Wie ich zu Herrn Schnabel wurde

Es ist sonderbar, was man nur durch das reine Beobachten alles erfahren, lernen und begreifen kann. Oft ist es nur nötig, dass man die gewohnte Perspektive für eine kurze Weile verlässt, um erstaunliche Einsichten zu erlangen. Zum Beispiel versteht man dann, warum normale Rentner immer unbedingt zur Hauptverkehrszeit mit den Berufstätigen Straßenbahn fahren müssen (weil zwei Stunden später nämlich ganz komische Leute unterwegs sind). Oder man räumt ein, dass deutsche Fernsehserien tatsächlich ganz genau das wahre Leben widerspiegeln.

Erinnern Sie sich an die Praxis am Berliner Bülowbogen, in der in den 80er und 90er Jahren nicht nur Patienten geheilt, sondern auch unzählige Probleme gelöst wurden? Ich habe das damals immer mit meiner Oma geguckt, die leider 1992 verstarb. Wir begleiteten Günter Pfitzmann als Arzt Peter Brockmann durch menschliche Abenteuer jeglicher Kulör und machten uns zwischendurch über die simple Machart der Serie lustig. Besonders angetan hatten es uns die Patienten, denn es waren jahrelang die selben Leute, die dort im Wartezimmer ausharrten und  scheinbar niemals drankamen. Die meisten waren schweigende Komparsen, jedoch „Herr Schnabel“, gespielt von dem damals schon hoch betagten Herbert Weißbach, hatte eine Sprechrolle. In meiner Erinnerung fragte er immer nur „Bin ich nun dran?“, und saß ansonsten auf sympathische Weise im Weg herum.

In der letzten Woche war es nun bei mir soweit: Ich verließ mal wieder meine Alltagsroutine. Soll heißen, ich wurde krank. Kann ja mal passieren. War auch nicht dramatisch. Aber ich wurde krankgeschrieben und jeden Tag in die Praxis meines Hausarztes bestellt. Die hat nicht viel mit der vom Bülowbogen gemein: Dem Arzt fehlen dafür mindestens dreißig Jahre und ich habe ihn auch noch nicht an einer seiner netten Helferinnen herumgraben sehen. Und meine privaten Probleme hat er auch noch nicht gelöst – gut, dass ich nur wenige habe.

Eines aber ist doch genau wie in der Fernsehserie, und das sind die Patienten: Es sind tatsächlich immer die gleichen Leute da. Gut, es kommt auch mal jemand anderes ins Wartezimmer, aber ansonsten müsste man die Serie ja einstellen. Ich traf immer wieder die sehr füllige farbige Dame mit dem urdeutschen Namen, außerdem die beiden Herren, die immer wie wild auf ihren Smartphones tippten und mit der kleineren Helferin Russisch sprachen. Dann der Opa mit den lila Socken, der sich intensiv mit den Zeitschriften beschäftigte und inzwischen sicherlich Experte in Sachen Königshäusern ist. Und die uralte, stark schwerhörige Dame, die immer wieder wissen wollte, wie spät es ist, war auch immer da. Sie hatte es von allen am eiligsten – wahrscheinlich hatte sie noch Termine.

Wir waren also immer alle da. Beim Reinkommen grüßten wir uns mit einem verschwörerischen Nicken. Das war so wie früher bei den Norddeutschen Landdiscos, als man ein Gespräch automatisch mit einem lang gezogenen „Naaaa, auch hier?“ begann. Nur, dass wir hier nichts sagten außer „Guten Morgen“. Mehr brauchte es nicht. Wir waren Insider.

Heute morgen war ich also wieder da. Die füllige Farbige auch, außerdem die schwerhörige alte Frau. Die beiden Handymänner und der lilabestrumpfte Opa nicht, die kommen immer erst gegen halb elf und ich war früher bestellt. Denn heute ging es rund bei mir: Ich saß überall mal. Zuerst im Wartezimmer, dann im rechten Behandlungszimmer, dann im Infusionszimmer, dann sollte ich mich in den Wartebereich im Flur setzen, aber da war es voll und deshalb stand ich irgendwo rum. Da es voll war, stand ich im Weg. Und da, ganz plötzlich, wurde es mir klar: ICH bin Herr Schnabel. ICH bin der Komparse mit der kleinen Sprechrolle, immer sympathisch im Weg und irgendwie gerade nicht dran. Wahrscheinlich gehöre ich inzwischen schon zum Praxisinventar. Was machen die nur, wenn ich gesund bin und nicht mehr komme? Ob die dann eine neue Pflanze kaufen? Sollte ich bei meinem nächsten Besuch einen Zwanziger ins Kaffeeschwein stecken, mit der verschwörerischen Bemerkung: „Für einen Gummibaum?“ Aber wo stellen die den dann hin? Ins rechte oder linke Behandlungszimmer, ins Wartezimmer oder ins Labor? Hoffentlich wird das nicht zu kompliziert.

