Woanders regnet’s

Diese Miniatur entstand mal wieder im Autorenworkshop. Vorgegeben waren die ersten beiden Sätze des Romans „Oben in der Villa“ von W. Somerset Maugham sowie das Zitat „Woanders regnet’s“. Nach einigen Minuten der Ratlosigkeit fielen mir Luisa und Leonardo ein, die es nicht leicht miteinander haben …

Woanders regnet’s

Die Villa stand oben auf einem Hügel. Von ihrer Terrasse aus hatte man einen herrlichen Blick auf Florenz.

Dennoch war Luisa unzufrieden. Leonardo störte sich nicht weiter daran. Er hatte sie nicht wegen ihres Charmes geheiratet, sondern wegen des beträchtlichen Vermögens, das sie mit in die Ehe brachte. Er war bereit, dafür so manche Kröte zu schlucken, und hörte sich das Gejammere und Geschimpfe seiner Frau seit etlichen Jahren geduldig an.

„Es ist so heiß hier“, klagte Luisa. „Man spürt, wie die Stauwärme aus der Stadt den Hügel heraufzieht!“

Das war natürlich Unsinn: Oben auf dem Hügel wehte stets ein leichter Wind und das Klima war sehr angenehm. Trotzdem sagte Leonardo „Ja, Schatz.“, und blätterte eine Seite in seinem Buch um.

„Und wie das stinkt! Woanders regnet’s auch im Sommer ab und zu mal, das spült den Dreck von der Straße und klärt die Luft!“

„Jaja, so ist das“, bestätigte Leonardo und trank einen Schluck Limonade.

„Und woanders“, setzte Luisa fort, „da kann man mehr machen als nur auf der Terrasse zu sitzen und den Hügel runterzugucken. Woanders ist was los!“

Leonardo sah auf: „Was möchtest du denn machen, meine Liebe?“

Luisa zuckte die Schultern. „Ach, ich weiß es auch nicht. Etwas erleben. Reisen. Woanders sein. Oder jemand anderes. Ich will eine Mutter sein und einen Hund haben!“

Leonardo lächelte. Er stand auf, strich seiner Frau im Vorbeigehen über das Haar und ging hinein, um wie jeden Abend die Nachrichten zu gucken. Es war wie immer: Mord und Totschlag in den USA, hohe Politik in Europa, ein Unwetter mit gebrochenen Staudämmen in der chinesischen Provinz Hubei, Chaos im italienischen Parlament. Nichts wirklich Neues.

Nach den Nachrichten schaltete Leonardo den Fernseher sofort ab. Er sah versonnen vor sich hin. Dann setzte er sich an seinen Laptop und kaufte seiner reisewütigen Frau ihr Geburtstagsgeschenk: ein Oneway-Ticket erster Klasse in die chinesische Katastrophenregion.

„Woanders regnet’s?“ Das konnte sie haben.

2 Kommentare zu “Woanders regnet’s

  1. Heute ist hier woanders – und ich habe Zeit, diese kleine nette Geschichte zu lesen. Nicht auszudenken, was ich heute machen würde, hätte ich einen herrlichen Blick auf Florenz!

    Like

Hinterlasse einen Kommentar