Paragraf 301, von Wilfried Eggers

Paragraf 301, Wilfried EggersAuf diesen im Jahr 2008 erschienenen und 2009 für den Glauser-Preis nominierten Roman wurde ich im Rahmen des Juister Krimifestivals aufmerksam – einer übrigens immer sehr schönen und unterhaltsamen Veranstaltung. Wilfried Eggers war als Gastautor geladen, es gab eine Lesung sowie interessante Gespräche mit dem 1951 geborenen Autor, der „im wahren Leben“ übrigens wie sein Protagonist Schlüter Rechtsanwalt ist. Auf das Thema kam Eggers wohl, weil er einen Aleviten in der Verwandtschaft hat – ich glaube, es war der Schwiegersohn. Seit der Lesung auf Juist stand das Buch ganz oben auf meiner langen „muss-ich-lesen-Liste“ und in diesem Frühjahr war es endlich soweit.

Darum geht es: Der Paragraf 301 des türkischen Strafgesetzbuchs behandelt etwas schwammig die Beleidigung des türkischen Staates und stellt diese unter Strafe. Diese Tatsache ist dem alternden norddeutschen Rechtsanwalt Schlüter allerdings zu Beginn dieses Romans unbekannt – und wäre ihm wahrscheinlich auch herzlich egal. Schlüter ist seines Berufes ein wenig überdrüssig, er hadert mit seinen Fällen, die sich um so wichtige Dinge wie Erbstreitereien und Grabsteine drehen, und will nach einem missglückten Strafverfahren nie wieder als Strafverteidiger arbeiten. Mehr durch Zufall gerät Schlüter an mehrere Fälle mit türkischer Beteiligung: Ein türkischer Restaurantbesitzer bittet ihn darum, die Auslieferung seines Neffen an die türkische Justiz zu verhindern – aus diesem Fall erwachsen sich später noch interessante Verwicklungen hinsichtlich einer arrangierten Eheschließung. Und der illegal in Deutschland lebende Alevit Heyder Cengi stößt versehentlich einen Kontrolleur vom Arbeitsamt von einem Baugerüst und ist wegen Mordes angeklagt – auch hier bleibt es nicht bei diesem einen Vorwurf. Langsam, aber sicher, erfährt der Leser, dass es einen gewissen politisch-historischen Zusammenhang zwischen diesen beiden Fällen gibt. Der eher widerwillig an diesen Fällen arbeitende Schlüter steht irgendwann vor dem Problem, dass die Fakten von Deutschland aus nicht zu klären beziehungsweise zu beweisen sind. Er entschließt sich zu einer Reise in die Türkei, genau genommen ins Dersim, dem von den Aleviten bewohnten und durch die Türken unterdrückten Landesteil. Unterstützt wird er dabei durch einen lebensmüden Kleinkriminellen sowie eine entlaufene türkische Braut, die als Dolmetscherin dient.

Das ist das Besondere: Das Thema des Buches hat mich tief berührt, gerade weil es mir nahezu unbekannt war. Natürlich weiß ich, dass in der Türkei unterschiedliche Volksgruppen leben, denen es offensichtlich nicht allen gut geht. Schließlich hat jeder schon mal von den Kurden gehört. Aber die Aleviten kamen mir bislang kaum unter – anscheinend funktioniert die Unterdrückung ihrer kulturellen Identität sehr gut. Ich habe beim Lesen dieses Buches, das sicherlich nicht objektiv ist, sondern Partei ergreift, sehr viel gelernt. Und es hat mich wütend gemacht, sodass das Weiterlesen manchmal schwierig wurde. Natürlich kann man bei diesem Plot hinterfragen, wie realistisch es ist, dass sich die vielen Zufälle so zu einem Ganzen fügen. Wahrscheinlich arg unwahrscheinlich. Das hat mich in diesem Fall aber nicht gestört, weil ich das Buch weniger als Krimi und mehr als informativen Roman mit historischem und politischem Hintergrund gelesen habe.

Was gibt es noch: Wilfried Eggers hat drei weitere Krimis geschrieben. Ich denke, ich werde mir den Gefallen tun und die Serie um Rechtsanwalt Schlüter komplett lesen. Paragraf 301 ist der dritte Band, sodass ich schon einiges weiß – es scheint sich zu lohnen.

4 Kommentare zu “Paragraf 301, von Wilfried Eggers

  1. Das klingt wirklich interessant. Danke fürs Berichten über das Buch. Mir ging es das letzte Mal so, als ich „Drachenläufer“ gelesen habe. Seitdem sehe ich Afghanistan mit anderen Augen und bin froh darum. 🙂

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  2. Ja, die tausend Sonnen habe ich auch gelesen und es hat meine Sicht dieser Kultur weiter verändert. Sehr lesenswerte, aber auch traurige, Bücher.

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