Noch habe ich eine Nacht Zeit, mir zu überlegen, wer mich demnächst ersetzen soll. Denn morgen muss ich noch mal hin, gegen elf, zusammen mit den Männern. Mittwoch habe ich dann arztfrei. Und am Donnerstag darf ich wieder arbeiten. Endlich mal andere Gesichter!

 

Nachtrag: Heute Morgen war ich also wieder da. Kaum eingetreten, hörte ich das vertraute Gedudel von Vivaldis vier Jahreszeiten (Frühling): Einer der Handymänner war also schon da. Mehr bekannte Patientengesichter sah ich heute nicht, aber es ging bei mir auch sehr schnell: Ich wurde nämlich als soweit gesundet entlassen. Zum Glück muss ich mir über meine Nachfolge keine Gedanken mehr machen, denn man hat heute einen Ventilator aufgestellt. Der steht nun trefflich im Weg – ich könnte es nicht besser machen!

2 Kommentare zu “Wie ich zu Herrn Schnabel wurde

  1. Tach auch, Herr Schnabel!
    Falls Sie mal wieder den Opa mit den lila Socken sehen sollten, fragen Sie ihn doch bitte, ob er die Arztpraxis nach dem Zeitschriftenangebot ausgesucht hat. Ich überlege mir immer, warum welches Zeitschriftenangebot dort liegt.
    Sind es „Die Yacht“, „Wild und Hund“, „Häuser“ und diverse andere Hochglanzjournale aus dem Haushalt des Arztes, halte ich ihn für jemanden, der zuviel Geld verdient. Bei einer großen Auswahl verlotterter und verkeimter Zeitschriften aus dem Genre „Goldenes Blatt“ und Co fühle ich mich intellektuell unterschätzt – besonders, wenn auch schon alle Kreuzworträtsel darin gelöst sind und die Werbungen für nichtverschreibungspflichtige Medikamente rausgerissen sind. Dann gibt es noch die Praxen, in denen Literatur für den medizinischen Laien ausliegt. Was soll damit bezweckt werden? Soll Angst geschürt werden? Will der Arzt mich weiterbilden. Ich kenne auch die Wartezimmer mit „Das Beste aus Reader`s Digest“ mit der Rubrik „Lachen ist die beste Medizin“. Daneben liegen dann häufig Comics für die Kids. In solch eine Praxis gehe ich am Liebsten. Es muß nicht eine Auswahl vom Lesezirkel sein, die ich dort vorfinden möchte. Eigentlich will ich beim Arzt auch gar nichts lesen, will nur behandelt werden.
    Also, Herr Schnabel, sprechen Sie gelegentlich mal mit dem Opa mit den lila Socken und lassen Sie mich wissen, wie er die Lage so einschätzt.
    Mit mitfühlenden Grüßen – wird alles besser,
    Ihr Philipp Elph

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    • Lieber Herr Elph,

      in der von mir besuchten Praxis liegen Lesemappen mit goldenen und anderen bunten Blättern aus. Die Hefte sind sogar aktuell und so spannend, wie so etwas eben ist. Ihre weißen Umschläge sind aber einen zweiten oder auch dritten Blick wert, denn auf ihnen befindet sich handgebastelte Werbung für allerlei regionale Angebote. Das Ganze ist gespickt mit derartig vielen Rechtschreibfehlern, dass es eine wahre Freude ist, sie zu suchen – denn sie lassen sich leicht finden. Das versüßt die Wartezeit ungemein!
      Sollte ich den lilabestrumpften Herrn nochmal antreffen, werde ich ihn nach seiner Sicht der Lage fragen und das Ihnen das Ergebnis umgehend mitteilen.

      Mit besten Grüßen
      Meike aus der bunten Welt alias Herr Schnabel

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