opa.“ Ja, dem kleinen Finn wird das auch noch herzlich egal sein, ob er nun ein Jahr alt ist. Hauptsache, der Brei schmeckt. Oder auch: „Unsere Tochter ist nun Diplom-Irgendwas – es grüßen Hans und Liese Beispiel.“ Die haben sicher sehr lange gezweifelt, ob es jemals so weit kommen wird mit der Tochter, und müssen nun der ganzen Welt zeigen, dass es doch noch geklappt hat.

Und zu einer rechten Plage können sich die Geburtstagsanzeigen entwickeln, die von wohlmeinenden Freunden oder Nachbarn aufgegeben werden, gerne in Reim und Vers, mit Herz und Schmerz: „Tommi wird, ist das ein Segen, am Samstag endlich dreißig. Darum muss er den Marktplatz fegen, mit dem Besen fleißig. Kommt alle her, von fern und nah, und helft dem Tommi schnell dabei, denn er muss fegen, ist doch klar, bis eine Jungfrau küsst ihn frei.“ Das bezieht sich auf die norddeutsche Tradition, dass Unverheiratete mit dreißig entweder irgendwo fegen oder Klinken putzen müssen, bis jemand sie unter viel Tamtam freiküsst. Die Anzeige in der Zeitung gilt dabei als Einladung, was unter Umständen ebenso fatal sein kann wie eine missglückte Einladung auf Facebook.

Die vielen Familienanzeigen sind interessant, oft amüsant und haben einen Nutzen: Man bekommt mit, wenn man irgendwo eine Glückwunsch- oder Beileidskarte hinschicken sollte. Und es verhindert, dass man sich bei Frau Köhnke vier Wochen nach dem Ableben des Gatten freundlich und gut gelaunt nach dessen Befinden erkundigt. Gerade für unser dörfliches Klima sind „die Toten“ eine feine Sache. Trotzdem habe ich mich schon als Kind darüber gewundert, dass meine Eltern diesen Zeitungsteil grundsätzlich als Allererstes gelesen haben, also vor den Schlagzeilen aus Wirtschaft und Politik. Ich weiß, dass es in vielen Familien noch heute genau das Gleiche ist. Wer weiß, vielleicht würde auch ich jeden Morgen als erstes die Toten lesen, wenn ich noch im Einzugsbereich der Nordwest-Zeitung wohnen würde. Denn watt mutt, datt mutt.

4 Kommentare zu “Komische Gewohnheiten – die Toten lesen

  1. Hallo Meike,
    ich kenne das auch, scheint aber umso interessanter zu werden, je älter man wird. Vor allem mein Opa hat das immer gemacht, meist sogar in murmelndem Tonfall. Und dann hat er die, die er kannte in ein Buch geschrieben. Darin hatte er sämtliche Namen mit Geburtsdatum und Sterbedatum stehen. Das Buch hat er über sehr viele Jahre geführt und ich vermute, es schwirrt noch irgendwo rum (er starb 2005).
    Im Übrigen werde ich anscheinend auch langsam alt, ich schaue nämlich auch diese Anzeigen an, falls mir eine Tageszeitung unter die Finger kommt.
    LG von TAC

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    • Das Buch deines Großvaters könnte ein richtiger Schatz sein, TAC. Ich mag ja solche alten Dokumente.
      Ich habe diese Anzeigen auch immer angesehen, als ich noch in meinem Geburtsort lebte. Allerdings war ich da in einem Alter, in dem gerade Hochzeiten und Babys am Spannendsten waren.

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  2. Hallo Meike,
    ich muss mich auch dazu bekennen, dass ich Anzeigen solcher Art lese. Allerdings nicht als erstes, sondern am Schluss, wenn alles andere gelesen ist. Über die Namensgebung der heutigen Eltern kann man sich häufig amüsieren, auch darüber, dass in der Samstagsausgabe gleich 3x eine Geburtstagsanzeige für eine Kira-Marie zu finden ist, Dabei handelt es sich um 3 verschiedene Babies, deren Eltern offenbar den gleichen Geschmack in der Namensgebung hatten.
    Erschreckend bei den Todesanzeigen finde ich, dass mein Jahrgang immer häufiger auftaucht 😦 und sogar jüngere zu finden sind.
    Ich habe früher in Einwohnermeldeämtern der Umgebung gearbeitet – von daher kenne ich zumindest vom Papier bzw. vom Computer her viele Leute aus der Gegend, die ich dann auch ab und an in den Freud- und Leid-Anzeigen wiederfinde. Regt mich oft zum Nachdenken an, weil man so erfährt, was gerade bei der Person, die einem eine zeitlang immer wieder begegnet ist, so passiert.
    In den Todesanzeigen finde ich auch interessant, wie die Leute früher so hiessen, obs ein von-und-zu-Graf-Dingenskirchen war, welchen Beruf jemand innehatte, dass er in einer Burschenschaft Mitglied war oder dass er evtl. im fernen Ausland lebte bzw. dort auf einer Urlaubsreise zu Tode kam.

    Tja – der Mensch ist neugierig ………….

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    • Tina, das mit den Babys finde ich auch drollig. Da wollten die Eltern so kreativ sein, und schwammen doch genau im Mainstream mit ihrer Idee.
      Im übrigen finde ich diese Anzeigen auch interessant und mochte dieses „Namensstudium“ schon als Kind. Da habe ich es sogar auf dem Friedhof betrieben, wenn ich mit meiner Oma dort war.

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